In unsicheren Zeiten richten sich die Augen der Mitarbeiter verschärft auf ihre Führungskräfte. Sie erwarten von ihnen Halt und Orientierung. Zudem werden die Führungskräfte verstärkt von ihren Vorgesetzten gefordert. Deshalb brauchen Führungskräfte gerade in unsicheren bzw. von rascher Veränderung geprägten Zeiten einen inneren Kompass, der ihnen
- sagt, welchen Anforderungen sie genügen wollen und
- hilft, die Prioritäten richtig zu setzen.
Sie benötigen als Führungskraft eine eigene Identität, die ihnen sagt, wofür sie als Führungskraft stehen. Sonst werden sie in dem komplexen Beziehungsnetzwerk Unternehmen schnell zum Spielball der Kräfte.
Eine Ursache, warum vielen Führungskräften eine solche Leadership ID fehlt, ist: Sie haben biografisch bedingt ein Bild der idealen Führungskraft verinnerlicht und versuchen, ihm zu entsprechen. Das funktioniert nicht, wenn dieses Bild nicht ihrer Persönlichkeit entspricht. Deshalb sollte jede Führungskraft ihre eigene Leadership ID entwickeln – auch damit sie auf ihre Netzwerkpartner authentisch und somit glaubhaft wirkt.
Um eine solche ID zu entwickeln, müssen Führungskräfte ihr Leben und ihre Erfahrungen reflektieren; außerdem ihre Werte sowie Stärken und Leidenschaften identifizieren. Dabei gilt es 11 Aspekte zu bedenken. Diese lassen sich innere und äußere Aspekte unterteilen.
1. Biografie: „Woher komme ich?“
Jede Führungskraft hat ihre eigene Geschichte, die sie zu der Persönlichkeit macht, die sie ist. Erfahrungen aus der Kindheit, kulturelle und soziale Prägungen, persönliche Enttäuschungen und Erfolge – all diese Faktoren prägen ihre Vorstellung davon, was eine gute Führungskraft ist.
Machen Sie sich diese Vorstellungen bewusst. Eine hilfreiche Methode hierbei ist ein Partnerinterview zur eigenen Biografie. Dieses können Sie mit einer Person Ihres Vertrauens führen, Sie können die Fragen aber auch alleine schriftlich beantworten.
2. Motive: „Was treibt mich an?“
Unsere Motive geben uns Auskunft darüber, warum wir tun, was wir tun. Haben Sie zum Beispiel den Wunsch, Dinge zu gestalten? Suchen Sie den Nervenkitzel? Streben Sie nach Anerkennung? Wenn Sie wissen, was Sie antreibt, wissen Sie auch, wie Sie Ihre Führungsrolle gestalten sollten, um langfristig zufrieden und erfolgreich zu sein.
Erkunden können Sie Ihre Motive zum Beispiel mit dem sogenannten Reiss-Motivation-Profile. Es beschreibt 16 Lebensmotive, die jeden Menschen mehr oder weniger stark antreiben. Jedes Lebensmotiv ist gekennzeichnet durch zwei entgegengesetzte Pole und kann entweder mehr oder minder stark ausgeprägt sein. Je besser Ihr Leben zu Ihrem Motivprofil passt, desto höher ist Ihre Lebenszufriedenheit und desto leichter können Sie selbstbestimmt und eigenverantwortlich handeln.
3. Werte: „Wofür stehe ich?“
Unsere moralischen Werte sagen uns, was für uns ethisch richtig ist. Je nachdem, welche Werte eine Führungskraft hat, fühlt sie sich in den verschiedenen Organisationen unterschiedlich wohl – z.B. aufgrund von deren Geschäftstätigkeit, Zielen und Kultur oder aufgrund der eigenen Arbeitsinhalte und -situation. Machen Sie sich also Ihre Werte bewusst, denn jede Führungskraft braucht ein klares Wertesystem, damit sie auch in komplexen bzw. ambivalenten Situationen die richtigen Entscheidungen treffen kann – auch in Ihren eigenen Augen.
4. Mission: „Wofür trete ich an?“
Jeder Mensch möchte etwas Sinnvolles tun. Fragen Sie sich deshalb als Führungskraft: Was ist meine Mission? Was verleiht meiner Arbeit Sinn?
Verdichten Sie Ihre Mission möglichst zu einem persönlichen Merksatz. Die Mission des Leiters eines Kundenservice-Centers kann zum Beispiel lauten: „Ich sorge mit meinem Team dafür, dass unser Unternehmen möglichst viele zufriedene Kunden hat.“
5. Wirkung: „Woran will ich erkannt werden?“
Die Leadership ID einer Führungskraft schlägt sich in ihrem wahrnehmbaren Verhalten nieder. Also sollten Sie sich als Führungskraft fragen, welche Verhaltensweisen für sie typisch bzw. kennzeichnend sind – z. B. beim Führen von Mitarbeitern, in der Alltagskommunikation, in Stresssituationen?
Eine hilfreiche Übung ist: Stellen Sie sich vor, Ihre Mitarbeiter, Kunden, Vorgesetzten würden in Ihrer Abwesenheit über Sie reden. Was sollten sie über Sie sagen? Schreiben Sie Ihre Antworten auf und überlegen Sie selbstkritisch, inwieweit Ihr Handeln dem gewünschten Ergebnis zuträglich ist.
6. Ressourcen: „Was sind meine Kraftquellen?“
Um auch in schwierigen Zeiten die nötige Energie zu haben, brauchen wir Kraftquellen. Das können der Sport, die Familie, Freunde, die Religion und vieles mehr sein. Was hilft Ihnen als Führungskraft, Ihre Batterien immer wieder aufzuladen? Machen Sie sich dies klar.
Doch Vorsicht! Beruflich stark engagierte Menschen neigen dazu, viele ihrer Kraftquellen – wie zum Beispiel ihre Familie, ihre positive Lebenseinstellung, ihren gesunden Schlaf – als selbstverständlich existent zu erachten. Doch wenn wir uns um sie nicht kümmern, versiegen sie oft mit der Zeit.
7. Legitimation: „Warum bin ich hier der/die Richtige?“
Eine Führungskraft muss überzeugt sein: Ich kann in meiner Funktion etwas Positives bewirken. Denn nur dann strahlt sie das nötige Selbstbewusstsein und -vertrauen aus. Suchen Sie Ihre Antwort auf die Frage: Warum bin ich hier – in diesem Unternehmen, in dieser Position – genau der/die Richtige? Die Antworten auf diese Frage können sehr unterschiedlich sein. Zum Beispiel. Weil ich die nötigen Kompetenzen/Erfahrungen habe. Oder: Weil ich mit den unterschiedlichsten Menschen gut umgehen kann. Oder: Weil ich auch in Stresssituationen einen kühlen Kopf bewahre.
Jede Führungskraft ist Teil eines Systems, das wiederum aus zahlreichen Subsystemen besteht, die eigene Interessen und Ziele haben. Deshalb kann eine Führungskraft nie allen an sie gestellten Erwartungen in vollem Umfang gerecht werden. Dieses Dilemma müssen Führungskräfte aushalten bzw. ausbalancieren. Hierbei hilft eine Analyse der Stakeholder und ihrer Erwartungen.
1. Stakeholder: „Mit wem stehe ich in Beziehung?“
Eine Führungskraft ist stets auch ein Manager zahlreicher Abhängigkeitsbeziehungen – z. B. mit Mitarbeitern, Kunden, Lieferanten, Vorgesetzten. Auch der Lebenspartner zählt hierzu. Führungskräfte sollten wissen, wer für sie wichtige Beziehungspartner sind und in welcher Form der Abhängigkeit sie zu ihnen stehen.
Nehmen Sie zum Beispiel ein großes Blatt Papier. Zeichnen Sie sich selbst als Strichmännchen in die Mitte und dann darum herum alle Personen(-gruppen), mit denen Sie in relevanten Beziehungen stehen. Ziehen Sie zwischen ihnen Linien, um ihre Beziehungen zu verdeutlichen. Durch die Abstände der Stakeholder und die Dicke der Linien können Sie die Intensität und Wichtigkeit der Beziehungen ausdrücken. Doch Vorsicht! Vergessen Sie keine relevanten Stakeholder – zum Beispiel die Kunden oder wichtige Dienstleister.
2. Erwartungen: „Welche Bedürfnisse haben meine Stakeholder?“
Jeder Stakeholder hat Erwartungen an Sie als Mensch und Führungskraft. Versuchen Sie, diese zu erfassen, und fragen Sie sich dann: Wie gehe ich mit den vielen, sich teils widersprechenden Erwartungen um?
Erstellen Sie eine Liste aller Stakeholder. Schreiben Sie hinter jeden Namen im Imperativ die Erwartungen an Sie. Bei einer Führungskraft im Vertrieb kann die Liste zum Beispiel folgende Elemente enthalten:
- Junior-Verkäufer: „Nimm dir Zeit für mich; erkläre mir alles in Ruhe!“
- Erfahrener Key-Accounter: „Kümmere dich um einen guten Support vom Innendienst und höhere Prämien!“
- Management: „Sorge dafür, dass Deine Leute mehr verkaufen und hohe Gewinnmargen erzielen!“
- Kunde: „Gewähre mir hohe Rabatte und einen Spitzen-Service!“
3. Probleme: „Für welche Herausforderungen liefere ich eine Lösung?“
Eine Führungskraft kann nicht alle Erwartungen erfüllen – auch weil ihre Ressourcen begrenzt sind. Fragen Sie sich deshalb: „Welchen Erwartungen will ich wie begegnen?“ Schreiben Sie dies möglichst präzise auf. In der Praxis wird sich eine Hierarchie ergeben: Einige Anforderungen sind Ihnen sehr wichtig, andere weniger. Das kann so weit gehen, dass Sie hinter einige Erwartungen schreiben: „Mache ich nicht.“ Andere gleichrangige Anforderungen werden in Konkurrenz zueinander stehen. Letztlich ist es Ihr Job, dies auszuhalten und situativ immer wieder die bestmögliche Lösung zu suchen.
4. Rollen: „Was sind meine Hauptrollen?“
Eine Führungskraft hat viele Rollen – mal ist sie als Chef, mal als Motivator und Inspirator, mal als Moderator oder Organisator gefragt. Fragen Sie sich: Was sind meine Hauptrollen aufgrund meiner Leadership ID und Funktion in der Organisation, und welche Rollen will ich nicht oder nur in Ausnahmefällen erfüllen?
Zwei Aspekte sollten Sie dabei aber nie vergessen:
- Es ist Ihre Kernaufgabe als Führungskraft dafür zu sorgen, dass Ihr Bereich seinen Beitrag zum Erfolg des Unternehmens leistet – und dieser Aufgabe ordnen sich alle anderen Führungsaufgaben unter. Und:
- Welchen Beitrag Ihr Bereich zum Erfolg des Unternehmens leistet, hängt primär von der Leistung Ihrer Mitarbeiter ab, und hieran messen wiederum Ihre Vorgesetzten Ihre Leistung.
In diesem Spannungsfeld erfolgreich zu agieren, ist nicht einfach. Dies setzt Klarheit über die eigenen Werte und Ziele voraus. Investieren Sie deshalb Zeit in das Beantworten obiger Fragen. Doch Vorsicht! Ihre Leadership ID können Sie nicht „en passant“ entwickeln, denn dieser Prozess setzt eine Selbstreflexion voraus. Stellen Sie sich also besagte Fragen, auch weil sich die Rahmenbedingungen ändern, immer wieder und schauen Sie, ob die Antworten Sie noch befriedigen. Und sprechen Sie eventuell mit einer Vertrauensperson hierüber.
Wenn Sie dies tun, entwickeln Sie mit der Zeit ein klares Bild davon, was Sie als Führungskraft ausmacht. Also fällt es Ihnen leichter, sich zu entscheiden und für die richtigen Dinge Verantwortung zu übernehmen und zu zeigen. Deshalb sind Sie auch zufriedener mit sich und Ihrer (Arbeits-)Situation … und das strahlen Sie auch aus.
Zum Autor:
Joachim Simon ist Führungskräftetrainer und -coach sowie Co-Founder der (Self-)Leadership Selbst-Coaching-App Mindshine Er ist Autor des Buchs „Selbstverantwortung im Unternehmen: Was Sie als Führungskraft dafür tun können“. Zu diesem Thema hält er auch Vorträge und Seminare.