IHS-Chef Holger Bonin: "Von richtig eingesetzten Robotern und KI-Werkzeugen könnten Wenigverdiener überproportional profitieren."
©trend / Sebastian ReichKünstliche Intelligenz würde wenig Privilegierten mehr helfen als eine gesetzliche Viertagewoche, glaubt Holger Bonin. Im trend-Gespräch erklärt der IHS-Chef, welche Ursachen das wenig berauschende Produktivitätswachstum hat und warum er ein Revival der Gastarbeiteridee für rückwärtsgewandt hält.
Für einen gelernten Deutschen wirkt sogar Österreich manchmal unbürokratisch. Gratiskaffee aus dem Automaten, sagt der aus Remscheid im Bergischen Land stammende Holger Bonin, sei in deutschen Büros nicht drin – der zu versteuernde geldwerte Vorteil ist zu hoch.
Auch dass er nach der Übersiedlung nach Wien seine Steuernummer zunächst auf einem Handzettel mitgeteilt bekam, sei in seinem ordnungsverliebten Heimatland undenkbar. Der Chef des IHS hat seit seinem Amtsantritt Anfang Juli bereits mit einigen Ansagen – jüngst mit der Anregung in der ORF-Pressestunde, "Arbeiten bis 67" doch auch in Österreich zu diskutieren – aufhorchen lassen. Mit dem trend sprach er über sein Spezialgebiet, die Arbeitsmarktökonomie.
KI war eines der großen Wirtschaftsthemen 2023. Wie viel KI steckt inzwischen in den Prognosen der Wirtschaftsforscher?
Natürlich steckt in den Prognosen viel Technik, allein über Modelle kriegt man Prognosen aber nicht in den Griff. Aktuell sagen die Modelle zum Beispiel eine positivere Wirtschaftsentwicklung voraus, als andere Indikatoren es vermuten lassen, die wir ebenfalls berücksichtigen: Stimmung in den Unternehmen, Mobilität, Krankenstände. Und dann gibt es auch noch Erfahrung und Intuition. Diese Faktoren kann KI nicht ersetzen. Wir haben derzeit außerdem eine Stagflation: Wir kommen aus einer Phase hoher Inflation in eine Rezession. Da können Modelle, die auf Daten der Vergangenheit beruhen, nicht funktionieren.
Dennoch sagen uns relevante Größen der Wirtschaft – jüngst im trend der Tech-Investor Hermann Hauser –, dass sie allein 2023 mit Hilfe von KI-Tools eine Produktivitätssteigerung quer durch alle ihre Unternehmensbereiche um 30 Prozent gesehen haben. Ist KI nun der große Jobkiller, den alle befürchtet haben?
Große Produktivitätsgewinne durch Digitalisierung wurden uns seit der Einführung des PCs versprochen. Dennoch wächst die Produktivität derzeit nicht stärker als in der Vergangenheit.
Warum ist das so?
Selbst wenn die Produktivität pro Stunde und nicht pro Erwerbstätigen als Maßzahl genommen wird war das Plus mit sechs Prozent in der letzten Dekade ja tatsächlich bescheiden. Das Wachstum ist nicht berauschend, nicht nur in Österreich. Andere produktivitätsbelastende Faktoren, etwa der Alterungsprozess, wirken dagegen. Außerdem ist bei einer schon hohen Produktivität die Steigerung gar nicht mehr so einfach. Zum Teil führen uns auch Ansagen von Start-ups, sie hätten jetzt die ultimative disruptive Technologie erfunden, in die Irre. Da wäre ich prinzipiell vorsichtig. Es steckt oft viel Markttaktik dahinter.
Die berühmte Frey-Osborne-Studie von 2013 schätzte für die USA fast die Hälfte der Berufe in einem Zeitraum von zehn Jahren als automatisierbar ein. Warum ist es nicht so gekommen?
Ich habe mich wissenschaftlich intensiv mit Frey-Osborne befasst. Diese Studien haben das methodische Problem, dass sie auf Experteneinschätzungen beruhen. Die reine Möglichkeit, etwas ersetzen zu können, bedeutet aber nicht, dass es auch gemacht wird. Wir könnten längst schon Züge automatisch fahren lassen, aber das scheitert häufig am Widerstand der Nutzer und an den Investitionskosten. Natürlich sind Berufe ausgestorben in Wien etwa der Tramwayschienenritzenkratzer oder in anderen Gegenden der Ameisensammler. Berufe sterben typischerweise aber nicht über Nacht aus, es gibt ja noch immer Cembalobauer und Handschuhmacherinnen in Wien. Wichtiger ist, dass sich Tätigkeitsprofile ändern. Und darin steckt auch eine Chance. Im Pflegebereich fällt etwa durch die verpflichtende Dokumentation viel Papierkram an, der mit Hilfe von KI-Systemen wie etwa ChatGPT schneller erledigt werden kann. So kann sich das Pflegepersonal stärker auf die Pflege selbst konzentrieren. Wenn Ihr Layout automatisiert erstellt wird, können Sie sich als Journalist auf den kreativeren Teil der Arbeit konzentrieren.
KI ist nicht Jobkiller, sondern hilft uns dort, wo wir zu wenig Arbeitskräfte haben?
In der alten Dystopie, dass uns die Arbeit ausgehen könnte, wenn die Roboter übernehmen, steckt die umgekehrte Schlaraffenland-Vision, dass wir nicht mehr arbeiten müssen. Es gibt auch einen Forschungsstrang, wonach eine Supertechnologie sich aus sich selbst heraus weiterentwickelt. Dann brauche ich keinen Menschen mehr, und trotzdem kommen wir in immer schnelleres Wachstum hinein, durch die Selbstoptimierung werden wir immer reicher, und am Ende müssen wir nicht mehr arbeiten, und die gebratenen Hühner fliegen uns in den Mund wie im Schlaraffenland? Das sind ernsthafte Ansätze? Es handelt sich ja nicht um eine Vorhersage, sondern um eine Beschreibung von Bedingungen. Die Frage ist: Gibt es so eine Supertechnologie? Das ist ja wie die Vorstellung vom Perpetuum mobile. Im Moment ist es empirisch nicht relevant. Das Schlaraffenland muss warten, wir müssen uns mit weniger zufrieden geben.
Eine Vorstufe ist immerhin die Viertagewoche.
Wir sind als Gesellschaft reicher geworden und können es uns leisten, über solche Dinge nachzudenken. Wir arbeiten jetzt nicht mehr 60 Stunden pro Woche, sondern 40 oder 35. Das ist ein Wohlstandsphänomen, wir sind produktiver, wir haben mehr Freizeit. Das Schlaraffenland ist ja deshalb so attraktiv, weil wir die Arbeit als Last empfinden. Freizeit wird wichtiger und wertvoller. Nicht für den Langzeitarbeitslosen, aber für die KI-Spezialistin, die mit 30 Stunden pro Woche 10.000 Euro verdienen kann.
"Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt", sang die deutsche Band Geier Sturzflug im Jahr 1982. Gehört dieses Motto der Nachkriegsjahrzehnte der Vergangenheit an?
Es wäre eine Fehlinterpretation, zu sagen, dass die Menschen irgendwann einmal gearbeitet haben, um das Sozialprodukt einer Nation zu steigern. Mit Arbeit sollte stets die eigene Lebenssituation verbessert werden. Die Nachkriegsgeneration musste aufbauen, sie hatte keine Wahl nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. In den Roaring Twenties war man ja schon einmal weiter gewesen. Das Ziel war Wohlstand, und den wollen wir ja nach wie vor – junge Menschen geben heute noch immer als Ziel an, eine eigene Immobilie zu erwerben.
Aber können die unverändert hohen oder höheren Wohlstandswünsche mit weniger Arbeitsleistung erreicht werden?
Wer den Umgang mit digitalen Technologien quasi mit der Muttermilch aufgesogen hat, hat einen Produktivitätsvorteil. Diesen Vorteil kann die ältere Generation allein mit Weiterbildung gar nicht aufholen. Dazu ist die jüngere Generation kleiner, sie hat dadurch auf dem Arbeitsmarkt eine viel bessere Verhandlungsposition. Sie erbt pro Kopf auch mehr.
Wir reden hier von den Mittelschichten aufwärts. Aber es gibt viele, die es sich nicht leisten können, nur vier Tage zu arbeiten, etwa weil sie nichts erben. Viele Zuwanderer gehören zu dieser Gruppe.
Richtig, das dürfen wir nicht vergessen. Wir haben Bildungsverlierer, wir haben diejenigen, die nichts erben. Wir sehen jetzt auch die riesigen Kompetenzverluste, die durch Corona in den sogenannten bildungsfernen Schichten entstanden sind. Das hat hohes Polarisierungspotenzial, wenn sich in der Freizeit die Privilegierten, die sich eine Viertagewoche und fünf Urlaube im Jahr leisten können, dann im Hotel von den weniger Privilegierten bedienen lassen. Das ist ein Riesenproblem, insbesondere wenn wir von einer gesetzlichen Reduktion der Arbeitszeit reden.
Warum?
Weil Jobs durch den stärkeren Einsatz von arbeitssparenden Technologien im Zweifelsfall wegfallen und es den schlechter Qualifizierten dann schwerer fällt, einen neuen Job zu finden. Wenn wir die Viertagewoche gesetzlich vorgeben, würden die gering Qualifizierten davon nicht profitieren.
Was sollte man stattdessen tun?
Die wenig Privilegierten näher an die Privilegierten heranführen. Qualifizierung ist ein Weg, er ist allerdings umso härter, je älter man ist. Ein anderer Weg ist, die wenig Privilegierten mit KI-Tools produktiver zu machen. Denn der relative Produktivitätsgewinn von beispielsweise ChatGPT könnte bei jenen, die schlechter qualifiziert sind, wesentlich höher sein als bei jenen, die schon bisher gute und in Zukunft eben noch bessere Texte schreiben können. Es geht um eine Entlastung an der Stelle, an der man schwach ist -und jetzt gibt es ein Tool, das für uns denken kann. Darin liegt die große Chance von KI, die hilft, unser erworbenes Schulwissen mit dem ganzen Wissen des Internet zu verbinden.
Die KI soll Bildungs-und Einkommensunterschiede einebnen, also egalitär wirken?
Wir haben jetzt erste Daten aus den USA, die zeigen, dass derzeit die Gehälter am unteren Rand der Einkommensverteilung besonders stark steigen. Das könnte für die Umverteilung noch wichtig werden.
Wir waren bei Arbeitskräfteknappheiten, die trotz des derzeit drehenden Arbeitsmarkts in vielen Bereichen ein großes Thema bleiben. Orten Sie abgesehen von einzelnen Anwerbeinitiativen einzelner Landesräte und Regierungsmitglieder hier in Österreich systematische Politik?
Nein, das ist kein politisches Gewinnerthema – nicht nur in Österreich. Ich würde in diesem Bereich viel stärker in Allianzen denken. Wenn ich Österreich wäre, würde ich mich mit den Deutschen zusammentun. Denn auch das dortige Fachkräftezuwanderungsgesetz ist ja nicht besonders erfolgreich. Wir reden vorwiegend von Zuwanderung aus Drittstaaten, der Pool dafür ist aber ziemlich klein: Für Pflege, fürs Unterrichten etc. müssen Sie ziemlich gut Deutsch können. Außerdem sind etwa Pflegeberufe in vielen der Länder, die in Frage kommen, akademische Berufe – bei uns nicht. Das bringt riesige Probleme mit sich. Wir haben also nicht genügend und passend qualifizierte Menschen auf dem internationalen Arbeitsmarkt. Alle kämpfen um die gleichen Leute.
Insofern ist die jetzt von der EU-Kommission lancierte Idee einer Plattform für interessierte, qualifizierte Zuwanderer von außerhalb Europas goldrichtig, oder?
Das ist schwierig. Wir reden heute vielfach über temporäre Zuwanderung. Wir regeln die Zuwanderung aber so, als ob jemand mit dem Plan kommt, für immer zu bleiben. Das ist eine falsche Vorstellung. Mobilität ist viel günstiger geworden.
Für den von Ihnen genannten Bereich der Pflege wird es zu wenig sein, nur auf Gastarbeiter zu setzen, wie es die FPÖ derzeit propagiert.
Ja, das ist rückwärtsgewandt. Die Vorstellung dahinter ist: Es sind Gäste, und wir haben das unter Kontrolle. In den Bereichen, wo wir dringend Zuwanderung brauchen, sind oft wir die Bittsteller, und wenn wir keine attraktiven Bedingungen bieten, gehen diese Leute dorthin, wo sie nicht als Bittsteller behandelt werden. Da gibt es Gesellschaften, die offener sind. Kein Mensch wird bereit sein, zwei Jahre Deutsch zu lernen und dann wieder gehen zu müssen.
Also braucht es in solchen Fällen eine Bleibeperspektive?
Ja. Aber eines ist auch wichtig: Zuwanderung ist zwar ein Wohlfahrtsgewinn, aber nicht die alleinige Lösung. Wir sollten uns viel mehr um die Menschen kümmern, die schon da sind, und dafür sorgen, Ältere, Frauen, schon im Land befindliche Migranten in die möglichst produktivste Verwendung zu bringen. Die Ressourcen, die schon da sind, müssen erst einmal aktiviert werden.
Hat sich seit Ihrer letzten Wirtschaftsprognose von Anfang Oktober an den fundamentalen Einschätzungen für die Konjunktur noch etwas geändert? Sind neue Faktoren dazugekommen?
Wir haben jetzt die Daten fürs dritte Quartal und müssen deshalb für dieses Jahr für Österreich auf ein Minus von 0,5 Prozent – in der Prognose waren es 0,4 Prozent – runtergehen. Die Frühindikatoren weisen aber darauf hin, dass jetzt der Boden erreicht ist und es eine Seitwärtsbewegung gibt. Wie die Lohnverhandlungen ausgehen, kann man noch nicht sagen. International sind die Auswirkungen des Nahostkonflikts und die Entwicklung der Energiekosten noch immer nicht einschätzbar. Die Frage der Zinswende ist ebenfalls noch offen. Es ist aber klar, dass die Zinsen in den nächsten zwei Jahren nicht großartig runter gehen werden.
Noch so eine Schlaraffenland-Illusion, die sich plötzlich aufgelöst hat, oder?
Ja, wir hatten da jetzt eine absolute Ausnahmesituation. Es war ja nicht nur für den Staat, sondern auch für die Unternehmen eine bequeme Situation, dass man so gut wie keine Zinsen zahlen musste. Dabei gilt eine Wirtschaft dann als dynamisch und effizient, wenn die Zinsen höher sind als das Wachstum. Das war jetzt lange nicht der Fall, und deshalb sitzen jetzt viele auf Projekten, die man gar nicht hätte starten sollen. Auch Unternehmen sind eben keine perfekten Optimierer.
Zur Person
Holger Bonin, 55, war bis Juni 2023 Forschungsdirektor des Instituts für die Zukunft der Arbeit in Bonn und lehrte als Professor für Volkswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik an der Universität Kassel. Mit Anfang Juli löste er Klaus Neusser an der Spitze des Instituts für Höhere Studien (IHS) ab. Neusser hatte interimistisch nach Martin Kochers Wechsel in die Politik Anfang 2022 übernommen.
Das Interview ist der trend. PREMIUM Ausgabe vom 24.11.2023 entnommen.