Andreas Treichl, langjähriger CEO der Erste Group und Präsident des Europäischen Forum Alpbach
©SEBASTIAN REICHAlpbach-Präsident und Ex-Erste-Boss Andreas Treichl über die Unverzichtbarkeit einer Kapitalmarktunion – und warum auch die Sparkassen schuld an der Börsenskepsis sind.
Gibt es eine Stunde der Wahrheit für die Kapitalmarktunion, an der jetzt seit rund zehn Jahren herumgedoktert wird, die aber Stückwerk geblieben ist?
Es gibt jetzt ein viel stärkeres Bekenntnis der EU, es gibt den Letta-Bericht, der Draghi-Bericht wird folgen. Der Bericht der High-Level-Kommission von Thomas Wieser von 2020 beinhaltet im Grunde alle Vorschläge, die notwendig sind. Woran es auf EU-Ebene scheitert, ist, dass es mehr ein technisches als ein politisches Thema ist. Mit technischen Themen beschäftigen sich aber Beamte, die eng mit den Nationalstaaten zusammenarbeiten müssen. Notwendig ist logischerweise eine Angleichung der Kapitalmarktsysteme, und die dafür notwendige intensive Beschäftigung findet auf nationalstaatlicher Ebene nicht statt. Finanz-, Wirtschafts- und Justizministerien in den Nationalstaaten müssten sich dazu an einen Tisch setzen und gemeinsam mit der EU einen Aktionsplan inklusive Zeitplan entwickeln. Es müssen ja nicht alle mitmachen. Beim Euro haben auch nicht alle mitgemacht.
Warum sollte in der zweiten Periode von der Leyens, noch dazu vor dem Hintergrund des Fehlens starker nationalstaatlicher Achsen, ein Reformschub in diese Richtung gelingen?
Seit 50 Jahren gibt es in Europa die Idee einer Eisenbahnunion. Doch die nationalen Verkehrsministerien, Eisenbahngesellschaften und -gewerkschaften können sich nicht darüber einig werden, wie sie einen grenzüberschreitenden Verkehr aufbauen. Die Belgier wollen ihre Bahnhofskonfiguration nicht an die Deutschen anpassen, deshalb muss Siemens unterschiedliche Lokomotiven bauen. Das ist absurd.
Eben.
Von der Leyen macht viele Ansagen, meist fehlen dann die Aktivitäten. Ich sehe nicht wirklich eine große Chance, dass die neue Kommission effizienter und zielgerichteter arbeitet. Es wird aller Wahrscheinlichkeit nach mehr Kommissare geben, die weniger Interesse an einer stärkeren Union haben als in der letzten Kommission.
Gar nicht zu reden von den nationalen Regierungen.
In Österreich gelingt es ja nicht einmal, einen gemeinsamen Willen in Richtung Kapitalmarkt zu entwickeln. Ohne ein kapitalgedecktes europäisches Pensionssystem wird es wahrscheinlich keinen großen europäischen Kapitalmarkt geben. Wenn es aber keinen Kapitalmarkt zum Pensionssystem gibt, wird das passieren, was wir in Schweden, Dänemark, Norwegen sehen: dass die dortigen Pensionisten über die Pensionsfonds in unfassbarem Ausmaß die US-Wirtschaft finanzieren.
Also: Wie soll vor diesem Hintergrund eine Kapitalmarktunion gelingen?
So langweilig und trocken das Thema ist, bräuchte es doch Politiker, die sagen: Wenn wir es nicht schaffen, die europäische Kapitalmarktkultur zu ändern, hat Europa keine Chance, in den nächsten Jahrzehnten den wirtschaftlichen Abstand zu Amerika und Asien wieder aufzuholen. Denn der Glaube des Mittelstands, dass sich seine Zukunft verbessern kann, geht verloren. Diese Resignation führt zur Radikalisierung der Politik, es gibt ein Abschwurbeln nach rechts und nach links. Aber nicht nur die Linken oder die Politik sind schuld an der Skepsis gegenüber dem Kapitalmarkt, sondern auch die Sparkassen …
Warum das?
Ich meine natürlich nicht nur die Sparkassen, sondern auch die genossenschaftlichen Banken. Wir propagieren seit über hundert Jahren, dass der tugendhafte Weg zur Vorsorge und zum Vermögensaufbau Sparen ist. Die braven Kinder in der Schule gehen am 31. Oktober zur Bank und legen dort ihr Geld ein. Wir erklären unseren Kunden, dass der anständige Bürger Bausparverträge und Lebensversicherungen abschließt, dass Investieren aber für die Wohlhabenden ist und ans Spekulieren grenzt. Das hat sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt. Genauso läuft es bei den Unternehmern: Die braven, anständigen Unternehmer sind die Familienunternehmer. Kapitalmarkt? Bloß nicht!
In „Börse“ steckt ja schon das Wort „böse“.
Damit begrenzen diese Unternehmen aber auch ihre Wachstumschancen. Wenn Sie sich die Liste der letzten IV-Präsidenten und ihrer Unternehmen anschauen: Der jetzige, Georg Knill, ist zu klein, um an die Börse zu gehen. Sein Vorgänger Georg Kapsch hat gesagt: „Wenn ich gewusst hätte, was da auf mich zukommt, wäre ich nie an die Börse gegangen.“ Kapschs Vorgänger, Veit Sorger, war Angestellter in der Papierindustrie. Sorgers Vorgänger, Peter Mitterbauer, ist mit Miba an die Börse gegangen, um an Finanzierungen zu kommen, und zog sich zurück, als es dafür wieder andere Lösungen gab. Dann bleiben halt fast nur noch die Börsenstorys wie jene von Markus Braun, Wirecard, übrig, und die sind auch nicht gut.
Die Kapitalmarktunion ist aber nicht von Österreich abhängig.
Was haben die Deutschen gemacht? Da wird einmal für den Kapitalmarkt gepusht, und dann stürzen sich alle Deutschen auf die T-Aktie von Ron Sommer – und fliegen voll auf die Nase. Wenn nur die Hälfte der 300 Milliarden Euro, die auf schlecht verzinsten österreichischen Sparkonten herumliegen, seit 2008 in den MSCI investiert worden wäre, dann hätten die Österreicher heute das Dreifache davon. Aber den Leuten fällt das nicht einmal auf. Dazu kommt, dass unsere kapitalgedeckten Pensionssysteme – die Vorsorgekassen – aufgrund politischer Kompromisse so unfassbar schlecht aufgesetzt sind, dass sie ebenfalls seit 20 Jahren Geld verlieren.
Enrico Letta spricht statt von einer Kapitalmarkt- von einer Spar- und Investmentunion. Ist das zielführend?
Ja. Damit kann ich leben.
Sollen wir aus Europa Amerika machen?
Das ist immer das Argument der Linken: In Amerika schaut es auch nicht sehr viel besser aus. Nein, es geht um den Mittelweg. Amerika ist zu 75 Prozent kapitalmarktfinanziert, Europa zu 25 Prozent, ideal wären für uns 50 Prozent.
Aber noch ein letztes Mal: Warum sollte das jetzt klappen?
Es haben noch nie so viele Leute in Europa über den Kapitalmarkt geredet. Finanzminister Brunner hat sich in Österreich wirklich, ernsthaft und aufrichtig bemüht. Er versucht, den Mist, den Faymann zu verantworten hat, wegzuräumen – Kurz hat in diesem Bereich genau gar nichts gemacht. Bei den Grünen beißt er sich leider die Zähne in Sachen KESt-Freiheit bei der Behaltefrist aus.
Was wäre die ideale Regierungskonstellation nach den Nationalratswahlen, um den Kapitalmarkt und die Kapitalmarktunion zu pushen?
Die Neos haben bei diesem Thema sicher das klarste Profil, in der ÖVP beginnen jetzt wieder mehr Leute, sich darum zu kümmern. Von der SPÖ bin ich nicht beeindruckt, von der FPÖ habe ich nicht viel mitgekriegt, aber vielleicht schlummert da Großartiges. Die wirtschaftspolitischen Positionen der Grünen finde ich sehr enttäuschend. Sie agieren populistisch und nicht sachpolitisch.
Also reden wir nicht von „Stunden der Wahrheit“, sondern eher von „Jahrzehnten der Wahrheit“.
Es geht um einen Kulturwandel. Und ja, so etwas dauert wahrscheinlich lange. Da ich einer Organisation angehöre, die an der Kultur mitgewirkt hat, finde ich, dass wir da eine gewisse Verantwortung tragen, darüber aufzuklären, dass sich das ändern muss.
Das Interview mit Andreas Treichl stammt aus der trend. Edition+ vom August 2024.
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