Wenige Wochen nach seiner Berufung zum Stabschef der US-Armee (von 1939 bis 1945) nahm General George Marshall an einer Sitzung mit Präsident Roosevelt und mehreren anderen Regierungsmitgliedern und hohen Militärs teil. Er hatte mit dem Präsidenten bis dahin nur wenige Male zu tun gehabt. Roosevelt, der zwar ein Faible für die Luftwaffe hatte, aber wenig bis gar keine Sachkenntnis, legte seine Vorstellungen über den Ausbau der Air Force dar. Marshall erkannte, dass die Pläne Roosevelts zu einem Desaster führen würden.
Nachdem der Präsident lange, aber in den Augen des Stabschefs fast verantwortungslos oberflächlich über die Aufrüstung der Luftwaffe referiert hatte, wandte er sich an die anwesenden Teilnehmer, um jeden nach dessen Meinung zu fragen. Alle stimmten mit dem Präsidenten überein und sagten - höflich zurückhaltend - nette Worte. Zum Schluss fragte Roosevelt den Stabschef, was er von seinen Vorschlägen halte. Marshall sagte mit einem scharfen Unterton in seiner Stimme: "Mr. President, I am sorry, but I don't agree with that at all."
Roosevelt schaute Marshall schweigend an - und brach die Sitzung abrupt ab. Offenkundig hatte Marshall soeben einen tödlichen Fehler im Umgang mit dem Präsidenten gemacht, so tödlich, dass der ebenfalls anwesende damalige Finanzminister, Henry, beim Hinausgehen zu Marshall sagte: "Well, it's been nice knowing you ..." Marshalls Karriere war in seinen Augen beendet, noch bevor sie begonnen hatte.
Leadership ist ein beherrschendes Thema
Leadership ist ein beherrschendes Thema bei jeder Management-Diskussion. Wer, meinen Sie, war hier der wahre Führer? Richtig. General Marshall. Was aber kennzeichnet dieses Phänomen? Gibt es überhaupt Kriterien, wonach Leadership klassisch definiert werden kann? Ich meine Ja.
Echte Führer beherrschen die handwerklichen Grundlagen guten Managements, die lehr- und lernbaren Kompetenzen: erstens die Einhaltung einiger weniger Grundsätze; zweitens die gewissenhafte und sorgfältige Erfüllung einiger Schlüsselaufgaben und drittens die Beherrschung einiger Werkzeuge. Wahre Leader bleiben dabei aber nicht stehen; sie gehen ein paar kleine, allerdings wichtige Schritte darüber hinaus.
Sie beherrschen einige Dinge besonders gut - nicht weil sie ihnen angeboren wären (obwohl dies gelegentlich der Fall sein mag und ihnen damit vieles leichter von der Hand geht als anderen Menschen), sondern weil sie bewusst oder intuitiv wissen, dass sie als letztlich gewöhnliche Sterbliche nur sehr wenige Mittel zur Verfügung haben, um menschliche Kräfte zu mobilisieren, und daher konzentrieren sie sich auf die wesentlichen Dinge besonders systematisch und arbeiten unermüdlich und konsequent an den entscheidenden Elementen wirklicher Führung.
Echte Führer konzentrieren sich auf die Aufgabe
Echte Führer konzentrieren sich auf die Aufgabe. Echte Führer sind nicht an ihren persönlichen Bedürfnissen orientiert. Ihre Schlüsselfragen lauten nicht: Was will ich? Was passt mir? usw., sondern ihre Frage lautet: Was muss - objektiv - in dieser Situation getan werden? Manchmal geht diese Verpflichtung bis zur Besessenheit und zur Verdrängung aller anderen Dinge. Die treibende Kraft ist aber immer die Aufgabe und nicht persönliche Bedürfnisse.
Nicht selten stellen sie im Dienst an der Aufgabe alle ihre Bedürfnisse völlig zurück und nehmen erhebliche Opfer und Verzichts-leistungen auf sich - was meistens in ihrer Umgebung auf Verständnislosigkeit stößt. Sie sind getrieben von Fragen wie: Was kann ich tun? Wo und wie kann ich eine Veränderung bewirken, einen Unterschied machen? Was ist richtig für diese Organisation? Worin bestehen die richtigen Ziele und Aufgaben für dieses Unternehmen? Was für sie zählt, sind nur die Leistungen und Ergebnisse bezüglich dieser Aufgaben.
Echte Führer zwingen sich zuzuhören
Echte Führer zwingen sich zuzuhören. Die Betonung liegt auf "zwingen", denn keinem fällt das leicht. Die meisten Führer sind ungeduldig und viele sind zutiefst davon überzeugt, aus sich heraus richtig zu handeln. Dennoch wissen sie, wie ungeheuer wichtig jene Informationen sind, die sie nur von anderen bekommen können, und zwar vor allem von der Basis ihrer Organisation. Sie bringen immer wieder den Willen und die Selbstdisziplin auf, scheinbar geduldig zuzuhören - nicht zuletzt auch deshalb, weil sie wissen, dass sie ansonsten das Vertrauen ihrer Organisation verlieren.
Sie erwecken zumindest den Anschein, als interessiere sie das, was andere zu sagen haben, besonders intensiv, und die wirklich guten Führer erwecken nicht nur diesen Anschein, sondern es ist wirklich so. Das braucht nicht zu bedeuten, dass sie lange zuhören. Meistens haben sie wenig Zeit. Aber auch wenn sie sich nur zehn Minuten Zeit nehmen - in diesen hören sie für den anderen erkennbar aufmerksam zu.
Echte Führer arbeiten unermüdlich daran, sich verständlich zu machen. Sie sind sich dessen bewusst, dass das, was ihnen klar ist, ihre Sicht der Dinge und ihre eigene Vorstellungswelt, allen anderen überhaupt nicht klar ist. Aus diesem Grunde wiederholen sie die ihnen wichtig erscheinenden Botschaften immer wieder aufs Neue, mit größter Geduld und Beharrlichkeit, möglicherweise mit einer an Sturheit grenzenden Regelmäßigkeit.
Im Bemühen, sich...
Im Bemühen, sich verständlich zu machen, vereinfachen sie und befleißigen sich der Sprache des anderen, und besonders häufig verwenden sie die bildhafte Analogie. Gelegentlich übersimplifizieren sie bewusst oder unbewusst, weil sie genau wissen, dass komplizierte Dinge nicht verstanden werden und daher auch nicht wirksam werden können.
Im Bemühen, verstanden zu werden, greifen sie, wo immer möglich, zum besten Mittel der Kommunikation: Sie machen die Dinge vor. Sie verhalten sich selbst so, wie sie es von anderen wollen. Führer müssen die Regeln, die sie durchgesetzt haben wollen, selbst besonders peinlich befolgen.
Sie können sich auf anderen Gebieten durchaus Privilegien herausnehmen, aber sie müssen die Grundregeln selbst strikte einhalten, weil sie sonst die Kredibilität in ihrer Organisation verlieren. Verstoßen sie gegen dieses Prinzip, beginnt die Erosion ihrer Führungsposition.
Echte Führer verzichten auf Alibis und Ausreden
Echte Führer verzichten auf Alibis und Ausreden. Sie sind an Resultaten interessiert, und wo sich diese nicht einstellen, flüchten sie nicht in faule Begründungen und Ausreden. Gerade in Zusammenhang mit diesem Aspekt kann man gut jenen Punkt feststellen, an dem historische Personen gescheitert sind. Die Schwächung ihrer Führungsposition hat in dem Augenblick begonnen, wo sie mit Alibis und Ausreden zu operieren begannen, oder mit dem Errichten von Sündenböcken.
Eine Zeit lang kann das durchaus funktionieren, aber der Keim des Scheiterns, des Verlustes der Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft ist bereits gelegt. Es mag in bestimmten Situationen noch recht lange gedauert haben, bis das Scheitern in voller Tragweite offenkundig wurde, dennoch beginnt es in der Regel damit, dass der Führer nicht mehr authentisch und nicht mehr ehrlich in diesem Punkt ist.
Jede andere Art des Taktierens mag toleriert oder sogar als ein Zeichen besonderer Intelligenz und Schlauheit gewertet werden - nicht jedoch Taktieren bezüglich dieses Aspektes. Echte Führer akzeptieren ihre eigene Bedeutungslosigkeit im Vergleich zur Aufgabe. Ich betone: relativ zur Aufgabe - und nicht etwa relativ zu anderen Personen. Das ist häufig eine Quelle von Missverständnissen. Führer wissen sehr wohl, dass sie wichtig sind, und sie lassen das die anderen auch durchaus spüren.
So sehr in der einen oder anderen Weise Personenkult mit Führern verbunden sein mag, und dieser manchmal auch gegen ihren Willen von ihrer Umgebung verlangt und aufgebaut wird, sie selbst stellen sich unter die Aufgabe, die immer größer und bedeutsamer ist als sie selbst. Dies ist der einzige Weg, trotz und gerade in der Einmaligkeit einer Leadership-Situation noch genügend Objektivität zu bewahren, um sich ein klares Bild über die Lage verschaffen zu können.
"l'etat c'est moi"
Sie akzeptieren die Aufgabe in ihrer vollen Bedeutung, aber sie identifizieren sich nicht mit ihr. Die Aufgabe bleibt immer etwas anderes als sie selbst, sie ist immer von ihrer Person verschieden. Sobald die "l'etat c'est moi"-Haltung im Vordergrund stand, mag zwar eine besonders glanzvolle Periode für die Person begonnen haben, aber in der Regel auch der Anfang vom Ende der Führung.
Es kommt aber noch etwas dazu, was viel wichtiger ist: Die Akzeptanz der Bedeutungslosigkeit der eigenen Person relativ zur Aufgabe ermöglicht es echten Führern, im entscheidenden Augenblick Mut und Zivilcourage aufzubringen, genau in dem Augenblick nämlich, wo sie zwischen der Bedeutung der Aufgabe und ihrer richtigen Erfüllung einerseits und ihrer eigenen Karriere andererseits entscheiden müssen.
Im Zweifel opfern sie ihre Karriere um der Sache willen. Genau das ist es, was ihnen den Respekt der anderen verschafft, und zu einem ganz wesentlichen Teil liegt darin die Quelle ihrer Überzeugungskraft. Mehr kann ein Mensch kaum in die Waagschale werfen; und wenn er das tut, ist das für die anderen ein kaum zu übersehendes Signal, dass er meint, was er sagt. Es beweist charakterliche Integrität.
Echte Führer geben ihr Bestes für die Organisation
Echte Führer geben ihr Bestes für die Organisation, aber nicht ihr Leben. Sie streben ständig nach Perfektion, und - wie gesagt - sie geben (fast) alles für die Sache. Sie fordern von sich und von den Menschen größte Leistung und höchste Maßstäbe - sie bieten nicht etwas, sondern sie stellen Forderungen. Sie wissen, dass es die Leistung der Organisation ist, die Stolz, Achtung und Selbstrespekt erzeugt, und daher haben sie größte Erwartungen in die Leistungen der Menschen.
Und obwohl sie - buchstäblich oder im übertragenen Sinne - das Leben anderer in besonderen Situationen gelegentlich fordern müssen, so geben sie doch nicht ihr eigenes - es sei denn, sie werden dazu gezwungen. Es gibt somit einen Unterschied zwischen Führern und freiwilligen Märtyrern.
"wir" statt "ich"
Echte Führer stehlen ihren Leuten nicht den Erfolg. Bei allen Erfolgen, die sie selbst haben mögen, und bei aller Überzeugtheit, vieles besser machen zu können als andere, schmücken sie sich nicht mit fremden Federn. Sie denken "wir" statt "ich". Sie wissen, was ihre Mitarbeiter und die Organisation leisten, und sie anerkennen das. Der Erfolg in der Sache ist ihnen wichtig, nicht ihr Erfolg als Person.
Echte Führer haben keine Angst vor starken Leuten. Das gilt in beide Richtungen, gegenüber Unterstellten und gegenüber Vorgesetzten. Sie wissen, dass nur die besten Kräfte genügen werden, um die großen Aufgaben der Organisation zu erfüllen, und sie tun alles, um beste Kräfte anzuziehen, sie zu fördern und sie zum Einsatz zu bringen. Sie werden möglicherweise hart und gelegentlich auch brutal gegen Versuche vorgehen, ihre Autorität infrage zu stellen und zu unterminieren, aber sie eliminieren nicht die starken Leute aus purer Angst um ihre eigene Stellung.
Das Versammeln von Schwächlingen, Günstlingen und Jasagern ist ein sicheres Anzeichen für schwache Führung. Echte und starke Führer sind fast allergisch gegen Jasager. Sie wollen die ehrlichen und kontroversen Meinungen, wobei es durchaus sein kann, dass sie sie mit Unmut und Barschheit entgegennehmen.
Echte Führer akzeptieren die Verschiedenartigkeit von Menschen
Echte Führer akzeptieren die Verschiedenartigkeit von Menschen. Nicht nur akzeptieren sie das, sie machen daraus eine Chance. Sie orientieren sich an dem, was die Menschen können, und sie sind häufig außerordentlich tolerant in Bezug auf die Schwächen von Menschen.
Es geht ihnen nicht um Sympathie und Popularität. Die Stärken, die die Bewältigung der Aufgabe erfordert, sind für sie (fast) das Einzige, das zählt. Wie auch immer sie anderen Menschen gegenüber sein mögen - humorvoll, locker und jovial oder streng und unnahbar -, das sind nicht die wesentlichen Aspekte. Das sind Oberflächenerscheinungen.
Was zählt, sind Aufgabe und Ergebnisse - und so tolerant sie bezüglich der Verschiedenartigkeit von Menschen sein können, so unnachgiebig sind sie, wenn es um Leistung, Ergebnisse und die damit zusammenhängenden Werte geht.
Echte Führer müssen keine begeisternden Menschen sein
Echte Führer müssen keine begeisternden Menschen sein. Fast immer wird in der Literatur und in Diskussionen gefordert, Leader müssten begeisternde Menschen sein, müssten Charisma haben, solche, die bei anderen Enthusiasmus wecken können. Das halte ich nicht nur für einen Trugschluss, sondern Begeisterung ist in den wirklich kritischen Führungssituationen sogar ein entscheidendes Hindernis. Gerade dieser Punkt illustriert, wie naiv manche Leute über Leadership denken.
Wirkliche Führung ist dann notwendig und gefordert, wenn es um die schwierigen Situationen geht, wenn die unpopulären, harte Opfer verlangenden - aber eben richtigen - Entscheidungen getroffen werden müssen. Solange es um etwas geht, wofür man Menschen prinzipiell überhaupt begeistern kann, ist nicht wirkliche Führerschaft erforderlich, meistens genügt dann schon brillante Rhetorik und etwas Showmanship.
Echte Führer sind keine Utopisten
Echte Führer sind keine Utopisten. Sie mögen eine Vision, besser: eine Mission haben, aber sie wollen nicht den Himmel auf Erden schaffen, sondern sie konzentrieren sich darauf, die Hölle zu vermeiden. Echte Führer sind Realisten mit Bezug auf die menschliche Natur, und sie bemühen sich, aus der Geschichte zu lernen.
Sie wissen, dass man trotz aller faszinierender utopischer Philosophien keinen neuen Menschen schaffen, sondern lediglich das Elend dieser Welt Schritt für Schritt und sehr bescheiden verbessern kann. Möglicherweise operieren sie in ihrer Öffentlichkeitsarbeit mit einem Hauch von Utopie, weil sie um die Faszination solcher Entwürfe auf die Menschen wissen.
In ihrem Handeln lassen sie sich aber vom Wissen um die Risiken jedes Eingriffes in ein komplexes soziales Gebilde leiten und um die unbeabsichtigten Nebenwirkungen auch noch so gut gemeinter Veränderungen. Sie wissen, dass es unmöglich ist, Utopien zu realisieren.
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DER AUTOR
Der 1944 in Lustenau, Vorarlberg, geborene Fredmund Malik ist einer der führenden Management-Experten im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus. Er ist Gründer, Inhaber und Chairman von Malik Management, dem weltweit führenden Unternehmen für ganzheitliche General Management-, Leadership- und Governance-Lösungen mit Zentrale in St. Gallen und Niederlassungen in Adelaide, Berlin, Hanoi, London, Peking, Toronto, Wien und Zürich.
Der Beitrag ist ursprünglich in der Reihe "Malik on Management" im Magazin trend. erschienen.
Echte Führer beherrschen die Management-Tools, verfügen aber noch über andere Eigenschaften.
Sie sind furchtlos gegenüber Vorgesetzten.
Sie zwingen sich zuzuhören und trachten ständig danach, sich verständlich zu machen.
Sie müssen nicht über Charisma oder Begeisterungsfähigkeit verfügen.
Sie haben keine Alibis odder Ausreden und sind keine Utopisten.