Der ehemalige Raiffeisen-Generalanwalt CHRISTIAN KONRAD, viele Jahre der mächtigste Wirtschaftslenker Österreichs, wurde dieser Tage 80. JOSEF VOTZI hat mit ihm über Erfolge, Niederlagen, das "Abnormale" an der Normal-Debatte, den Vorzeigebürgermeister Andreas Babler und die fehlende "Persönlichkeitsbildung" bei Sebastian Kurz gesprochen.
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Herr Doktor Konrad, Sie sind kürzlich 80 geworden. Sie sind zwar schon seit elf Jahren offiziell in Pension, aber nach wie vor tätig. Ist das so korrekt formuliert?
Nur noch ehrenamtlich. Ich habe in meinem Leben sehr viel Glück gehabt und möchte davon einiges über meine Tätigkeiten für das Gemeinschaftsleben und Hilfsorganisationen zurückgeben. Ich hatte das Glück, in Österreich, noch dazu in eine christlich-bürgerliche Familie hineingeboren zu sein, die mir die Werthaltungen mitgegeben hat. Und einen Beruf zu haben, wo ich mich mit dem gedanklichen Hintergrund, dem Fördergedanken des Genossenschaftswesens, sehr stark identifizieren konnte. Betriebswirtschaft, ja selbstverständlich. Aber die Wirtschaft ist für die Leut' da und nicht umgekehrt. Das ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Großes Glück hatte ich auch mit meiner Ehe, den beiden Töchtern und mit deren Familien. Auf meine vier Enkelkinder bin ich besonders stolz. Auch in meiner Laufbahn hatte ich viel Glück. Meine Chefs waren 17 bis 20 Jahre älter als ich. Ich bin daher bald in die Phase gekommen, wo es weiter bergauf ging.
Wenn sich ein Personalchef heute Ihren Lebenslauf anschauen würde, würde er nachdenklich den Kopf wiegen: Jahrzehntelang bei der gleichen Firma? Flexibel genug?
Ja, das stimmt. Allerdings hat Raiffeisen unglaubliche Möglichkeiten geboten, zum Teil habe ich die auch mitentwickelt. Die wichtigste Herausforderung im Bankgeschäft war die Veränderung der Struktur der Raiffeisenkassen – es gab zu viele kleine Betriebsgrößen, also die Fusionen und die beginnende Digitalisierung. Ähnliches galt auch für die Lagerhäuser, die Molkereien und die Winzergenossenschaften. Neben dem Bankgeschäft haben mich viel mehr Unternehmensbeteiligungen interessiert, also den Wirtschaftsraum zu gestalten. Es gab in den 80er-Jahren sehr viel wirtschaftliche Bewegung, da konnte ich quasi aus der zweiten Reihe sehr viel erlernen. Etwa bei den Medien gab es Handlungsbedarf bei "Kurier" und " Krone" – mit Hilfe der WAZ (heute Funke) wurde die gemeinsame Verlagsgesellschaft Mediaprint gegründet – als österreichischer Verlag mit internationaler Beteiligung. Raiffeisen behielt im "Kurier" die Mehrheit. Die Verträge gelten heute unverändert. Zu all dem hatte ich das Vertrauen meiner Chefs, die mich arbeiten ließen. Ebenso kam es bei der Agrana (Zucker, Stärke, Frucht) und der RWA (Dachverband der Lagerhäuser) zu internationalen Beteiligungen unter der Wahrung der österreichischen Mehrheit – die Unternehmen waren damit langfristig strategisch abgesichert. Eine besondere Herausforderung war die Strukturbereinigung im Baugeschäft. Mit der Strabag hat die Familie Haselsteiner einen international angesehenen Baukonzern geschaffen, Raiffeisen konnte dabei mithelfen.
Neben all diesen wirtschaftlichen Aktivitäten gab es Aufgaben in Wissenschaft (Ludwig Boltzmann Gesellschaft), der Kultur (Albertina), die Restaurierung von Mariazell und die Positionierung des Jagdverbands in einer zunehmend kritischeren Gesellschaft. Klarerweise war auch der Sozialbereich immer wichtig – die Gruft der Caritas und die Schaffung der Concordia für die Straßenkinder Osteuropas. Raiffeisen hat sich in dieser Zeit sehr geöffnet und ist damit aber auch stärker geworden. Die dezentralen kleinen grünen Zwerge, kein grüner Riese, wurden zu einem Faktor in Wirtschaft und Gesellschaft.
Sie haben sich auch den Ruf eines der hinter den Kulissen wirklich Mächtigen erarbeitet. Wo würden Sie sich selber in diesem Netzwerk der informell Mächtigen einordnen?
Ich habe immer gesagt, ich habe keine Macht. Ich habe Vollmachten.
Das ist aber nur eine sehr kokette Umschreibung der Realität.
Na ja, Moment, ich wollte damit sagen: Wenn du gewisse formelle Funktionen hast, dann werden deine Argumente ganz anders gehört, als wenn du sie nicht hast. Argumente des Präsidenten zählen viel mehr als Argumente eines Prokuristen. Wenn man das oft genug erlebt, führt das dazu, dass man sich mehr Sachen zumutet und traut. Allerdings unter dem Prätext, alles, was ich mache, sollte ich erklären können. Es muss ja nicht jeder alles wissen, was ich mache. Aber für den Fall, dass ich autorisiert gefragt werde – also nicht von irgendwem, sondern gesellschaftsrechtlich autorisiert –, dann muss ich das erklären können.
Ein Symbol Ihrer Macht war das jährliche Sauschädelessen im Raiffeisenhaus am ersten Arbeitstag im neuen Jahr. Dort war alles, was in Österreich Rang und Namen hat.
Das war ein Phänomen. Beim ersten Sauschädelessen 1991 waren 70 Leute eingeladen. Das ist dann bald explodiert auf zuletzt mehr als 350 Leute. Das war nicht primär an Kunden gerichtet – es waren auch welche da –, sondern an Menschen aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Ich habe immer das Prinzip gehabt: Ich lade ein, wen ich sympathisch finde, und nicht, wen ich muss. Daher waren manche Teile der Politik und der Gesellschaft nicht auf der Einladungsliste.
Wie zum Beispiel Politiker der FPÖ, die man bei Sauschädelessen vergeblich mit der Lupe hätte suchen müssen.
Stimmt.
Bei aller Machtfülle, wo haben Sie Niederlagen einstecken müssen und sind mit wichtigen Vorhaben gescheitert?
Bei der Struktur im Finanzbereich, beim Projekt der österreichischen Privatisierung der CA – an der Politik gescheitert. Als weiteres Projekt wollte ich die beiden dezentralen Sektoren, also die Sparkassen und den Genossenschaftssektor, stärken. Nicht durch eine Fusion im Inland, sondern dadurch, dass die Spitzeninstitute im Ausland gemeinsam auftreten. Dazu kam es leider nicht. Zusammengebracht haben wir mehr Kooperation im Versicherungsbereich. Damit gibt es jetzt mit Uniqa und VIG zwei starke österreichische Unternehmen.
Sie haben in Interviews zuletzt auch angemerkt, dass Raiffeisen in turbulenten Zeiten wie diesen vor neuen Bewährungsproben steht. Auch wenn Sie aus Prinzip nicht über Ihre Nachfolger reden wollen: Ist Raiffeisen ausreichend für die Zukunft gerüstet?
Der Punkt ist der: Raiffeisen muss sich mit seiner Genossenschaftsidee in regelmäßigen Abständen auf seine Wurzeln besinnen. Woher kommen wir, wozu machen wir das? Das geht sonst in der Hektik des Tagesgeschäfts verloren.
Diese Rückbesinnung auf die Grundidee gelingt weiterhin ausreichend?
Das gelingt. Schwieriger wird das immer mehr bei der internationalen Tätigkeit. Die Raiffeisen Bank International ist eine internationale Bank, die zwar auch Raiffeisen heißt. Es gibt auch ein paar Leute, vor allem an der Spitze, die wissen, was das bedeutet. Aber die Identifikation der Raiffeisenkasse am Land mit der RBI ist vermutlich eine geringe.
Alle Ihre Funktionen sind längst nachbesetzt. Hinter vorgehaltener Hand heißt es in-und außerhalb des Sektors: "Einen Christian Konrad gibt es bei Raiffeisen nicht mehr."
Es hat vorher Leute gegeben, es gibt nachher Leute in Führungsfunktionen. In meiner Zeit hat es zufälligerweise eine Konstellation gegeben, dass mehrere Funktionen in einer Hand waren. Zwischenzeitlich sind die Aufgaben und Herausforderungen etwa durch die Regulierung des Bankwesens so gewachsen, dass das gar nicht mehr möglich wäre. Daher war es gut und richtig, diese Funktionen aufzuteilen. Raiffeisen ist ja an sich gut unterwegs. Vor über 30 Jahren hat Raiffeisen begonnen, sich in Osteuropa zu engagieren, zuletzt auch in der Ukraine und Russland. Dafür wurden wir lang beneidet – seit Putins Angriff auf die Ukraine werden wir kritisiert bis beschimpft. Die weitere Entwicklung der Tochterbank in Russland hängt aber ausschließlich an politischen Entscheidungen Russlands. Das macht es für uns nicht einfach und vielleicht haben wir das auch zu wenig deutlich erklärt. Die letzten Entscheidungen bei Danone und Carlsberg haben dies deutlich gemacht.
Waren wir alle zu naiv im Umgang mit Russland?
Ja, wir waren alle zu naiv. Das war ein Fehler, von der Politik bis zu Wirtschaft und Gesellschaft.
Ihre Generation ist mit der Aussicht aufgewachsen, dass es immer aufwärts geht. Jetzt stehen die Zeichen permanent auf Krise und Umbruch. Sind die fetten Jahre in Europa vorbei?
Die fetten Jahre sind zunächst vorbei. Das ist so. Was nicht heißt, dass es schlechter werden muss. Wie heißt es so schön? Damit alles so bleibt, wie es ist, müssen wir alles verändern. Wir müssen vieles neu denken. Wenn ich mir anschaue, wie schwierig es ist, etwa im Bereich Umwelt wirklich etwas zu bewegen. Alle reden davon, dass wir angesichts der Hitze und Brände unser Urlaubsverhalten ändern müssen. Aber tun wir es? Wir gehen auf andere, schwierigere Zeiten zu. Aber das ist kein Grund, schwarzzumalen. Was mir mehr Sorgen macht: Es gehen uns in zunehmendem Maß Respekt, Achtung und Rücksichtnahme aufeinander ab – die Gesellschaft ist polarisiert.
Was war oder ist der Auslöser dafür?
Ich glaube, das hat mit dem Jörg Haider angefangen, der begonnen hat, die Politik lächerlich zu machen. Die Journalisten sind dem gefolgt. Das ist dann immer schlimmer geworden mit dem Fehlen des wechselseitigen Respekts. Die jetzige Debatte über Normalität ist mir völlig unverständlich. Wir haben andere Sorgen.
Aber hat Johanna Mikl-Leitner mit ihrem Plädoyer für die Normaldenkenden recht?
Wenn ihre Wortmeldung politisch-strategischen Charakter hatte, dann werden wir das am Ergebnis der nächsten Wahlen feststellen.
Um es in einem Satz zu sagen: Die Normal-Debatte finden Sie abnormal?
Ja, die finde ich abnormal.
Dass die ÖVP nun in Ihrer Heimat Niederösterreich mit der FPÖ koaliert ...
Das hat mich sprachlos gemacht. Ich glaube aber nicht, dass es Jux und Tollerei war, die dazu geführt hat. Jetzt muss man damit umgehen und der FPÖ im Fall des Falles auch die politischen Grenzen klar aufzeigen.
Die Bundes-ÖVP sagt nun offensiv Nein zu einer Zusammenarbeit mit Herbert Kickl, aber nicht Nein zu einer Koalition mit der FPÖ. Ist das realistisch und glaubwürdig?
Nein, denn es ist nicht zu erwarten, dass die FPÖ, wenn sie ein gutes Ergebnis einfährt, dann ihren Parteiobmann hinausschmeißt. Dann aber hat es die ÖVP leicht, die Option scheidet aus.
Rechnen Sie nach Niederösterreich auch im Bund mit Schwarz-Blau oder gar Blau-Schwarz?
Das will ich nicht glauben, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass die FPÖ im Ernstfall die meisten Stimmen bekommt.
Sie glauben, dass die "Normal"-Kampagne ausreichend Früchte trägt?
Nicht die Normal-Kampagne, sondern ein Satz, den mein Freund Michael Häupl einmal über die Wiener Wähler gesagt hat: "Mein Wien ist ned deppert." Ich glaube vielmehr, die Österreicher sind nicht so, dass sie Kickl zur Nummer eins machen.
Sie sind weiterhin in der Flüchtlings-und Migrationspolitik sehr engagiert. Warum ist das Thema nach wie vor derart emotionell besetzt, obwohl wir dringend Zuwanderung brauchen?
Das hängt sehr stark an der Politik. Ich habe mehrfach empfohlen, Leute wie Gerald Knaus einzubinden, die mit dem Thema Flucht und Migration sehr vernünftig, weil auch pragmatisch umgehen. Das ist an den Reflexen im Innenministerium gescheitert, die immer noch lauten: Wir schotten uns ab und schicken möglichst alle zurück. Wobei ich glaube, dass zum Beispiel der derzeitige Innenminister Gerhard Karner kein Stahlhelm ist. Der aber von seinem Umfeld so geprägt und getrieben ist, dass es dann wie unter seinem Vorgänger Karl Nehammer heißt: Auch zwölfjährige Kinder müssen abgeschoben werden, weil wir rechtlich keine andere Möglichkeit haben. Obwohl es natürlich auch andere rechtliche Möglichkeiten gegeben hätte.
Mein Eindruck ist: Sobald politische Überlegungen ins Spiel kommen, setzt derzeit oft die menschliche Vernunft aus. So merkwürdig das heute vielleicht klingt: Einer, der wirklich vernünftig mit dem Thema umgegangen ist, ist Andi Babler. Er hatte als Bürgermeister in Traiskirchen die höchste Belastungsquote an Flüchtlingen. Er hat nicht nur seinen eigenen Heurigen ausgeräumt, dort Flüchtlinge schlafen lassen und eine Zeit lang halt kein Geschäft gemacht. Er hat in seiner Gemeinde auch für einen vernünftigen Umgang geworben. Bei meinen Bürgermeisterkonferenzen als Flüchtlingskoordinator war er daher einer der Hauptredner. Wenn ein Bürgermeister einem anderen sagt, wie das mit den Flüchtlingen gehen kann, ist das ganz etwas anderes, als wenn ein Regierungsmitglied oder ein Regierungsbeauftragter wie der Flüchtlingskoordinator das tut. In dieser Frage ist Andi Babler wirklich ein Vorbild. In einigem anderen teile ich nicht seine Meinung.
Noch einmal zurück zu Ihrer politischen Gesinnungsgemeinschaft, der ÖVP: Sie waren ein sehr früher Fan und Förderer des Sebastian Kurz ...
Ja, er war ein unglaubliches politisches Talent.
Wie sehen Sie Kurz heute?
Arm, sehr arm. Das, was zu befürchten war, ist dann eingetreten: Er hat zwar eine riesige Karriere gemacht und die Droge Politik in vollen Zügen eingenommen. Was ihm total gefehlt hat, war Persönlichkeitsbildung, Erfahrung in der Einschätzung von Menschen. Erhard Busek hat nach einem Gespräch mit ihm gesagt: "Es ist eigentlich unglaublich, was Kurz alles nicht weiß." Vieles konnte er aufgrund seines Alters einfach noch nicht an Erfahrungswissen haben.
Ich habe ihm nach seinen ersten paar Jahren als Integrationsstaatsekretär nach der Wahl 2013 gesagt, er möge eine Auszeit nehmen, um sein Studium zu beenden und einen Beruf zu erlernen. Wir hatten 2015/2016 dann ordentliche Meinungsverschiedenheiten über seine Art der Politik gegenüber Flüchtlingen. Kurz hatte damit sichtlich keine Freude und ist bald zu den Regierungssitzungen nicht mehr erschienen. Seither gibt es keinen Kontakt. Ich gehe ihm nicht aus dem Weg, er mir auch nicht. Aber wir haben keine Treffpunkte.
In der ÖVP träumen nicht wenige von einem Comeback von Kurz nach Klärung der Justiz-Causae. Ist das wünschenswert und realistisch?
Da schließe ich mich meinem Freund Erwin Pröll an: "Fort ist fort."
Herr Doktor Konrad, danke für das Gespräch.
Zur Person
Steckbrief
Christian Konrad
CHRISTIAN KONRAD, geb. 1943, wurde in Wolkersdorf in Niederösterreich geboren, besuchte in Laa an der Thaya das Gymnasium und studierte Jus in Wien. 1969 begann er bei der Raiffeisenlandesbank Niederösterreich-Wien. Er schmiedete aus der biederen Genossenschaftsbank ein Imperium aus Banken, Versicherungen, Bauindustrie, diversen anderen Beteiligungen und Medien. Von 1994 bis 2012 war Konrad Generalanwalt des Österreichischen Raiffeisenverbandes. Allein die Bankengruppe trug beispielsweise 2015 zwei Prozent zum BIP bei.