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Nun war auch Otto Schenk beileibe nicht gegen die Gefahren der Outrage gefeit und immer auch gewillt, den Affen Zucker zu geben, wenn diese danach verlangten. Doch so plump mancher Tritt damals mitunter auch wirkte, schien stets der doppelte Boden mitzuschwingen, der Abgrund einem entgegen zu gähnen, das Schluchzen sich hinter dem Jauchzen nur ungenügend zu verbergen. Liedtke hingegen reicherte die Komödie von Eugène Labiche, die sich in der Übersetzung von Elfriede Jelinek seit der legendären Berliner Schaubühnen-Aufführung von Klaus Michael Grüber 1988 großer Beliebtheit erfreut, mit Effekten an, die genau diese Abgründe zubetonieren.
Es geht um einen biederen Ehemann, der sich nach einer durchzechten Nacht mit alten Schulfreunden an kaum etwas erinnern kann. Gemeinsam mit dem ehemaligen Schulkollegen, der an seiner Seite ebenso devastiert aufwacht, schöpft er allmählich Verdacht, sie könnten im volltrunkenen Zustand nicht nur über die Stränge geschlagen, sondern gar einen Mord begangen haben. Michael Dangl (Lenglumé) und Marcus Bluhm (Mistingue) treten als ungleiches Paar mit gleichen Interessen in die Fußstapfen von Peter Simonischek und Udo Samel oder Nicholas Ofczarek und Michael Maertens und machen ihre Sache auch gar nicht schlecht.
Dangl darf etwa nach dem Aufwachen ein Kabinettstück des Haltsuchens in einer schwankenden Welt abliefern, doch in dem von Philip Rubner lindgrün gestalteten bürgerlichen Eigenheim in der Rue de Provence (der Stücktitel bezeichnet hingegen den Tatort) regiert der helle Wahnsinn, der dunkle Ahnungen und blasse Erinnerungen überstrahlt. Melanie Hackl muss ihre Hausangestellte ebenso durchgeknallt anlegen wie Kimberly Rydell ihre Hausherrin. Mit körperlichen Verrenkungen und sprachlichen Umschwüngen turnen sie sich durchs Geschehen, das durch kleine Lieder (Live-Klavier: Veit-Jacob Walter) und Zauberkunststücke angereichert ist.
Auch sprachlich hat man der "b'soffenen G'schicht" einiges hinzugefügt, vom vermeintlichen "Felizid" (Katzenmord) bis zu aus den Chatprotokollen der Kurz-Administration sattsam bekannten Sprüchen, die angesichts der jüngsten innenpolitischen Entwicklungen wie Lichtreflexe von einem anderen Stern anmuten. In diesem eineinhalbstündigen faschingsähnlichen Treiben ("Hilfe! Hilfe! Hilfe!" - "Au! Au! Au!") behält Robert Joseph Bartl als Cousin, der je nach Lage vom Ent- zum Belastungszeugen mutiert, geradezu souverän seine Würde.
Barbara Frey inszenierte "Die Affäre Rue de Lourcine" 2015 im Burgtheater als Schreckensvision zweier Spießer, in der sich Realität und Albtraum bedrohlich vermischen. Karin Henkel zeigte das bürgerliche Heim am Deutschen Theater Berlin als Echoraum des Schreckens, in dem die Tatortreiniger viel zu tun haben. Alexandra Liedtke macht daraus einen oberflächlichen Witz, so harmlos wie das von der Hausherrin ins Geschehen eingeführte Gewehr, das im Blackout abgefeuert wird. Alles nur Platzpatronen. Fürchten muss sich hier niemand. Am wenigsten vor sich selbst.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - "Die Affäre Rue de Lourcine" von Eugène Labiche, Deutsch von Elfriede Jelinek, Regie: Alexandra Liedtke, Bühnenbild: Philip Rubner, Kostüme: Su Bühler, Musikalische Leitung: Karsten Riedel, Choreographie: Paul Blackman, Mit: Michael Dangl (Lenglumé), Marcus Bluhm (Mistingue), Robert Joseph Bartl (Potard), Melanie Hackl (Justine), Kimberly Rydell (Norine), Am Klavier: Veit-Jacob Walter. Kammerspiele der Josefstadt, Nächste Vorstellungen: 12., 15., 29.1., 12., 13., 14., 17.2., Karten und Info: 01-42 700-300, www.josefstadt.org )
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