Ein überholtes Geschäftsmodell zu optimieren statt einen mutigen Schritt zu setzen und einen Kurswechsel zu vollziehen kann ein Unternehmen ins Grab bringen. Organisationsberater Jens-Uwe Meyer anhand des Beispiels Thomas Cook über die Notwendigkeit, Zukunftsstrategien radikal neu zu denken.
Die Praktiker Baumärkte, die Fluglinie Air Berlin und die Drogeriemarktkette Schlecker waren einst große Vorzeige-Unternehmen – und sind vom Markt verschwunden. Auch vom Arcandor-Konzern, bestehend aus der Warenhauskette Karstadt, dem Versandhaus Quelle und dem Reiseveranstalter Thomas Cook, sind heute nur noch Bruchstücke übrig.
Diese Unternehmen schafften es nicht, für sich Zukunftsstrategien zu entwickeln und diese umzusetzen. Stattdessen optimierten sie das Bestehende immer weiter – mit zum Teil beachtlichem Erfolg. Eine Kehrseite der Optimierungserfolge war jedoch: Unbewusst wurde mit ihnen nur das Bestehende konserviert.
Thomas Cook und die verpasste Chance
Eines dieser Unternehmen begleitete ich Rahmen eines Innovationsprojekts: Thomas Cook Deutschland. Das Projekt war erfolgreich, doch letztlich waren alle Innovationen nur lebensverlängernde Maßnahmen. Stattdessen hätte es eines Resets, also Neustarts bedurft basierend auf Antworten auf die Fragen:
Lassen sich über den Vertriebskanal stationäres Reisebüro im digitalen Zeitalter langfristig überhaupt noch die nötigen Umsätze und Gewinne erzielen?
Welche mittel- und langfristige Perspektive haben (günstige) Pauschalreisen, wenn zeitgleich digitale Anbieter online individualisierte Reiseangebote schnüren und die Kundenbedürfnisse sich wandeln?
Rufen Sie sich mal Ihren letzten Pauschalurlaub in Erinnerung - sofern sie einen solchen überhaupt gemacht haben. Sie hatten diesen über einen Reiseveranstalter gebucht und wurden nach der Landung des Ferienfliegers in ein Touristenhotel gebracht. Was dachten Sie, als Sie dort die Einladung zum „Willkommensempfang durch die Reiseleitung“ erhielten:
„Welch‘ freudige Überraschung?“ Oder:
„Schon wieder so Werbeveranstaltung für einen Ausflug in eine Lederfabrik oder zu einem „einsamen Traumstrand“, an dem bereits Dutzende von Touristengruppen lagern?
Vermutlich Letzteres! Jetzt überlegen Sie: Wann war dieser Urlaub? Vermutlich vor einigen Jahren! Pauschalreisen sind ein lebendes Museum, wie Reisen früher einmal waren:
Schlange stehen am Check-in-Schalter des kostenoptimierten Billigfliegers,
eine mehrstündige, Transfer genannte Busfahrt von Hotel zu Hotel, um die Urlauber dort abzusetzen,
der gewohnte Empfang durch die Reiseleitung mit Standarddrink,
Animationsprogramme mit einheimischer Folklore am Abend,
das übliche Warten auf die Rückflugbestätigung per Aushang und
eine noch längere Schlange beim Rückflug-Check-in am Flughafen der Urlaubsdestination.
Margen steigern gegen den neuen Lebensstil
Diese Art Pauschalurlaub sicherte jahrelang das Geschäft der klassischen Reiseveranstalter. Dabei veränderten sich im Gefolge der Digitalisierung auch die Kundenbedürfnisse radikal. Airbnb ist nicht nur ein Buchungsportal für Unterkünfte, es ist das Reiseprodukt des digitalen Lifestyles.
Schon vor 20 Jahren entwickelte ich unter anderem mit dem damaligen CEO von Thomas Cook Deutschland, Peter Fankhauser, Zukunftsstrategien für das Unternehmen, denn bereits damals war klar: Das Geschäft mit Pauschalreisen wird schwieriger. Peter Fankhauser sah dieser Entwicklung nicht tatenlos zu. Das Top-Management von Thomas Cook machte sehr viel richtig und scheiterte trotzdem. Wie passt das zusammen?
2011 war Fankhauser noch der Held der Branche, denn es gelang ihm, die niedrigen Margen im Pauschalreisegeschäft zu steigern, unter anderem mit disruptiven digitalen Lösungen. Hierzu zählte: Statt wie zuvor feste Hotelkontingente einzukaufen, was das Risiko erhöht, wurden die Kontingente erst gekauft, wenn der Kunde eine Reise buchte.
„Du musst immer hinter den nächsten Berg schauen“, war das Leitmotiv von Fankhauser. Entsprechend führte er Thomas Cook Deutschland. Er packte an. Doch ein Problem bekam er nicht in den Griff: Das Geschäftsmodell Pauschalreise ist keines, womit ein Konzern heute noch ausreichend Geld verdienen kann. Thomas Cook wurde ein Opfer des radikalen digitalen Wandels, denn dieser veränderte auch das Kundenverhalten radikal.
Pauschalreisen, ein Relikt der 1990er Jahre
Warum gibt es eigentlich Pauschalreisen? Kaum eine Unternehmensgeschichte zeigt dies eindrücklicher als die von Thomas Cook. Der Konzern wurde von dem Baptistenprediger Thomas Cook gegründet, der 1841 zum ersten Mal eine Zugfahrt für fünfhundert Reisende (zu einem Treffen der Abstinenzbewegung) organisierte. Vierzehn Jahre später läutete er das Zeitalter des Pauschaltourismus ein, indem er für britische Touristen eine Europarundreise organisierte.
Der Pauschaltourismus entstand in einer Zeit, in der Reisen und Reisebuchungen noch etwas waren, was nicht jeder Mensch tun konnte. Erinnern Sie sich an die 1990er Jahre, als Sie entweder noch kein Internet hatten oder vor einem piependen Modem saßen. Konnte man damals einfach ein Hotel in der Türkei oder in Sri Lanka buchen? Ja, sofern man dessen Namen kannte. Dann konnte man die Auslandsauskunft anrufen und sich dessen Telefonnummer geben lassen. Danach konnte man das Hotel anrufen oder per Fax ein Zimmer bestellen. Das war kompliziert und risikobehaftet, da man ja oft keine optische Vorstellung von dem Hotel und seiner Lage hatte. Das Reisebüro um die Ecke war da die einfachere und sicherere Lösung: Seine Kataloge waren bebildert, und die Buchung war einfach.
Im Internetzeitalter ist die Pauschalreise jedoch eine Lösung für ein Problem, das es nicht mehr gibt. Deshalb ist sie ebenso ein Auslaufmodell wie das Faxgerät, das Warenhaus und die CD. Der einzige Vorteil, den klassische Pauschalreisen-Anbieter heute oft noch haben, ist der Preisvorteil. Die Kunden buchen pauschal, weil es billiger ist. Das wurde Thomas Cook zum Verhängnis, denn: Billiger bedeutet auch eine geringere Marge und somit weniger Gewinn.
Geschäftsmodelle neu denken
Vor einer ähnlichen Herausforderung wie Thomas Cook stehen heute viele Unternehmen angesichts des digitalen Wandels: Sie müssen einerseits das Bestehende solange wie möglich am Leben erhalten, um den nötigen Cashflow zu haben, und dieses zugleich zerstören und durch etwas Neues ersetzen. Diesen Widerspruch zu managen, ist nicht leicht, denn das wirklich Neue birgt immer ein Problem: Niemand weiß genau, was dieses Neue, dem die Zukunft gehört, eigentlich ist. Deshalb sind echte Innovationen stets mit einem hohen Risiko behaftet. Ob innovative Geschäftsmodelle jemals Gewinn abwerfen, ist oft lange ungewiss. Zudem erfordert ihre Entwicklung meist ein komplettes Umdenken.
Tourismuskonzerne sind im Kern Logistikunternehmen, die Kapazitäten einkaufen, chic verpacken und an Touristen weiterverkaufen. In diesem Bereich liegt ihre Kernkompetenz; hierin haben sie Erfahrung. Doch wirkliche Innovationen entwickeln, disruptive digitale Lösungen erfinden? Das fällt ihnen schwer.
So wie der Tourismusbranche geht es aktuell vielen Unternehmen: Sie müssen ihre Geschäftsmodelle überdenken, ohne zu wissen,
was das Neue sein könnte,
wie und ob sich das Neue überhaupt rechnet und
welche Kompetenzen sie dafür benötigen.
Peter Fankhauser und Thomas Cook haben die Digitalisierung nicht verschlafen. Das Unternehmen scheiterte daran, dass es ihm nicht gelang, besagten Widerspruch zu managen. Denn ein Geschäftsmodell, das sein Fundament verliert, kann man mit den ausgefeiltesten Managementmethoden nicht retten. Stattdessen bedarf es eines „Resets“. Das Unternehmen muss sich also neu erfinden und einen ganz neuen Weg beschreiten.
Über die Autoren
Jens-Uwe Meyer
Jens-Uwe Meyer ist Vorstandsvorsitzender der Innolytics AG, Leipzig, die unter anderem Ideen-, Wissens- und Qualitätsmanagement-Software entwickelt. Der Digitalisierungs- und Innovationsexperte sowie Vortragsredner hat über ein Dutzend Bücher zum Thema Innovation in Unternehmen verfasst. Im Oktober 2023 erschien sein neustes Buch „Die KI-Roadmap: Künstliche Intelligenz im Unternehmen erfolgreich einsetzen“.