Wer EU-Untergangsstimmung verbreitet, darf sich nicht wundern, wenn Untergangsstimmung herrscht.
Neulich bei der Vollversammlung der IV Oberösterreich in Linz: Eine Blitz-Umfrage unter den rund 100 Mitglieder-CEOs ergibt, dass kein einziger den Standort EU im Vergleich zu den USA und China voranliegen sieht. Nur acht Prozent sagen, die Union liegt gleichauf. „Ich verstehe nicht, wie man jemanden, der uns an die Wand fährt, wieder zur Präsidentin machen kann“, legt IV-OÖ-Präsident Stefan Pierer in der nachfolgenden Pressekonferenz mit Blick auf die neue, alte Kommissionschefin Ursula von der Leyen nach.
Neulich beim Rasenmäher-Reparateur: Eine Düse ist verstopft, erklärt der Fachmann, schuld daran seien die Biozusätze beim Benzin. „Bio“ betont er dreimal. Von der EU komme das und von den Grünen.
Neulich beim Nachbarn am Land: Die Kinder, wird lamentiert, dürfen nicht mehr bauen, weil kein Bauland mehr gewidmet wird. Das mit dem Kampf gegen die Bodenversiegelung sei wirtschafts- und menschenfeindlich.
Im Wahlkampf vor der EU-Wahl mag zugespitzte Kritik an der europäischen Politik einen Zweck erfüllt haben. Zu viel Regulierung, zu hohe Energiepreise, zu wenig koordinierte Migrationspolitik – die Lösung dieser Probleme ist essenziell für die Weiterentwicklung des Standorts Europa.
Wettbewerb um besseres Klima - schlimm?
Geblieben ist jedoch großteils roboterhaftes Anti-EU-Gesudere. Bei Ex-Außenministerin und Putin-Vasallin Karin Kneissl, die eben ein Buch mit dem Titel „Requiem für Europa“ vorgelegt hat, wundert so etwas niemand. Bei den hiesigen Eliten ist es fahrlässig. Aus dem Wald, in den man „Nieder mit der EU“ ruft, hallt es genauso zurück.
Wer leise bleibt, bezieht Partei. Als Wirtschaftsminister Martin Kocher Anfang Juli – im Auftrag des Kanzlers – ein diskutables Standortpapier samt Handlungsauftrag an die nächste EU-Kommission vorlegte, fiel vor allem auf, dass es nicht Karl Nehammer selbst präsentierte. „In der Medieninfo befindet sich auch ein Zitat des Kanzlers, er steht hinter dem Papier“, versicherte Kocher auf trend-Nachfrage. Wo Leadership gefragt ist, herrscht offenbar Angst vor populistischen Querschüssen.
Statt Reflexen ist zur Abwechslung Reflexion angesagt. Der EU Green Deal mag bürokratische Fallstricke haben, die Notwendigkeit ganzheitlich gedachten Klimaschutzes wird aber in den nächsten Jahrzehnten nicht kleiner werden. Die USA sind mit dem Inflation Reduction Act nachgezogen, China dreht eigene große Räder. Europa wird nun seine Instrumente schärfen müssen. Es könnte Schlimmeres geben als einen Wettbewerb um besseres Klima.
Bei der viel zitierten Überregulierung wäre es besser, die Nationalstaaten würden sich selbst an der Nase nehmen. Das heftig gescholtene EU-Lieferkettengesetz ist eine Reaktion auf nationale Alleingänge von Deutschland und Frankreich. Um weiteren Wildwuchs zu vermeiden, hat die Kommission ein einheitliches – schlechtes – Gesetz gepusht. Reparieren, weitermachen!
Große Taten aus der EU
Bei allen berechtigten Sorgen um die Wettbewerbsfähigkeit: Im Innovationssektor hat Europa Fantastisches zu bieten, F&E ist in vielen Bereichen noch immer herausragend aufgestellt. Die Leistung aus den Laboren und Prüfständen endlich auf die Straße zu bringen, könnte ja auch einmal als positive Vision formuliert werden.
Denn dass insbesondere China besser in der Lage ist, seine Forschungs- in Technologie- und Wirtschaftspower umzuwandeln, sollte Ansporn sein. Nicht nur bei E-Autos, sondern in vielen anderen Hightech-Branchen von 3D-Druck bis KI droht die durch massive Subventionen hochgezüchtete fernöstliche Tech-Supermacht ganze Wirtschaftszweige Europas an die Wand zu spielen.
Strafzölle sind eine Defensivmaßnahme, von offensiven industriepolitisch-strategischen Antworten auf diese Herausforderung ist wenig zu hören. Mit Verbrennermotor-Nostalgie, zelebriert in einer Art riesigen europäischen Automobilmuseums, wird der Kampf nicht zu gewinnen sein. Das wissen die Autobauer selbst am besten: BMW berichtete für sein globales Geschäft im letzten Quartal steigende E-Auto-Anteile.
Ja, Europa verliert an Bedeutung. Der Anteil an der Weltwirtschaftsleistung wird laut dem Baseler Prognos-Institut von aktuell 17 Prozent bis 2030 auf 15 Prozent sinken. Das ist zuallererst eine Folge der Demografie: 1900 stellten die heutigen Länder der EU 19 Prozent der Weltbevölkerung, heute sind es unter sieben Prozent, 2050 laut Projektionen nur noch vier Prozent.
Entsprechend verschieben sich die wirtschaftlichen Gewichte. Dass andere, ärmere, Weltregionen aufholen, ist zunächst einmal keine schlechte Nachricht.
Der Leitartikel ist trend. PREMIUM vom 12. Juli 2024 entnommen.
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