Andreas Babler ruft vom schmählichen 3. Platz bei der EU-Wahl jetzt tolldreist einen Dreikampf um die Nr. 1 aus. Weil die SPÖ im Herbst noch mehr nach links (Richtung KPÖ) und nach rechts (Richtung FPÖ) auszurinnen droht, gehen auch seine mächtigen Bündnispartner in der Wiener SPÖ zunehmend auf Distanz. Und schmieden Pläne für Zeit nach der Nationalratswahl – ohne Babler.
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Mal zu Tode betrübt, mal zu himmelhoch jauchzend - das wird im profanen Leben Menschen mit Depressionen nachgesagt. Zwischen tiefer Trauer und unbändigem Jubel können auch größere Menschengruppen binnen weniger Stunden schwanken.
Im Fall der ÖVP lagen zwischen dem Gefühl, nun endgültig ins Bodenlose zu fallen, und der grenzenlosen Erleichterung, dass es dann doch ganz anders kam, nicht einmal ein ganzer Tag.
Am Vortag des EU-Wahlsonntags hatte Franz Sommer, Haus- und Hof-Meinungsforscher der ÖVP sowie Chef der “Arge Wahlen” in der ÖVP-Zentrale die schlimmsten Befürchtungen noch bestärkt. Umfragen diverser Institute hatten schon Wochen davor signalisiert, dass die Kanzlerpartei damit rechnen muss, mehr als zehn Prozentpunkte zu verlieren. Und mit einem EU-Wahl-Ergebnis von knapp über 20 Prozent vom ersten auf den dritten Platz hinter der SPÖ abzustürzen.
24 Stunden vor dem Wahlgang bereitete der bürgerliche Demoskop die Parteiführung last minute auf einen möglichen worst case vor: Der ÖVP drohe unter 20 Prozent und damit jene Marke abzustürzen, an die sich die Funktionäre intern zuletzt psychologisch als politisches Existenz-Minimum geklammert hatten. Das wäre ein Wahl-Desaster mit allen Ingredienzien für wochenlang negative Schlagzeilen und interne Querelen.
ÖVP feiert Absturz auf "nur" 10 Prozent als "Wahlsieg"
Als dann Sonntag Nacht endgültig feststand, dass die drei Mittelparteien nicht nur weitaus enger beieinander als in Umfragen prophezeit im Ziel einliefen, sondern die ÖVP mit 24,5 Prozent gar auf Platz 2 landete, brach in der ÖVP nicht nur auf offener TV-Bühne Jubel aus. Der Verlust von 10 Prozentpunkten wurde wie ein unverhoffter Wahlsieg gefeiert.
Was nach außen hin total paradox wirkt, entspricht dieser Tage tatsächlich der Gefühlslage im ÖVP-Regierungsviertel. Mandatare, Minister und Mitarbeiter waren innerlich bereits am Kofferpacken. Die schwarzen Strategen nutzen das EU-Wahlergebnis nun nicht nur für eine Schubumkehr der Gefühle nach nach innen, sondern auch für eine öffentliche Offensive:
Hurra, wir leben noch.
ÖVP-Chef Karl Nehammer präsentierte sich noch am Wahlabend - wie zuletzt bei Amtsantritt vor zwei Jahren - als “lernender Kanzler” und platzierte die Message: Ich habe die Botschaft des Wählers verstanden.
Der kurzen Demutsgeste folgte ein Interviewreigen auf allen verfügbaren Medienkanälen, der Stärke und Entschlossenheit signalisieren soll.
Nehammers Demutsgeste und Verdrängungs-Offensive
Der Amtsinhaber am Ballhausplatz will nicht nur rasch vergessen machen, dass der ÖVP am vergangenen hunderttausende Wähler den Rücken kehrten. Und nun auch bei der erstem bundesweiten Testwahl auch amtlich wurde, dass die türkis-grüne Regierung viereinhalb Jahre nach Amtsantritt zwei Drittel der Österreicher gegen sich hat.
Mit markigen Ansagen in Sachen Asyl- und Migrationspolitik sucht der Ex-Innenminister dennoch weiter unverdrossen den Blauen Wasser bei ihrem größtem Erfolgsthema abzugraben.
Die Aussichten, damit das erfolgreiche Echo der Remigrations-Rhetorik der Blauen zu dämpfen, halten auch ÖVP-Spitzenleute für beschränkt. Eines ist Nehammer seit dem schlechtesten EU-Wahlergebnis aller Zeiten für die ÖVP aber gelungen: Internes oder gar öffentliches Gemurre gegen den Parteichef und seinen Regierungskurs sind trotz des Minus von 10 Prozentpunkten kaum auszumachen.
In den schwarz-türkisen Reihen dominiert das Gefühl der Erleichterung. Das stärkt den Glauben, nach dem 9. Juni nun auch am 29. September als Zweiter durchs Ziel gehen zu können.
Katerstimmung in der SPÖ
Mehr Gemurre denn je gegen die Parteiführung und Katerstimmung gehen aber in jener Partei um, die knapp einen Prozentpunkt bei EU-Wahl verloren hat. “Das was Andreas Babler bei seiner ersten bundesweiten Wahl erzielt hat, hätte sogar Pamela Rendi-Wagner noch übertroffen”, kommentiert ein SPÖ-Spitzenmann gallig.
Die SPÖ konnte als einzige und noch dazu größte Oppositions-Partei vom Absturz der türkis-grünen Regierungsmehrheit um insgesamt 15 Prozentpunkte nicht nur mit keinem Promille profitieren. Die Sozialdemokraten haben mit knapp über 23 Prozent auch das schlechteste Wahlergebnis aller Zeiten eingefahren. Ein Jahr nach dem Amtsantritt von Andreas Babler als Parteichef kommt die SPÖ zudem erstmals auf dem schmählichen dritten Platz hinter Blau und Schwarz-Türkis zu liegen.
Babler auf Rendi-Wagners Spuren: Die Richtung stimmt
Babler gab tolldreist noch am Wahlabend die Formel aus: "Die SPÖ hat sich stabilisiert und die Aufholjagd geht weiter. Wir werden im Herbst als Erste über die Ziellinie gehen. Ich bin angetreten, um an der FPÖ vorbeizuziehen.”
Die bemühte Parole erinnerte nicht nur burgenländische Widersacher an die fatale Aussage von Pamela Rendi-Wagner vom Wahlabend 2019 (angesichts des Absturzes auf 22 Prozent, statt befürchtet noch tiefer): “Die Richtung stimmt”.
Der Glaube an diese Babler-Ansage verwelkt parteiintern so rasch wie der Berg an Schnitzelsemmeln, der bei der Nachwahl-Party am vergangenen mangels ausreichend Appetit und Teilnehmern keine Abnehmer fand.
“Dass jetzt SPÖ, FPÖ und ÖVP auf Schlagdistanz zueinander zu stehen kamen und so ins Rennen für die Nationalrat gehen, das kann man nach außen hin schon sagen. Nur darf man es selber nicht glauben”, sagt ein erfahrener SPÖ-Wahlkämpfer: “Aber diese Sichtweise wird auch in den Chat-Gruppen der Babler-Leute verbreitet und zur Grundlage der Wahlanalyse und der Strategie für die Nationalratswahl gemacht.”
Der Frust ob des miserablen roten Wahlergebnisse und der mangelnden Fehler-Einsicht entlud sich daher diesen Montag nachmittag bei den Sitzungen von Präsidium und Parteivorstand in den Räumen des SPÖ-Parlamentsklubs “so offen wie schon lange nicht”, so ein Spitzengenosse.
Rote Manöverkritik: "Ist uns schon wurscht, dass 40 Prozent der Arbeiter FPÖ wählen?"
Dabei prallten einmal mehr die konträren Sichtweisen in der SPÖ, die trotz gegenteiliger Appelle mehr denn je in unversöhnliche Lager gespalten ist, aufeinander. Die Anhänger des linken Babler-Kurses postulierten schon am Wahlabend neuerlich: Das Wahlergebnis habe gezeigt, dass der Wähleraustausch zuvorderst innerhalb des türkis-blauen Lagers stattfinde, dieses neuerlich gefestigt und für die SPÖ nicht zu knacken sei. Die SPÖ müsse daher noch mehr tun, um links der Mitte bei Grün und Neos nach Stimmen zu fischen.
“Ist uns schon wirklich wurscht, dass jetzt schon vierzig Prozent der Arbeiter FPÖ wählen?”, platzte dem burgenländischen SPÖ-Klubobmann Roland Fürst darob im Parteivorstand offenbar der Kragen.
Der enge Vertraute von Hans Peter Doskozil musste dafür postwendend vor allem Kritik für jüngste Wortmeldungen von Burgenlands Landeshauptmann einstecken.
Bis zur Nationalratswahl im Herbst sollte zwar "nun aber schon Ruhe" sein, ließ Doskozil am Tag nach der Wahl wissen. Danach würden sie aber die Verantwortlichen "rechtfertigen" müssen - im positiven oder im negativen Sinne.
Nicht nur die Bableristen empfanden das als Eröffnung des Countdowns zur Überreichung der seidenen Schnur an den amtierenden Parteichef.
Rotes Asyl-Dilemma wird neu aufgekocht
Einzig faktisches Ergebnis der SPÖ-Parteivorstands-Sitzung: Andreas Babler will nun just jenes gemeinsame Papier, das die beiden roten Antipoden Peter Kaiser und Hans Peter Doskozil in Sachen roter Asyl- und Migrationspolitik einst im Auftrag von Christian Kern verfasst hatten, “nachschärfen” und “refreshen” lassen.
Vom 2018 vorgelegten vielseitigen Kompromiss-Papier des widerstrebenden Gutmenschen- und Hardliner-Lagers in der SPÖ blieb nur ein Schlagwort nachhaltig hängen: “Integration vor Zuzug”.
Ein Bundesländer-Spitzenfunktionär kommentiert das Projekt, die mühsam gekitteten internen Spannungen neu aufleben zu lassen, mit großer Skepsis: “Was soll da herauskommen außer Streit. Im besten Fall kommt nix dabei raus.”
Roter Plan B – ohne Babler
Hinter den Kulissen rüsten längst nicht nur die Burgenländer für den Tag nach der Nationalratswahl. “Die Suche nach dem Plan B hat längst begonnen”, sagt ein roter Spitzenmann. Sprich: Wie kann die SPÖ mit oder ohne Babler zurück in die Regierung kommen und danach auch die Machtverhältnisse in der Partei neu aufstellen.
Am Projekt “Back to power” wird vor allem von der Wiener SPÖ seit Monaten gearbeitet. Ludwig & Co lassen daher schon lange ihre Drähte in Richtung Wirtschaft und ÖVP spielen, um für die Zeit nach der Wahl eine Renaissance der rot-schwarzen Zusammenarbeit (notwendigerweise wohl mit einem dritten Partner im Bunde) zu sichern - mit oder ohne Andreas Babler im Regierungsteam.
Ludwig setzt auf freundschaftliche Achse Hanke-Nehammer
Ludwig & Co setzen dabei auf die bereits jetzt existierende starke freundschaftliche Achse zwischen Wiens SPÖ-Wirtschafts- und Finanzstadtrat Peter Hanke und ÖVP-Chef Karl Nehammer.
Die Rathaus-Genossen haben zwar einst Babler in den Parteisattel verholfen, um Doskozil zu verhindern. Sie mussten aber rasch und schmerzhaft lernen, dass der Traiskirchner Bürgermeister in Sachen Politik nach wie mehr auf seine Frau als auf den Wiener Bürgermeister hört.
“Die Wiener sind echt angepisst, dass sich Babler ihnen entzieht”, sagt ein Bundesländer-Genosse, der nicht aus dem Burgenland kommt. “Der Zauber des Anfangs ist bei Babler verflogen und es gibt auch keine Aussichten, dass sich ein positiver Babler-Effekt für die SPÖ noch einstellt.”
SPÖ in der Basis-Votum-Falle
Auch Babler-kritische SPÖ-Insider geben aber zu bedenken: Viele, die glauben Babler nach einer zudem missglückten Nationalratswahl rasch loswerden zu können, würden übersehen, dass ein Chefwechsel in der SPÖ nicht mehr handstreichartig wie zuletzt etwa der von Gusenbauer zu Faymann, von Faymann zu Kern oder von Kern zu Rendi-Wagner über die Bühne gehen kann.
Nach den neuen Statuten entscheiden die Mitglieder in einer Urabstimmung über den Parteichef. Die SPÖ stecke seit der Amtsübernahme durch Babler in einer Art Zauberlehrlings-Falle, so ein SPÖ-Mann: “Wenn der Andi nicht gehen will, wie wollen dann seine Gegner den Geist wieder zurück in die Flasche bekommen?”
Ein langjähriger Kenner des SPÖ-Chefs meint gar: "Der Babler wird sich noch als der größte Sesselkleber entpuppen. Er hat ja sonst nix."
SPÖ-Stratege: "ÖVP gelang mit EU-Wahl Turn-Around. Uns fehlt weiter eine moderne Erzählung"
Eines ist unter führenden Genossen aber im Lichte des Wahlergebnisses vom 9. Juni aber weitgehend unumstritten. “Es hat sich bei der EU-Wahl manifestiert, dass uns seit Jahren nicht gelingt dem Wähler zu vermitteln, warum er die SPÖ wählen soll. Die ÖVP ist mit diesem Ergebnis bei der EU-Wahl dabei es es zu schaffen, sich nach den sehr schweren Turbulenzen im Gefolge des Kurz-Abgangs als halbwegs geheilt und wieder erfangen zu präsentieren.”
Pointiertes Resüme eines SPÖ-Strategen:
"Der ÖVP gelang mit EU-Wahl der politische Turn-Around. Uns fehlt weiter eine moderne Erzählung"
Die Ausgangslage für die Nationalratswahl am 29. September werten SPÖ-Strategen abseits dessen generell als noch schwieriger als jene für die jüngste EU-Wahl: “Mit der Bierpartei und den Kommunisten haben wir eine noch verschärfte Situation für uns. Aus Umfragen wissen wir, dass zwei Drittel bis drei Viertel der Stimmen für die Bierpartei von der SPÖ kommen.” Und, so ein in mehreren Wahlkämpfen gestählter roter Spitzenmann: “Kickl ist kein Vilimsky. Nehammer ist nicht Lopatka. Ich fürchte aus diesem Match geht Babler dann mit unter 20 Prozent heraus.”
Alarmstimmung in roten Hochburgen: "SPÖ rinnt nach links Richtung KPÖ und nach rechts Richtung FPÖ aus"
Neu alarmiert hat SPÖ-Spitzenleute auch der noch frische Blick auf einzelne Wahlergebnisse in Wien. Die ob ihrer Dominanz stolze Rathaus-Partei musste in roten Hochburgen wie Favoriten und Simmering nicht nur überdurchschnittliche Einbrüche von bis zu minus 5 Prozent der Stimmen hinnehmen. Gleichzeitig übersprangen in Favoriten und Simmering die Kommunisten erstmals mit Zuwächsen von über drei Prozent spielend die Vier-Prozent-Hürde. In Floridsdorf kratzen sie bereits knapp daran.
“Die Wiener SPÖ rinnt sowohl nach rechts Richtung FPÖ weiter aus. Sie verliert nun gleichzeitig auch noch Richtung links zur KPÖ aus. In manchen Wahlsprengeln in Favoriten kommt sie schon auf zehn bis fünfzehn Prozent”, resümiert ein besorgter Genosse.
In der burgenländischen SPÖ, sagt zudem ein Doskozil-Mann, würde sich daher immer öfter Wiener Funktionäre melden und die “Alarmstufe dunkelrot” ausrufen. Verbunden mit dem Wunsch, etwas gemeinsam gegen den für die SPÖ bleiernen Babler-Kurs zu unternehmen.
Die Rolle des tragischen Helden in einer Dolchstoß-Legende scheint derzeit freilich niemand übernehmen zu wollen.