Die aktuellen Krisen sind auch Folgen des Zeitalters des Fortschritts. Der US-Ökonom Jeremy Rifkin plädiert im trend. Interview für ein nachhaltigeres, distributives Wirtschaftssystem, statt nur Emissionen einzusparen.
Wir leben in einer Zeit, in der mehrere Krisen parallel ablaufen. Sie arbeiten seit Jahrzehnten an Ideen, um etwa eine Energiekrise zu vermeiden. Wie meistern Sie diese Situation?
Ich mache mir wirklich große Sorgen um die junge Generation, doch ich glaube auch daran, dass wir überleben werden, allerdings anders als bisher. Wir müssen uns dafür aber wieder an ein paar Dinge erinnern.
Woran zum Beispiel?
Dass wir als Menschheit Hunderttausende Jahre Eiszeit und Hunderte Jahre der Dürren überlebt haben, zum Beispiel, bevor es nach der letzten Eiszeit relativ gemütlich wurde. Wir haben das geschafft, weil wir so anpassungsfähig sind wie kein anderes Lebewesen auf der Welt. Wir haben unser Gehirn und es ist riesig, wir haben die Sprache, um unsere Erkenntnisse weiterzugeben, wir können nachfühlen, was andere fühlen, und sind deshalb zur Kooperation fähig.
Wir haben also eine gute Ausgangsbasis, um mit Krisen umzugehen. Anpassung braucht Zeit, jetzt muss aber doch alles schnell gehen?
Wir müssen verstehen, dass wir uns wieder an die Natur anpassen müssen und nicht die Natur an uns. Das war der große Fehler der vergangenen Jahrzehnte und erfordert ein Umdenken in allen Bereichen: in der Wirtschaft natürlich, aber auch in der Wissenschaft, in der Art, wie wir Gesellschaften organisieren, und in unserem Verhältnis als Mensch zur Natur.
Dafür ist wirklich Zeit?
Wenn wir vom Zeitalter des Fortschritts, das uns in die aktuelle Krisensituation gebracht hat, ins Zeitalter der Resilienz kommen wollen, muss das jetzt schnell gehen. Wir sind als Menschen nicht die Krone der Schöpfung, die sich die Erde untertan macht, wie das in der westlichen Tradition ja geglaubt wird. Wir sind als Menschen aber nur ein Teil von etwas Größerem. Den Unterschied zwischen uns und der Natur gibt es nicht, wir gehören zusammen. Wissen Sie, wie viele Viren, Bakterien und Pilze im menschlichen Körper sind?
Wie aber bauen wir aus dieser Krise heraus die Wirtschaft um?
Wir müssen uns davon verabschieden, dass wir uns Rohstoffe einfach nehmen, ohne zu verstehen, was das bedeutet, ohne zu kapieren, dass wir damit in Systeme eingreifen. Es geht nicht, einfach nur ein Loch in den Boden zu bohren, das hat immer Folgen. Jeder muss das jetzt begreifen.
Unternehmen, die gerade nicht wissen, ob sie zu diesen Energiepreisen produzieren können, tun sich aktuell aber schwer, sich mit so grundlegenden Fragen zu beschäftigen.
Sie müssten es aber, weil sie begreifen müssen, dass ihre Geschäftsmodelle nicht mehr funktionieren werden. Das Umdenken muss gewaltig sein: Wir müssen vom Fortschritt zur Resilienz kommen, vom Wachstum zur Prosperität, von der Frage der Produktivität hin zur Frage der Erneuerbarkeit, von den negativen Externalitäten hin zur Zirkularität. Wirtschaft muss ein organisches System sein, das sich an die Natur anpasst, und nicht umgekehrt. Wir sind viel zu anfällig für Krisen geworden.
Sie sagen, dass das an dem viel zu großen Fokus auf Effizienz liegt. Wir haben es in der Covid-Krise gemerkt: Plötzlich gab es nicht nur eine Knappheit von Computerchips, sondern ganze Lieferketten brachen zusammen.
Die Effizienz ist der große Wert im Zeitalter des Fortschritts. Keiner hält mehr Lager, alle produzieren nur das, was gerade gebraucht wird, alles ist schlank und schnell und möglichst günstig, weshalb man sich auch von wenigen Lieferanten abhängig macht, die in großer Menge und daher billiger produzieren können. Die Effizienz bricht uns das Genick. Die Natur ist das große Vorbild: Sie ist voller Redundanzen, nicht alles wird ständig gebraucht, aber es erlaubt eben Ausweichmöglichkeiten und dass man sich anpassen kann, sobald sich die Lage ändert. Wir brauchen Überfluss und Puffer statt totaler Effizienz.
Auf Effizienz zu verzichten bedeutet aber auch, dass die Dinge fast automatisch teurer werden.
Sie fragen danach, wie groß der Verzicht sein muss, damit wir zu einem besseren System kommen? Ich sehe den Verzicht nicht so ganz. Was bedeutet Verzicht für Amerikaner, die sich jede Woche ein neues Stück Kleidung kaufen, wie es die Studien zeigen? Wir müssen uns als Menschen fragen, ob uns das glücklich macht. Wir müssen uns auch fragen, ob das System, wie es jetzt läuft, uns glücklich macht.
Ein paar Dinge haben sich bereits geändert. Wenn heute über Atomkraft diskutiert wird, geht es auch um die Frage, was mit dem Atommüll geschieht und wer die Kosten dafür trägt. CO2-Steuern sollen die negativen Folgen des Autofahrens einpreisen. Ist das alles zu wenig?
Es tut sich etwas, das stimmt, auch die ESG-Regeln gehen in diese Richtung. Wir unterschätzen die negativen Externalitäten, also die Nebeneffekte, die entlang sämtlicher Produktionsschritte anfallen, immer noch. Die Volkswirtschaftslehre wird untergehen, wenn sie das nicht bald besser berücksichtigt. Ökonomen haben den Faktor Zeit nicht am Schirm, aber es braucht eben oft Zeit, bis sich die Folgen von etwas zeigen.
Sie schlagen deshalb ein gänzlich anderes Wirtschaftsmodell vor. Worin unterscheidet es sich vom Denken in Märkten, wie wir es jetzt kennen?
Ein Aspekt davon ist, dass es nicht nur Märkte, sondern Märkte und Netzwerke geben soll, in denen wirtschaftliche Aktivitäten passieren. Unser Potenzial, Dinge gemeinsam zu nutzen, statt einzeln zu kaufen, ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Wenn es um Netzwerke statt um Märkte, um Nutzung statt um Konsum geht, wird es für Unternehmen wieder interessanter, langlebige Güter zu schaffen und dafür in die Forschung zu investieren.
Die digitale Revolution hat uns solche Plattformen bereits versprochen, herausgekommen sind aber Monopolisten wie Google oder Uber. Wie ginge das anders?
Wenn alles vernetzt ist, wird es nicht mehr möglich sein, dass einzelne Akteure eine so große Rolle spielen können. Nehmen wir das Beispiel Energie: In einer Idealvorstellung arbeiten wir am Energie-Internet, das sämtliche Netze der Welt miteinander verbindet, China mit Europa, die USA mit Südamerika, und dazwischen unzählige Möglichkeiten bietet, um Energie zu speichern oder eben dorthin zu schicken, wo sie gerade gebraucht wird. Erzeugt wird die Energie nicht von großen Unternehmen, sondern von Haushalten, von den PV-Anlagen am Dach. Gespeichert wird sie in kleinen lokalen Speichern, in den Batterien von Elektroautos - es wird hier noch viele Möglichkeiten geben. Das kann nicht mehr dominiert werden wie bisher.
Und das ist machbar in einer Welt, die sich geopolitisch gerade neu aufteilt und in der sich allen voran China abschottet?
Ich arbeite mit China zusammen und sehe weder, dass es die Welt dominieren will, noch dass es sich komplett abschottet. China bekennt sich sehr stark zur "ökologischen Zivilisation", wie Präsident Xi Jinping das nennt. Er hat erst heuer wieder einen langen Text dazu veröffentlicht. China und Europa werden sicher ihre Kämpfe miteinander haben, aber sie werden sich zusammentun, und das Gleiche wird in den USA mit Lateinamerika passieren. Wir müssen es schaffen, Energie global besser zu verteilen. Das braucht 20 Jahre, aber es ist möglich.
Die Idee, dass Energie dezentral erzeugt und distribuiert wird, haben Sie als Voraussetzung für eine dritte industrielle Revolution definiert. Vor zehn Jahren ist Ihr Buch dazu erschienen. Wie weit sind wir seither gekommen?
Die deutschen Energieunternehmen, zum Beispiel, haben einen Teil der Entwicklung lange verschlafen. Sie müssen ihr Geschäftsmodell ändern. Statt Energie zu produzieren, müssen sie diese managen, sie müssen Unternehmen und Haushalten Services anbieten, um effizient mit Energie umzugehen. Sie müssen zum Dienstleister werden, und jetzt tut sich hier auch etwas. Übrigens wird sich auch die Dominanz von Unternehmen wie Amazon im Cloud-Computing aufhören.
Wodurch?
Weil die Datenmengen auch für riesige Datencenter nicht mehr bewältigbar sein werden und wir stattdessen viele lokale Speicher brauchen, so wie wir nun lokale Kleinstkraftwerke auf unsere Dächer legen. Mag schon sein, dass ein paar Tech-Riesen überleben, aber ich gehe davon aus, dass es vor allem viele kleine Hightech-Unternehmen geben wird.
Wie kann eine Infrastruktur aussehen, die das stemmt?
Mit der Infrastruktur geben wir vor, wie jeder Teil der Gesellschaft sich bewegt, kommuniziert und mit Energie versorgt wird, genauso wie unser Körper das für jede Zelle vorgibt. Das Ziel jetzt muss es sein, viele kleine Einheiten miteinander zu vernetzen, so wie das beim Internet der Fall ist. Das ist ein ganz anderes Zeitalter als jenes, in dem ein paar wenige Unternehmen in ein paar wenigen Ländern nach Öl bohrten und dabei staatliche Unterstützung brauchten. Staaten wiederum brauchten in der Vergangenheit oft das Militär, um sich ebendiese Energieform zu schützen. So viele Kriege wurden um Öl geführt.
Die Investitionen für eine neue Netzarchitektur müssen aber auch irgendwoher kommen.
Wir müssen vor allem schauen, dass die besten Köpfe unserer Zeit sich hier dahinterklemmen. Möglich ist das alles innerhalb der nächsten 20 Jahre. Die EU und China sind hier schneller, aber die USA steigen jetzt auch in den Umbau ein. Die Entwicklungsländer haben in dieser Transformation übrigens den Vorteil, dass sie dafür nicht erst alte Strukturen niederreißen müssen.
Auch beim Umstieg auf erneuerbare Energien kann es zu Abhängigkeiten kommen. China etwa dominiert alles rund um seltene Erden, die wir für Windräder genauso wie für Batterien brauchen.
Das ist ein Problem, aber ich glaube, wir werden es lösen. Seltene Erden sind ja überhaupt nicht selten, aber anders als China waren hier viele Weltregionen zu faul, ihnen nachzugehen. Wir werden aber bessere Alternativen schaffen, deren Abbau weniger belastend für die Umwelt ist, da bin ich sehr zuversichtlich. All die Pläne dazu, Kohlendioxid wegzusperren, sind aber eher für die Tonne. Bei Rohstoffen müssen wir übrigens auch wieder wie die Natur in Kreisläufen denken.
Und möglichst viel davon wiederverwenden?
Wir müssen den Kreislauf von Anfang an mitplanen, die Kreislauffähigkeit ist wichtiger als die Produktivität. Letztere ist als Maßstab nicht mehr richtig.
Regierungen rund um die Welt versuchen, tiefe ökonomische Krisen zu verhindern. Was können sie tun, um einen Wandel hin zu mehr Resilienz, mehr Widerstandsfähigkeit zu fördern?
Ich glaube nicht, dass die Regierungen das allein schaffen. In der Politik braucht es aber eine neue Generation von Politikern, die von Anfang an anders denken, es braucht aber auch Ergänzungen zur repräsentativen Demokratie. Die Bürgerräte, die es nun schon in vielen Ländern gibt, sind ein guter Anfang. Wir müssen darauf achten, dass viele den Wandel mittragen, denn es braucht viele Akteure und nicht wenige. Außerdem ist das Denken in Staaten zu eng
Aber Lösungen, die für die ganze Welt funktionieren sollen, gibt es gleichzeitig auch nicht?
Wir sehen aber schon jetzt, dass die Folgen des Klimawandels sich an keine nationalstaatlichen Grenzen halten. Es sind immer Regionen, ich nenne sie Bioregionen, die auf eine besondere Art betroffen sind und dementsprechend zusammenarbeiten müssen. Naturkatastrophen zeigen ja, dass nicht Regierungen sie bewältigen können, sondern sofort alle Menschen mithelfen, die Not zu lindern. Diese Form von Zusammenarbeit müssen wir besser institutionalisieren. Es darf nicht nur um eine Reduktion der Emissionen gehen, das ist als Narrativ nicht ausreichend. Deshalb plädiere ich für ein neues Zeitalter der Resilienz.
ZUR PERSON
Jeremy Rifkin, 77, ist amerikanischer Ökonom und wirtschaftspolitischer Berater. Er arbeitete zum Beispiel mit EU-Kommissionspräsident Romano Prodi, zuletzt aber auch mit dem US-Senator Chuck Schumer (Demokraten) zusammen. Der Autor zahlreicher Bücher fokussiert dabei auf einen Wandel hin zu nachhaltigerem Wirtschaften. "Das Zeitalter der Resilienz" ist im Oktober 2022 im Campus-Verlag erschienen. (360 Seiten, 32,90 €)
Das Interview ist der trend. PREMIUM Ausgabe vom 14. Oktober 2022 entnommen.