Eine Organisation umzubauen erfordert eine eingehende Analyse und Entschlossenheit.
©Getty Images/iStockphotoDie Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft zwingen die meisten Unternehmen, ihre Organisation in immer kürzeren Abständen zu überdenken. Doch nicht immer sind Umstrukturierungen wirklich notwendig. Fredmund Malik bietet zur richtigen Entscheidung eine Checkliste von Symptomen, bei denen Sie eingreifen sollten.
Die Reorganisation - ein chirurgischer Eingriff
Ich bin keineswegs ein Freund von "Organisitis", und ich habe wenig Verständnis für jene Führungskräfte, die meinen, man müsse ein Unternehmen permanent umorganisieren, damit "die Dinge in Bewegung bleiben".
Die Menschen können zwar Veränderungen und Wandel durchaus verkraften, aber sie brauchen auch Phasen von Ruhe und Stabilität, um produktive Leistungen zu erbringen. Wer ständig um des Änderns willen ändert und reorganisiert, riskiert eine markante Verschlechterung seiner Geschäftsergebnisse und produziert bei den Mitarbeitern Attentismus (abwartende und zögernde Haltung), Lethargie, Ängste und Aktionismus.
Wann also sollte man reorganisieren? Woran kann man eine schlechte Organisation erkennen? Auf welche Symptome sollte man achten? Dazu ein paar Hinweise, die Ihnen praktisch nützlich sein werden.
Organisatorische Veränderungen sind vergleichbar mit chirurgischen Eingriffen in einen Organismus - in einen lebenden Organismus und ohne Betäubung. Die Chirurgen selbst sind in einer wesentlich komfortableren Lage als die Manager: Sie können den Patienten wenigstens durch Narkose stilllegen; der Manager kann das nicht. Sein Patient sieht hellwach, was da auf ihn zukommt, und entsprechend reagiert er.
Die guten Chirurgen haben gelernt, dass man nicht ohne Not schneidet. Nur wenn alle anderen Mittel untauglich erscheinen, werden sie zum Messer greifen. So handeln auch die guten Manager. Sie reorganisieren nie ohne Not - und wenn sie es tun müssen, dann nur nach bester Vorbereitung, nach gründlichem Durchdenken des Vorgehens und nach Treffen aller flankierenden Maßnahmen.
Gute Chirurgen schneiden nicht einfach auf - um dann zu überlegen, wie es weitergehen soll. Sie sind auf alle vorstellbaren Eventualitäten vorbereitet und halten sämtliche Maßnahmen parat. Und nur deshalb können sie mit den gelegentlich noch immer auftretenden Überraschungen durch Improvisation fertig werden.
Es gilt aber auch: Wenn der Chirurg nach gründlichem Durchdenken zum Ergebnis kommt, dass er schneiden muss, dann tut er es rasch und kompromisslos; und genau so muss man reorganisieren. Man schneidet ein brandiges Bein nicht in kleinen Stückchen ab, sondern deutlich oberhalb der erkrankten Stelle, und - wie gesagt - rasch und auf einmal.
Die drei Grundfragen des Organisierens
Es gibt auf allen Gebieten Leute, die vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen. Und gerade beim Organisieren kann man sich fürchterlich in einem Gestrüpp von Zielen und Kriterien verlieren, die die Organisation erfüllen soll. Das Schlechteste, was man tun kann, ist, eine Organisation mit Anforderungen zu überladen. Je zahlreicher die Anforderungen sind, umso weniger kann eine Organisation leisten.
Im Kern gilt es, genau drei Fragen zu beantworten; es sind die Grundfragen allen Organisierens:
Frage 1: Wie müssen wir uns organisieren, damit das, wofür der Kunde uns bezahlt, im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und von dort nicht wieder verschwinden kann?
Natürlich wird es in jeder Firma heute zahlreiche Bekenntnisse zur Kundenorientierung geben. Realisiert ist dies aber noch lange nicht.
Erstens: Es ist gar nicht so leicht, herauszufinden, wofür der Kunde ein Unternehmen wirklich bezahlt.
Zweitens: Selbst wenn man es weiß, gibt es noch immer sehr viel mehr Möglichkeiten, am Kunden vorbei zu organisieren, als den Kunden tatsächlich im Zentrum zu haben.
Ein Beispiel sind jene Versicherungsgesellschaften, deren Außendienstmitarbeiter außer Verkaufen auch noch administrative Aufgaben zu erledigen haben. Noch immer zeigen die Analysen, dass die Außendienstmitarbeiter sehr vieler Versicherungsgesellschaften höchstens 40 Prozent ihrer Zeit dem Kunden widmen können; der Rest muss für alle möglichen Verwaltungsarbeiten eingesetzt werden. Damit steht der Kunde nicht im Zentrum, und damit kann auch der Mitarbeiter nicht das tun, wofür er tatsächlich bezahlt wird.
Frage 2: Wie müssen wir uns organisieren, damit das, wofür wir unsere Mitarbeiter bezahlen, von diesen auch wirklich getan werden kann?
Es lohnt sich, in regelmäßigen Abständen seine Mitarbeiter zu fragen: Warum stehen Sie eigentlich auf der Lohnliste dieser Firma? In bemerkenswert vielen Fällen wird man feststellen, dass die Leute überhaupt keine oder sehr verschwommene Antworten geben. Sie zitieren natürlich den Dienstvertrag oder die Überschrift der Stellenbeschreibung. Aber das sagt meistens überhaupt nichts aus. Weiters kann man immer wieder feststellen, dass Organisationen die Mitarbeiter eher behindern, als dass sie ihre Arbeit wirklich unterstützen. Nicht selten ist man als Chef selbst der "Zapfen im Flaschenhals".
Frage 3: Wie müssen wir uns organisieren, damit das, wofür die Firmenspitze, das Top-Management, bezahlt wird, auch wirklich getan werden kann?
Bei der dritten Grundfrage des Organisierens geht es darum, wofür das Top-Management tatsächlich seine wertvolle Zeit einsetzt. Sind es wirklich die echten Top-Management-Aufgaben, die erfüllt werden? Oder versinkt die Firmenspitze im Tagesgeschäft? Werden die obersten Führungskräfte tatsächlich durch die Organisation freigespielt, jene Probleme zu lösen, die man nur aus Sicht und in Kenntnis des Ganzen vernünftig bearbeiten kann? Oder erfordert das Inganghalten der Organisation selbst soviel Zeit und Kraft, dass kaum noch etwas übrigbleibt?
Symptome schlechter Organisation
Ich sagte einleitend, dass man nicht leichtfertig reorganisieren sollte. Wann soll man aber doch an eine Änderung der Organisation denken? Anhand welcher Symptome kann man erkennen, ob tatsächlich ein Organisationsproblem vorliegt?
Es gibt Leute, die bei jeder Schwierigkeit reflexartig gleich ein Organisations- oder Strukturproblem sehen und sofort nach organisatorischen Änderungen rufen. Diesem Reflex darf man als Führungskraft keinesfalls nachgeben.
Natürlich gibt es jeden Tag in jedem Unternehmen irgendwelche Schwierigkeiten, Probleme und Friktionen. Nur wenige haben aber ihre Ursache in der Organisation. Bei genauer Untersuchung wird man fast immer (oder jedenfalls sehr häufig) zum Ergebnis kommen, dass es weit eher an der Führung als an der Organisation liegt.
Man darf Organisationen nicht primär nach jenen Problemen beurteilen, die sie produzieren, sondern man muss sie nach jenen Problemen bewerten, die sie nicht produzieren. Selbstverständlich erzeugt die Organisation, die wir heute haben, ihre Schwierigkeiten; welche anderen Schwierigkeiten würde aber jede andere Organisation produzieren? Durch Reorganisation kann man fast immer dieses eine, gerade vorliegende Problem lösen. Aber wie viele neue und andere Probleme wird man dadurch aber schaffen? - Das muss die Kernfrage sein. Es gibt ein paar wenige Symptome, die ein starkes Indiz dafür sind, dass die Probleme tatsächlich in der Organisation begründet liegen. Bei Vorliegen dieser Symptome sollte man also ernsthaft an organisatorische Veränderungen denken:
1. Vermehrung der Managementebenen
Dies ist das sicherste und ernsteste Symptom für schlechte und änderungsbedürftige Organisation. Inzwischen ist diese Einsicht, Gott sei Dank, akzeptiert und relativ weit verbreitet. Aber es hat sehr lange gedauert, bis man das gesehen hat. Wie sonst wäre es erklärbar, dass man so laut nach Abbau von Hierarchien ruft und drei, vier oder fünf Ebenen auf einen Schlag eliminiert. Zuvor müssen diese Ebenen ja offenbar entstanden und zugelassen worden sein, sonst müsste man sie jetzt nicht beseitigen. Sie hätten gar nicht entstehen dürfen.
Die Regel lautet: Geringstmögliche Zahl von Ebenen und kürzestmögliche Wege. Man muss jeder Versuchung, zusätzliche Managementebenen zu schaffen, entschiedenen Widerstand entgegensetzen. Es kann sein, dass man nach gründlichem Durchdenken aller Umstände doch zum Ergebnis kommt, dass eine zusätzliche Ebene tatsächlich notwendig ist. Dies sollte aber die letzte Lösung sein, die man ins Auge fasst.
Jede zusätzliche Ebene macht das gegenseitige Verständnis schwieriger, produziert zusätzliches "Rauschen" in den Kanälen, verzerrt die Information, verfälscht die Ziele und lenkt die Aufmerksamkeit der Mitarbeiter in die falsche Richtung. Jede Ebene bedeutet zusätzlichen Stress und ist eine neue Quelle von Trägheit, Reibung und Kosten.
2. Ständiges Reden über "bereichsübergreifendes Arbeiten"
Dies ist ebenfalls ein Warnsignal und ein Hinweis auf mutmaßliche Organisationsprobleme. "Bereichsübergreifendes" Arbeiten klingt sehr modern; hinzugefügt wird dann meistens noch, dass man "vernetzt" denken müsse.
Nun ja, leider wird immer mehr davon nötig, weil unsere Welt immer komplexer wird. Begrüßenswert ist das aber keineswegs. Es ist nämlich außerordentlich schwierig, und nur wenige Leute können das. Selbst intensives Training bringt keine berauschenden Erfolge in dieser Hinsicht. Für die meisten Leute stellt bereichsübergreifendes Arbeiten und vernetztes Denken Anforderungen, die sie einfach nicht - oder nur sehr schwer - erfüllen können.
Die Grundregel muss daher ganz anders lauten: Die Organisation ist dann richtig, wenn möglichst wenig bereichsübergreifendes Arbeiten notwendig ist beziehungsweise wenn bereichsübergreifendes Arbeiten gar nicht erforderlich ist.
Ich weiß, dass das nicht immer leicht zu erfüllen ist. Man muss ziemlich intensiv über organisatorische Lösungen nachdenken, um dieser Regel zu entsprechen. Aber das sollte die Richtschnur sein, und an dieser sollte man dann die unvermeidlich erforderlichen Kompromisse messen.
3. Viele Sitzungen mit vielen Leuten
Das ist ebenfalls ein sehr starkes Indiz dafür, dass mit der Organisation etwas nicht stimmt, und man sollte dieses Indiz sehr ernst nehmen.
Natürlich sind, leider, immer mehr Sitzungen erforderlich. Aber auch das ist keineswegs eine wünschenswerte Entwicklung. Nur selten wird in einer Sitzung wirklich gearbeitet. Die Arbeit findet vor oder nach der Sitzung statt. Und jede Sitzung (insbesondere eine produktive) produziert drei weitere Sitzungen, die danach notwendig sind.
Auch hier gibt es eine klare Regel; sie wird leider sehr häufig missverstanden, und darum bitte ich Sie, die beiden folgenden Absätze genau zu lesen.
Die Regel lautet: Minimiere die NOTWENDIGKEIT persönlicher Kontakte, um etwas zu erreichen.
Ich sage ausdrücklich, dass die Notwendigkeit zu minimieren sei und nicht etwa die Möglichkeiten. Die Mitarbeiter sollen selbstverständlich ausreichende, ja viele Möglichkeiten haben, Kontakte zu pflegen, zu ihren Kollegen, zu den Vorgesetzten usw. Daher ist es angebracht, meistens sogar notwendig, diese Kontaktmöglichkeiten zu schaffen, durch die Anordnung der Arbeitsplätze, die Cafeteria oder Kantine, durch Betriebsanlässe usw. Wenn aber immer für die Erledigung jeder Angelegenheit acht oder zehn Leute zusammenkommen müssen (weil wir so organisiert sind), um sich zu koordinieren und abzustimmen, bevor überhaupt etwas getan werden kann, dann ist man eben falsch organisiert.
4. Personelle Überbesetzung
Die produktivste Ressource ist noch immer ein fähiger, kompetenter Mitarbeiter, den man arbeiten lässt und der durch nichts behindert wird.
Wenn immer mehrere Leute mit derselben Aufgabe befasst sind, hat man eine schlechte Organisation. Ich weiß, dass das im Zeitalter der Arbeitsgruppen und der Teamarbeit unmodern klingt. Ich schlage dennoch vor, darüber nachzudenken. Entscheidend ist nicht, ob etwas modern ist, sondern ob es richtig ist.
5. Notwendigkeit von Koordinatoren und Assistenten
Vielleicht braucht man heute in jeder Firma - insbesondere natürlich in den großen - den einen oder anderen Koordinator, und es gibt Manager, die einen Assistenten brauchen. Aber die Zahl dieser Jobs sollte immer minimiert werden. Assistenten- oder Koordinatoren-Jobs müssen die Ausnahme sein.
Alles andere ist ein Zeichen falscher Organisation. Die Leute beginnen sich rasch an akademischen Titeln und Diplomen zu orientieren statt an Resultaten. Sie werden sich mit Interessantem statt mit Wichtigem befassen. Und die Kosten werden steigen. Sie werden nicht in erster Linie steigen, weil die Assistenten und Koordinatoren selbst Geld kosten, sondern weil diese allen anderen Mitarbeitern die Zeit stehlen und sie vom Arbeiten abhalten. Es werden Analysen gemacht, statt dass gehandelt wird.
6. Viele Jobs mit "ein bisschen von allem"
"Ein bisschen von allem" ist keine gute Devise für die Zusammenstellung eines Menüs. Es ist desaströs für die Arbeit von Menschen; und es ist ein ernsthaftes organisatorisches Problem.
Jobs müssen im Idealfall den Mitarbeiter auf eine Aufgabe konzentrieren und fokussieren - allerdings auf eine große Aufgabe. Eine gut konzipierte und organisierte Stelle lenkt die ganze Aufmerksamkeit und Kraft eines Menschen auf die Erreichung eines Zieles. Alles andere führt zur Verzettelung und zur Zersplitterung der Kräfte.
Ich weiß, dass auch das unpopulär ist, aber es ist richtig - und es ist die einzige Möglichkeit, den Menschen zu echten, überzeugenden, sichtbaren und vorzeigbaren Erfolgen zu verhelfen.
Über Vielfalt braucht man sich meistens keine großen Sorgen zu machen. Selbst die besten Jobs mit größter Konzentrationswirkung lassen genug Spielraum und bringen jeden Tag genügend Überraschungen mit sich, sodass dem Mitarbeiter kaum langweilig werden wird.
Jobs mit "ein bisschen von allem" führen zur Flucht aus der Leistung und aus der Verantwortung. Sie verunmöglichen es dem Mitarbeiter, das Wichtigste zu erlangen, das er braucht, um motiviert zu sein, um respektiert zu werden und um vielleicht sogar zufrieden und glücklich zu werden - und das ist nur eines: sichtbare, vorzeigbare Resultate, auf die er stolz sein kann und derentwegen allein er auf Dauer von seinen Kollegen, Vorgesetzten und Mitarbeitern geachtet und anerkannt sein wird.
Geschwindigkeit - entscheidend für den Erfolg
Wenn eines oder mehrere dieser Symptome vorliegen, sollte man ernsthaft beginnen, die Organisation des Geschäfts neu zu durchdenken. Es gibt darüber hinaus natürlich noch weitere Gründe, Strukturüberlegungen anzustellen, wie z.B. Wachstum und Größe eines Unternehmens, Akquisition neuer Firmen, die Notwendigkeit von Allianzen und Joint-Ventures, die Regelung von Nachfolgefragen an der Spitze usw. Darauf werde ich in zukünftigen Beiträgen eingehen.
Und zum Schluss noch einmal: Wenn man aufgrund der dargelegten Symptome zum Ergebnis kommt, dass eine Reorganisation nötig ist, dann müssen die erforderlichen Änderungen sorgfältig im voraus durchdacht werden - und danach müssen sie rasch und kompromisslos durchgezogen werden. Zögerlichkeit und Unschlüssigkeit entmutigt die Befürworter und stärkt die Gegner der erforderlichen Maßnahmen.
Geschwindigkeit ist wichtig, und danach müssen alle wieder ungestört arbeiten können. Ein Unternehmen lebt nicht zum Zweck seiner eigenen permanenten Reorganisation, sondern nur von der Leistung, die nach der Reorganisation hoffentlich wesentlich größer sein wird als vorher. Seien Sie aber vorbereitet darauf, dass auch danach keine friktionsfreie Situation gegeben sein wird.
Der Beitrag ist ursprünglich in der Reihe "Malik on Management" im Magazin trend. erschienen.