
Unser Autor hat einen Ausflug nach London unternommen und abseits von Fish and Chips die englische „Haute Cuisine“ einem Test unterzogen. Und die schmeckt sogar einem verwöhnten Mitteleuropäer.
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Ich liebe London, nur mit der normalen englischen Küche fremdle ich. Black Pudding (Blutwurst, Zwiebel, Apfelkompott), Shepherd’s Pie (mit Kartoffelbrei überbackenes Faschiertes), Bangers and Mash (fettige Würste mit Püree) sind meine Sache nicht. Nur bei Fish and Chips bin ich dabei, davon später mehr.
Aber zum Glück gibt’s ja auch eine britische Hochküche, die schmeckt und die man als verwöhnter Mitteleuropäer genießen kann. Wir beginnen im ältesten Restaurant Londons, dem „Rules“, das 1798 eröffnete. Neben der Eingangstür hängt ein Foto von Winston Churchill und unterhalb der Stiege eine Karikatur von Margaret Thatcher. Halb Hollywood war schon hier, und ich habe dort das erste Mal vor fast 50 Jahren mit dem damaligen Wiener Bürgermeister Leopold Gratz auf Einladung des dortigen Lord Mayor gespeist.
Als ich es mir vor ein paar Wochen auf dem rotsamtigen Sessel bequem machte und das extra versteifte Tischtuch begutachtete, war alles klar. Nix hat sich geändert, alles noch wie anno dazumal, inklusive der Kellner, die eher wie Butler herumstolzieren. Aber auch die Qualität ist geblieben: zum Einstieg ein feiner Crab Salad (die Krabben natürlich aus Dorset) mit Mayonnaise und pinker Grapefruit – exquisit. Dann entweder ein gedämpfter Heilbutt mit Spinat, Fenchel und einer Blutorangen-Hollandaise oder ein „Featherblade of Beef“, dünn geschnittene Rindscheiben mit Karotten, Zwiebeln und kleinen Meerrettichknödeln. Perfekt, da gibt es nix auszusetzen, einfach große Küche. Nachher noch einen „Sticky Toffee Pudding“ und ich war mit der englischen Küche, zumindest für diesen Abend, versöhnt.
Tags darauf im ehrwürdigen „Bentley“, mit 110 Jahren vor Ort vergleichsweise jung und mehr auf Seafood spezialisiert. Ebenfalls roter Samt, aber eine Spur weniger nobel. Wir beginnen mit einer Shellfish Platter bestehend aus Austern, Muscheln, Garnelen, Clams und Meeresschnecken und einem mit Feta und Chorizo gefüllten Tintenfisch – alles frisch, Eins-a-Qualität. Und dann, es hilft nichts, „Traditional Fish and Chips“, besser hab ich sie noch nirgendwo gegessen. Der Kabeljau im typischen Bierteig, crispy und gar nicht fett, und eine Sauce tartare, die ich nach dem erbetenen Rezept zu Hause nachkochen will. Dazu ein paar handgeschnittene dicke Chips, doppelt frittiert. Genießerherz, was willst du mehr? Sogar die Preise stimmen: 27 Pfund für die Fish and Chips und 39 Pfund für ein Drei-Gänge-Dinner vor dem Theater nebenan.
Ordentliches englisches Essen findet man aber auch abseits der alten Stammhäuser. Ich gehe am liebsten ins „St. John“ in Smithfield (besser als die Dependance in Marylebone). Ein bisschen Industriearchitektur mit weißen Wänden und kleinen Tischen, dort wurde vor 15 Jahren die englische Küche neu erfunden, also neu interpretiert. Und zwar „Nose to Tail“, alles wird verarbeitet und alles mit allem kombiniert. Salat mit Schnecken, Wild mit Sellerie, Schweinshaxen mit Clams, Rindermark mit Petersilie – verrückt, aber gut. Als Hauptspeise bestellen wir Hering mit Chicorée und Anchovis sowie die britische Version des Tafelspitzes: „Salt Hereford and Turnips“, gesalzenes, gekochtes Rindfleisch mit Roten Rüben und grüner Sauce. Ja, mit dieser Art von moderner Küche kann ich gut leben.
Noch besser, natürlich eine pralle Brieftasche vorausgesetzt, ist man bei Clare Smyth im „Core“ aufgehoben. Drei Sterne, beste weibliche Köchin, Clare Smyth hat alle Auszeichnungen, die man heutzutage erreichen kann. Alles bei ihr kommt aus England oder Schottland, ihr Menü ist wirklich überzeugend: Tatar von der Jakobsmuschel, Kartoffel mit Forellenkaviar, Kabeljau mit Shrimps, Lamm mit Schafsmilchjoghurt, Wagyu Beef mit Austern und Birnensorbet mit Verbena am Schluss. Nachteil ist nicht nur der Preis (265 Pfund), sondern auch die Vorbuchungsfrist, unter drei Monaten ist nichts zu machen.
Und dann gibt es einen Chef, der der ganzen Welt zeigen will, dass die englische Küche schon seit jeher besser ist als ihr Ruf. Heston Blumenthal heißt er, betreibt im kleinen Örtchen Bray das legendäre Drei-Sterne-Haus „Fat Duck“ (dort hat er das Bacon-and-Egg-Eis erfunden, geht so) und auch ein gutes und erschwingliches Pub, „Hinds Head“, das man am besten nach der Landung in Heathrow – 20 Minuten Fahrzeit vom Flughafen – besucht. Dieser Heston Blumenthal ist nicht nur ein begnadeter Koch, sondern auch ein Kochbuch-Tüftler. Und so hat er in uralten Schmökern tadellose Rezepte entdeckt, die er wieder aufleben lässt und die beweisen sollen, dass englische Küche auch schon früher essbar war, zumindest in adeligen Kreisen.
Im schönen „Mandarin Oriental“ gegenüber vom Harrods-Einkaufstempel hat er 2015 sein „Dinner by Heston Blumenthal“ eröffnet, wo er die alten Rezepte neu interpretiert. Damals hat mich Formel-1- Zampano Bernie Ecclestone zum Lunch eingeladen. Ich war schlicht begeistert – und heute, zehn Jahre später, wollte ich testen, ob es nach wie vor so hervorragend ist wie bei der Premiere. Die „Meat Fruit“, eine künstliche Mandarine mit Hühnerleberfüllung, angeblich von ca. 1500, ist noch immer auf der Karte und schmeckt zart, leicht bitter und cremig. „Halibut & Green Sauce“ von 1440, also Heilbutt mit Chicorée, Petersilie und Eukalyptus, zum Dessert „Rhubarb & Rosehip“ von 1591, gegarter Rhabarber mit Hibiskusblüten und Joghurtcreme – grandios. Ob’s vor 500 Jahren auch so geschmeckt hat, wage ich allerdings zu bezweifeln. Einfache schwarze Holztische, normale, weiße Tischdecken, sympathische, sattelfeste Sommeliers, die auch einen preiswerten Wein (nicht nur die über 100 Pfund) empfehlen, prägen den Speisesaal mit Blick auf die Küche – so gemütlich und unaufgeregt kann selbst ein Sternerestaurant sein, merk’s Frankreich und Deutschland!
Last, but not least, wie der Engländer sagt, müssen wir uns natürlich mit den Gastro-Pubs beschäftigen, denn dort bahnt sich die eigentliche Küchenrevolution an. Meist unten ein ganz normales Pub mit viel Bier ohne Kohlensäure und oben ein kleiner Gastraum, wo man tatsächlich gut essen kann. Losgegangen ist dieser Trend mit „Anchor & Hope“ und „Harwood Arms“, da genieße ich schon seit mehr als zehn Jahren eine Art gehobene englische Wirtshausküche. Und bei den Neuzugängen halte ich mich an die Bestenliste des Londoner „Time Out“-Magazins.
Dort wird „The French House“ in Soho empfohlen, wo sich früher Dichter und Künstler wie Francis Bacon auf ein Bier und eine Zigarette getroffen haben. Das mit der Zigarette funktioniert heute nicht mehr, aber dafür gibt’s im ersten Stock fünf Tische und zum Dinner als Starter Artischockensuppe und Hasen-Rillette (also „Verhackertes“ vom Hasen), gefolgt von Petersfisch und Ochsenbäckchen. Das „Audley Public House“ in Mayfair beeindruckt mit moderner Kunst von Andy Warhol bis Lucien Freud an den Wänden und auf dem Tisch mit Fish and Chips und Roastbeef mit Yorkshire Pudding (nichts Süßes, sondern eine Art frisch gebackenes Weißbrot). Wer lieber Seafood essen will, der pilgert nach Notting Hill ins „The Cow“, wo Krabben, Garnelen, Seeschnecken und natürlich eine ordentliche Fischsuppe auf der Karte stehen.
Die englische Küche ist nicht nur zum Fürchten, sondern auch zum Genießen. Man muss nur wissen, wo man einen Tisch reserviert …
Restaurants
Rules
rules.co.uk
Bentley
bentleys.org
St. John
corebyclaresmyth.com
Fat Duck
thefatduck.co.uk
Hinds Head
hindsheadbray.com
Dinner by Heston Blumenthal
Gastropubs
Anchor & Hope
anchorandhopepub.co.uk
Harwood Arms
harwoodarms.com
The French House
frenchhousesoho.com
Audley Public House
theaudleypublichouse.com
The Cow
Der Artikel ist dem trend.PREMIUM vom 4. April 2025 entnommen.