Oxford-Professor Ian Goldin bestreitet mit seinem neuesten Buch einen Streifzug durch die Geschichte der Migration: von den ersten Wanderungsbewegungen in Afrika bis hin zu Trumps Mauer.
©Getty ImagesNoch nie sind so viele Menschen in die OECD-Länder eingewandert wie 2023. Oxford-Professor Ian Goldin über Migration als US-Wahlkampfthema, das irritierende Schweigen der CEOs in Zuwanderungsfragen – und den Job des designierten EU-Kommissars Magnus Brunner.
Sie haben auf 256 Seiten eine „kürzeste Geschichte der Migration“ geschrieben. Ihre Familie musste selbst migrieren – u. a. nach dem Einmarsch der Nazis 1938 aus Wien. Was haben Sie daraus gelernt?
Meine Großeltern schafften es damals, mit meiner Mutter und ihrer Schwester zu fliehen. Alle anderen Familienmitglieder, die zurückblieben, wurden umgebracht. Was beängstigend ist: Sie alle dachten, dass sie total integriert in die Wiener Gesellschaft sind. Mein Großvater war im Komitee der Staatsoper, sie haben Bridge mit den Nachbarn gespielt. Sie fühlten sich österreichisch, nicht jüdisch.
Was geht Ihnen mit diesem Hintergrund durch den Kopf, wenn Sie Österreich heute beobachten? Die siegreiche FPÖ hat bei den jüngsten Wahlen „Festung Österreich“ plakatiert.
Die Gesellschaft ist damals sehr plötzlich sehr intolerant geworden. Es kann also sehr schnell gehen. Ich finde verblüffend, dass Menschen heute noch – auch wenn es eine Minderheit ist – faschistische Symbole wie etwa Kornblumen tragen.
Zur Person
Ian Goldin, geb. 1955, ist Professor für Globalisierung und Entwicklung an der Universität Oxford sowie Gründungsdirektor der Oxford Martin School. Er wuchs in Südafrika auf, in seiner Zeit als Chef der südafrikanischen Entwicklungsbank von 1996 bis 2001 war er u. a. Wirtschaftsberater von Nelson Mandela.
In der Geschichte gab es Antimigrationsbewegungen ab dem Moment, wo es Sesshafte gab, die ihre Siedlungen verteidigen wollten, oder?
So, wie wir es heute kennen, kam das viel später – Anfang des 20. Jahrhunderts. Zwar waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so schätzt man, ein Drittel der Europäer in Bewegung, vor allem Skandinavier, Osteuropäer, Italiener. Doch Xenophobie hat sich so richtig erst vor dem Ersten Weltkrieg breitgemacht. Da waren die Nationalstaaten aufgekommen, Grenzkontrollen, Reisepässe.
Heute sind westliche Gesellschaften und Volkswirtschaften aufgrund ihrer Demografie von Migration abhängig. Dennoch trommeln Rechtsextremisten Konzepte wie „Remigration“ – die Ausländer dorthin zurücksenden, woher sie kommen. Warum fällt das teilweise auf fruchtbaren Boden?
Leider haben die Mitte-rechts- und Mitte-links-Kräfte in der Politik einen schlechten Job gemacht, nach der Finanzkrise 2008 den Menschen eine Perspektive für ein gutes Leben zu geben. Sonst wären auch der Brexit und Trump nicht passiert. Wenn viele das Gefühl haben, dass zu wenig Platz zum Wohnen und Leben ist und dass alles immer teurer wird, dann wird den Ausländern Schuld gegeben. Die Rechtsextremisten verwischen die Unterscheidung zwischen Arbeitsmigranten und Flüchtlingen, für sie sind alle Ausländer. Dabei ist diese Unterscheidung extrem wichtig: Sie können Flüchtlinge nicht einfach zurück in die Verfolgung oder in den Tod schicken, das wäre ein Bruch internationalen Rechts.
Trump hat 2016 mit der Mauer zu Mexiko bei seinen Wählern gepunktet. War das Thema im nun beendeten Wahlkampf auch so entscheidend?
Es war laut Wählerumfragen ein Topthema. In Trumps Kampagne war es zentral, er hat seltsame Dinge gesagt, etwa dass Haitianer Katzen essen und dass nicht registrierte Arbeiter, von denen es elf Millionen in den USA gibt, deportiert werden sollen. Dabei ist klar, dass viele Bereiche stillstünden, wenn das geschähe – vom Bau bis zur Altenpflege.
Warum fallen die ökonomischen Vorteile, ja Notwendigkeiten von Migration in der politischen Diskussion fast immer unter den Tisch?
Das ist tatsächlich eine schwierige Frage. Angesichts sinkender Geburtenraten und alternder Bevölkerungen liegt ja auf der Hand, dass unsere Ökonomien mehr und mehr von Jobs abhängig werden, die nicht von Maschinen verrichtet werden können. Noch bemerkenswerter ist das Schweigen der Wirtschaftslenker. Die Wirtschaft sollte ein Advokat der Zuwanderung sein.
Warum ist sie das in der Praxis nicht?
Business ist Business ist Business. Viele wollen durch öffentliche Äußerungen ihre Kunden nicht verstören. Außerdem wollen sie, falls eine rechte Regierung an die Macht kommt, auch mit dieser zusammenarbeiten.
Also Opportunismus?
Ja, und das ist ein großer Fehler. Denn die Argumente der Akademiker allein sind zu wenig, auch die Wirtschaft müsste ihre Stimme erheben.
Interessanterweise geht zwar die absolute Zahl an internationalen Migranten nach oben, aber relativ zur Gesamtbevölkerung beträgt der Anteil in den letzten Jahrzehnten fast konstant drei Prozent. Gibt es eine Art Deckel, der mit Verträglichkeit zusammenhängt?
Nein. Selbst innerhalb Europas mit dem Schengen-Raum ist der Anteil etwa so hoch. Offenbar wollen 97 Prozent der Menschen nicht migrieren, sondern zu Hause bleiben. Die Familie, die Freunde, die Community verlassen – das wollen die wenigsten. Bei Flüchtlingen ist die Situation natürlich anders.
Der designierte EU-Kommissar für Migration, Magnus Brunner, kommt aus Österreich. Was werden seine größten Herausforderungen?
Auch hier müssen wir zwischen Flüchtlingen und allen anderen Migranten unterscheiden. Bei Flüchtlingen muss er die Lastenverteilung zwischen den EU-Staaten fairer gestalten. Sichere Fluchtwege sind ebenso ein großes Thema wie eine Beschleunigung der Prozesse und eine Rückführung jener, die keine Chance auf Asyl haben. Bei Wirtschaftsmigration braucht es einen Pakt. Es muss klarer werden, dass wir stark schrumpfende Arbeitsbevölkerungen haben und wir deshalb mehr Zuwanderer brauchen. Aber der Prozess muss besser gemanagt werden. Die Menschen, die wir holen, müssen fair bezahlt und sozialversichert werden. Diesen Rechten müssen aber klar definierte Pflichten gegenüberstehen: Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, Einhaltung der Gesetze etc. Ein heikler Job für den neuen Kommissar wird sein, dass sich dann auch alle Staaten an so einen Pakt halten.
Also Viktor Orbán integrieren?
Ein Teil der Herausforderung wird sein, schwierige Gespräche mit seinem ungarischen Gegenüber über dieses Thema zu führen, ja. Ich denke aber, dass sich Ungarn und Polen ändern werden, sie gehören zu den Ländern mit den niedrigsten Geburtenraten in Europa. Sie werden auch Bedarf an Migranten haben und sich deshalb öffnen müssen. Roboter werden Altenpfleger nicht ersetzen können.
Was ist mit dem Außengrenzschutz?
Natürlich braucht es starke Außengrenzen. Die Finanzierung und die Effektivität von Frontex sind sehr wichtig.
Zurück an den Beginn: Was ist die Lektion, die Ihre geflüchteten Vorfahren mitgenommen haben? Traue niemals deinem Nachbarn?
Verstörend ist, dass Gesellschaften zerbrechen können, die eben noch stabil erschienen. Erstaunlich ist aber auch, dass diese Brüche über die Zeit hinweg heilen können. Wir sind Migranten über drei Generationen hinweg. Meine Eltern – mein Vater war ebenfalls Flüchtling aus dem Baltikum – sind in Südafrika gelandet, ich habe dann Südafrika verlassen. Misstrauen war jedoch nicht unter den Lektionen, die sich meine Eltern mitgenommen haben. Hart zu arbeiten dagegen schon, und für die Gesellschaft etwas beizutragen. Meine Mutter hat sich in London während des Zweiten Weltkriegs für die Verständigung zwischen Christen und Juden eingesetzt. Sie hat immer versucht, Brücken zu bauen.