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Wurm-Retrospektive in Wien zum Bestaunen und Besteigen

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7 min
Selbst Hand und Kopf anlegen bei den "One Minute Sculptures"
©APA/APA/Erwin Wurm, Bildrecht Wien/Markus Gradwohl
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Staubige Leerstellen, zerquetschte Häuser und eine Armada an Gurkerln: Willkommen in der Welt von Erwin Wurm. Anlässlich seines 70. Geburtstags, den der weltweit bekannte Künstler am 27. Juli gefeiert hat, widmet ihm die Albertina modern eine umfangreiche Retrospektive, die von seinen Anfängen bis ins Heute reicht. So lustvoll das Oeuvre des gebürtigen Steirers ist, so sehr lädt auch die Ausstellung zum Mitmachen ein - für eine Minute oder länger.

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"Erwin Wurm ist zutiefst ein österreichischer, aber gleichzeitig doch global verstandener Künstler", streute Generaldirektor Klaus Albrecht Schröder dem Jubilar bei einer Presseführung am Donnerstag Rosen. Wer hätte sonst wohl Essiggurkerl oder Würstel zu Kunstobjekten erhoben? Mit seinen "aus dem österreichischen Biotop" kommenden Werken habe Wurm auf diese Weise "Symbolfiguren für psychische Zustände gefunden", die universal gelesen werden können. "Er ist Konzeptkünstler und Formalist, der gleichzeitig ein soziales, inhaltliches und politisches Anliegen hat. Vor allem aber hat er den Skulpturenbegriff erweitert wie kein Zweiter im 20. Jahrhundert."

Und davon kann man sich eingehend ein Bild machen: Hat Wurm in den 1980ern noch Holz oder Metall zu abstrakt anmutenden Gebilden geformt, wie "Sitzende" und "Stehende II" bezeugen, gaben spätestens die Staubskulpturen mit ihren Handlungsanleitungen einen Vorgeschmack auf das, was ihn ab den 1990ern zum Weltstar machen sollte. Entsprechend nehmen seine "One Minute Sculptures" auch den größten Ausstellungsraum ein und locken zur Interaktion. So gilt es, eine Minute auf Tennisbällen zu liegen oder sich mit Putzmitteln abstützend an die Wand zu lehnen. Ganz neu sind die Werke "As You Like It" und "Think About Samuel", die von Shakespeare und Beckett inspiriert sind. In Pullover schlüpfen oder ein unförmiges Gebilde, aus dem ein Stuhl und ein Tisch ragen, kletternd erklimmen: Bei Wurm gelingt Kunsterfahrung nur mit vollem Körpereinsatz.

Erstmals zu sehen ist auch eine Schule, die in Anlehnung an das "Narrow House" ebenfalls gequetscht wurde. "Die Schule drückt einen nach unten", verwies Wurm auf rückständige Erziehungsmethoden und Wissensvermittlung, die er kritisch in den Blick nimmt. Wer sich mit gebücktem Gang in das Gebäude begibt, stößt dort auf Lehrtafeln aus längst vergangenen Tagen, die über die Verarbeitung von Walen oder die Wirkung von Kampfstoffen aufklären. "All diese Dinge gibt es immer noch zu kaufen", erzählte Wurm von seinen Recherchen. "Hier wurde und wird Wissen vermittelt, das teils faschistische Tendenzen hat und heute längst überholt ist." Auch das lasse erkennen, dass Schule "einer bestimmten Zeit verpflichtet" sei, so der Künstler.

Die Kombination aus frühen Arbeiten, bekannten Werken und neuen Aspekten soll die Retrospektive für Wurm-Kenner ebenso anziehend machen wie für Menschen, die noch nicht so tief in seinen Kosmos eingetaucht sind, unterstrich Kuratorin Antonia Hoerschelmann. "Alles hängt mit allem zusammen, dieser rote Faden zieht sich durch verschiedene Themenkreise. Das kann man von den 1980ern bis heute erkennen." Sie warb eingehend darum, sich Zeit zu lassen, damit die Arbeiten auch ihre Wirkung entfalten können. "Es gibt immer eine doppelte Ebene. Es macht Erwin Wurm aus, dass so viele Überlegungen und Gedanken existieren." Dadurch könne man "neue Türen des Denkens und der Freiheit" aufstoßen.

Für einen Schnelldurchlauf ist diese Schau tatsächlich nicht geeignet, dafür gibt es einfach zu viel zu sehen: Boxen, aus denen Beine ragen, wuchernde oder platt gedrückte Autos, Architekturikonen, die quasi mit dem Vorschlaghammer bearbeitet wurden oder unter der künstlerischen Hitze zerfließen, auf Stelzen schreitende Gedankenblasen, rund zwei Dutzend Gurkerln auf Podesten oder eng umschlungene Würstel, die sich innig küssen. Immer wieder schaffte und schafft es Wurm, die Vorstellung von Skulptur zu brechen und neu zu deuten, wobei die Alltäglichkeit der zur Anwendung kommenden Gegenstände neue Deutungsebenen aufmachen.

Beinahe gruselig wirken wiederum die "Substitutes", die in den vergangenen zwei Jahren entstanden sind: teils realistisch anmutende, einfarbige Figuren, die sich auf zweiten Blick als leere (Gewand-)Hüllen offenbaren und nicht selten durch Deformierung unnatürliche Züge annehmen. Auch der malerische Ausdruck kommt nicht zu kurz, was neben einigen Zeichnungen auch den "Flat Sculptures" zu verdanken ist, die das Dreidimensionale in die Fläche rückübersetzen. Dass den Betrachtenden bei mancher Arbeit ein Schmunzeln entkommt, ist verständlich, aber nicht Absicht des Künstlers: "Humor ist nie ein vordergründiges Ziel, er ergibt sich durch diesen Schritt zur Seite, hin zum Absurden."

Wem die insgesamt 170 Werke, von denen knapp zwei Drittel noch nie in Österreich gezeigt wurden, immer noch nicht ausreichen, kann aktuell auch die Galerie Zetter projects ansteuern, wo Skulpturen bis 5. Oktober ebenfalls Beine bekommen. Erwin Wurm selbst richtet übrigens den Blick nach vorn. "Retrospektive ist ein erschreckendes Wort. Ich möchte mich weiterentwickeln und es für mich spannend halten", so der Künstler. "Ich möchte nicht mein eigener Archivar sein. Wen interessiert das Gestern?" Dann doch lieber auf eine "One Minute Sculpture" ins Morgen klettern.

(S E R V I C E - Ausstellung "Erwin Wurm. Die Retrospektive zum 70. Geburtstag" von 13. September bis 9. März in der Albertina modern, Karlsplatz 5, 1010 Wien, täglich 10-18 Uhr; Katalog zur Ausstellung "Erwin Wurm. Die Retrospektive", hrsg. von Antonia Hoerschelmann und Klaus Albrecht Schröder, Hirmer, 320 Seiten, 51,30 Euro; www.albertina.at/albertina-modern)

WIEN - ÖSTERREICH: FOTO: APA/APA/Erwin Wurm, Bildrecht Wien/Markus Gradwohl

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