Die obsessive Auseinandersetzung mit dem, was die Welt im Innersten zusammen hält, hat ihn stets beflügelt: Hannes Androsch ist im 87. Lebensjahr gestorben. trend-Redakteur Bernhard Ecker hat ihn in der letzten Dekade aus nächster Nähe kennen gelernt.
Das nächste gemeinsame Buchprojekt sollte im Jänner 2025 beginnen, in einem Telefonat skizzierte er mir erste Gedanken, worum es gehen sollte: den Zusammenhalt Europas. „Wir müssen klar machen, dass die Verzwergung zum Zerfall führt“, kommentierte er in Richtung der populistischen antieuropäischen Kräfte.
Die Anrufe von Hannes Androsch kamen in unberechenbaren Rhythmen, und sie waren stets unberechenbaren Inhalts. „Schauen Sie sich heute Seite sechs der ,FAZ‘ an, es geht um die amerikanisch-chinesischen Beziehungen.“ „Ich schicke Ihnen ein Buch vorbei, da sind Schlüsselüberlegungen zur Roboterisierung und Digitalisierung drin.“ „Wir sollten uns Gedanken über das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 machen, es erklärt so vieles, was im Nahen Osten derzeit geschieht.“
Von seinen 86 Lebensjahren habe ich den früheren Finanzminister, Vizekanzler und Generaldirektor der Creditanstalt die letzten zwölf Jahre aus Nahdistanz miterlebt. Nach seinem ersten Leben als Politiker und dem zweiten als Banker wird diese Phase als erfolgreicher Industrieller und Citoyen, der sich mit Büchern, Zeitungskommentaren oder auch in Rollen wie jener des Bildungsvolksbegehren-Initiators permanent in die öffentliche Sphäre einmischt, vielleicht als seine beste in die Geschichtsbücher eingehen.
Polarisiert hat er bis zuletzt, auch weil er auf sein Umfeld noch weniger Rücksicht nahm als früher. Obwohl er als Aufsichtsratschef des Austrian Institutes of Technology (AIT) – bis 2021 – und als Vorsitzender des Rats für Forschungs-und Technologieentwicklung von der Gunst der Politik abhängig war, kritisierte er häufig offen den Budgetentwurf des Finanzministers – keiner konnte das mit dieser Kompetenz und Wortgewalt. Jenen, die forderten, man solle die Regierung von Sebastian Kurz doch an ihren Taten messen, schleuderte er mit Seelenruhe entgegen, er könne sie bisher nur an ihren Untaten messen. Mit seiner eigenen Partei ging er genauso hart ins Gericht.
Messerscharf, streitbar, höchst aktiv – in den letzten Jahren war Androsch in Höchstform. Das hängt auch damit zusammen, dass er das Prinzip des lebenslangen Lernens fast schon bis zum Exzess kultiviert hatte.
Hannes Androsch im trend
Das Leben, eine Fact-finding-Mission
23. November 2013, Schanghai, Hyatt on the Bund, Lobby. Der renommierte Direktor des Modern Management Centers Schanghai, Yan Xiaobao, war extra für eineinhalb Stunden in das Nobelhotel gekommen, um eine Privatvorlesung für einen Österreicher zu halten. Hannes Androsch und der Wirtschaftsprofessor kannten einander schon aus mehreren Begegnungen, an diesem Vormittag ging es um ein kompaktes China-Update: die vier unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Kommunistischen Partei, sich abzeichnende Änderungen im Politbüro, die chinesisch-japanischen Beziehungen. Androsch fragte nach, notiert sich das eine oder andere und verabschiedet Yan am Ende herzlich.
Zu wissen, wohin sich das 1,3-Milliarden-Einwohner-Land entwickelt, in dem er schon zwei riesige Fabriken bauen hat lassen, war für den Hauptaktionär und Aufsichtsratsvorsitzenden von AT&S, zum Zeitpunkt der Reise 75 Jahre alt, essenziell. Er war kontinuierlich auf Achse, um sich persönlich ein Bild zu machen. In Chongqing, jenem 30-Millionen-Einwohner-Stadtungetüm im Landesinneren, wollte er in den nächsten Jahren bis zu eine Milliarde Euro investieren. Weil die winzigen Elektronikbauteile aus den chinesischen Fabriken teils in anderen Ländern verbaut werden, muss man als sorgfältiger Kaufmann über bilaterale Beziehungen ebenso Bescheid wissen wie über künftige Besteuerungsszenarien.
Androschs zehntägige Asientour, die ihn von Seoul über Beijing nach Chongqing und Schanghai geführt hat, war jedoch mehr als die Reise eines global tätigen Industriellen auf Fact-Finding-Mission: Es war die Reise eines verhinderten Weltpolitikers, der China durch die Brille von Henry Kissinger und Helmut Schmidt zu betrachten gelernt hat. Schon in Parteisitzungen der SPÖ Floridsdorf, heißt es, hat er früher demonstrativ den „Economist“ gelesen.
Und wenn es ging, holte er sich die Informationen eben direkt ab. In Beijing war 2013 ein Termin bei der Weltbank Pflicht, wo – wieder eine Privatvorlesung – darüber doziert wurde, wie sich die Ein-Kind-Politik wirklich auf die chinesische Demografie auswirken wird.
Was für ein schöner Gedanke: Beschäftigen sich alle reisenden Politiker und Wirtschaftsmenschen so gründlich mit Geschichte, Gegenwart und Zukunft ihrer Zieldestination? Bei genauerem Überlegen will man die Antwort vielleicht doch nicht so genau wissen.
„Was sagen Sie zum heutigen Martin-Wolf-Kommentar?“, fragte er mich beim Frühstück im Hyatt, es war spät geworden an der Hotelbar, vielleicht vier Stunden Schlaf – doch das ist natürlich keine Entschuldigung, Martin Wolf nicht gelesen zu haben. Androsch selbst hatte das jüngste Meinungsstück des „Financial Times“-Chefkommentators, eines leidenschaftlichen Verfechters einer liberal-demokratischen Welt-und Wirtschaftsordnung, natürlich bereits verzehrt. Und wie bei den Büchern zu Weltpolitik, Wirtschaft oder Geschichte, die er impulsiv an auserwählte Adressaten verschickte, wollte er nach dem Verzehr gleich einmal alles durchdiskutieren.
Denn anders als man meinen möchte, schätzte der ehemalige Wunderknabe der Nation den Widerspruch. Männer, die mit seiner Machtfülle ausgestattet sind – erst politisch, dann wirtschaftlich, immer mit Meinungsmacht verbunden –, tendieren im Allgemeinen dazu, sich mit Jasagern zu umgeben. Doch wenn man nicht gerade sein Feind war, war Androsch für Gegenargumente immer hellhörig und aufgeschlossen.
Vielleicht haben sich einige Ressentiments auch ganz einfach abgemildert. Seine fast reflexhafte Abneigung gegen alles „Grüne“ – jene Stimmen, die schon frühzeitig die ökologischen Kosten des Fortschritts thematisiert haben, von Zwentendorf über Hainburg bis zu den politischen Vertretern der Grünen im Parlament –, ist im Lauf der Jahre schwächer geworden. Zwentendorf nicht in Betrieb zu nehmen, jenes vom Volk in einer Abstimmung 1978 knapp abgelehnte Atomkraftwerk, hatte der damalige Vizekanzler die längste Zeit für ökonomischen und energiepolitischen Wahnsinn gehalten. In seinen letzten Büchern war jedoch mehr und mehr von Umweltzerstörung, Plastikmüll in den Weltmeeren und Klimawandel die Rede. Und daran bin nicht ich schuld, auch wenn sich durch diese Bücher unsere Wege erst gekreuzt haben.
Zwei Welten
Ich bin in einem kleinen oberösterreichischen Dorf aufgewachsen, meine kleinbäuerliche Familie war explizit nicht sozialdemokratisch. Anfang der 80er-Jahre, als ich politische Inhalte erstmals bewusst wahrzunehmen begann, war Bruno Kreisky zwar noch immer Feind, aber man hatte Respekt vor ihm. Für den Umstand, dass Kinder aus untersten Schichten nun auch die höchsten Bildungswege leichter gehen konnten, war man dem „Sonnenkanzler“ insgeheim sogar ein Stück dankbar.
Kein positives Wort wurde in diesem Landstrich hingegen, anders als in den urbanen bürgerlichen Zirkeln, über seinen langjährigen Kronprinzen verloren. Androsch, mit 32 Jahren Finanzminister geworden, war so offensichtlich himmelstürmend, Ausnahmetalent und weltläufig, dass er automatisch verdächtig war. Sein Absturz – er wurde 1988 und 1991 gerichtlich verurteilt, einmal wegen falscher Zeugenaussage im Zuge des AKH-Untersuchungsausschusses, das zweite Mal wegen Steuerhinterziehung – gab all denen Recht, die es schon immer gewusst hatten. Dass es ihm danach aber gelungen war, mit dem Kauf des staatlichen Leiterplattenwerks von AT&S den Grundstein für ein drittes, erfolgreiches Leben als Industrieller zu legen, passte nicht in die weithin herrschende katholische Moralvorstellung, dass am Boden bleiben muss, wer einmal gestrauchelt ist.
Natürlich sagte ich sofort Ja, als mich der Wiener Brandstätter Verlag, für den ich ab und zu als Ghostwriter tätig war, Anfang 2013 fragte, ob ich willens und fähig sei, binnen vier Monaten eine ältere Publikation Androschs zu überarbeiten beziehungsweise in Gesprächen mit ihm selbst aufzufrischen. Herausgekommen ist ein praktisch völlig neues Buch, „Das Ende der Bequemlichkeit“. Die chinesische Übersetzung fädelte später ein gewisser Professor Yan Xiaobao ein.
Die Zusammenarbeit war von Beginn weg freundlich und effizient, forderte aber ein Höchstmaß an Flexibilität. Nicht nur das Androsch-International-Consulting-Büro am Wiener Opernring war Knotenpunkt, sondern bei Bedarf auch Androschs Viva-Mayr-Hotel im Kärntner Maria Wörth, wo er regelmäßig kurte, oder sein Wohnhaus in Neustift am Walde. Nach geglückter Präsentation des Bandes holte er ein Projekt aus der Schublade, das dort zu verstauben drohte. Seit Längerem schwebte ihm ein Buch zum Jubiläumsjahr 2014 vor, mit historischen Beiträgen aus den verschiedensten Perspektiven, flankiert und verknüpft durch seine eigene Einschätzung zu den „großen Linien“ der Geschichte. Das stachelte meinen Historiker-Ehrgeiz an, der im überwiegend gegenwarts- und zukunftsfixierten Wirtschaftsjournalismus meist im Standby-Modus ist.
Ein Konzept dafür legte ich ihm in Schanghai auf den Tisch, in jenen Novembertagen 2013. Um die Sache zu beschleunigen, pushte er mich zum Co-Herausgeber. Im Prinzip war es Wahnsinn, erst am Ende eines Gedenkjahres, wenn das Verkaufsfenster sich praktisch schon geschlossen hat, mit einem derart anlassfixierten Buch auf den Markt zu kommen. Dennoch wurde „1814 - 1914 - 2014“ ein außerordentlicher Erfolg. Den Folgeband, „1848 -1918 -2018“, mit Ex-Bundespräsident Heinz Fischer als Co-Herausgeber, haben wir dann zeitgerecht im Dezember 2017 präsentiert.
An den 75 Jahren von Androschs Leben, die ich nicht aus der Nahdistanz kenne, erscheinen mir drei Dinge besonders bemerkenswert. Sie gehen in der Fixiertheit auf den Konflikt zwischen Kreisky und Androsch oft unter.
1973, im Jahr, nachdem ich geboren wurde, führte der junge Finanzminister flächendeckend die Individualbesteuerung ein – vermutlich seine Glanztat schlechthin. Mit diesem Schritt, der die Haushaltsbesteuerung ablöste, wurden Frauen zur Berufstätigkeit steuerlich ermutigt und waren weniger von ihren Männern abhängig. Steuerpolitisch sei Androsch ein „Vorkämpfer für die Frauenemanzipation“ gewesen, erklärte später einmal Bundespräsident Alexander Van der Bellen, ein Ökonomieprofessor. Zweitens: Eine wissenschaftlich-kritische Analyse der Steueraffäre fehlt, obwohl sie den Blick auf die Gesamtbilanz dominiert. Es gab bis zuletzt gestandene Industrielle, die Androsch genau wegen dieser Causa nicht die Hand reichten. Er selbst hält jene über 16 Jahre hinweg in Justizverfahren untersuchte Angelegenheit, die seine glänzenden ersten beiden Karrieren beendet hat, noch immer überwiegend für das Produkt politischer Verfolgung, nachzulesen in den von Peter Pelinka aufgezeichneten Lebenserinnerungen „Niemals aufgeben“. So oder so, es bleibt die bitterste Episode eines durch und durch spektakulären Lebens.
Und drittens: Dass jemand, der immer ein Feind des Mittelmaßes war, in Österreich dennoch so hoch gestiegen ist, ist schon erstaunlich genug. Dass er 40 Jahre nach seinem Fall nun als Ausnahmepersönlichkeit gefeiert wird – in der jüngsten trend-Umfrage wurde er als bestgeeignete Person genannt, um den Staat mit wirtschaftlichem Verstand zu verschlanken – ist das eigentliche Wunder seiner Karriere. Die obsessive intellektuelle Auseinandersetzung mit dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, scheint also zu beflügeln.
Im Juni 2024 vermittelte er mir einen Interviewtermin mit Herfried Münkler, dem großen deutschen Politologen. Es wurde ein Zwei-Stunden-Gespräch daraus, die meistgelesene Geschichte auf trend.at in diesem Jahr. Als ich ihm das im Sommer erzählte, huschte ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht.
Eine frühere, kürzere Version dieses Textes erschien erstmals anlässlich Hannes Androschs 80. Geburtstag 2018 im trend.