Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher über die Energiekrise und die Krisenkommunikation der Regierung, die nervige Frage, ob Österreich einen wie Robert Habeck brauchen würde - und Paradoxien am Arbeitsmarkt.
trend: Wir sitzen hier in Ihrem Büro im ehemaligen k. u. k. Kriegsministerium. Der ehemalige EU-Kommissar Oettinger hat neulich von kriegswirtschaftlichen Zuständen gesprochen, die uns ab Herbst drohen. Sind Sie seiner Meinung?
Martin Kocher: Nein, das ist übertrieben. Aber sollte es einen längerfristigen Gaslieferstopp geben, müssten wir natürlich Maßnahmen treffen, die zu normalen Zeiten nicht getroffen werden. So weit sind wir noch nicht. Österreich bereitet sich vor, wir haben gute Chancen, gut durch den Winter zu kommen.
Wie definieren Sie "Kriegswirtschaft"?
Das ist momentan Gott sei Dank kein Thema. Ein Element sind wahrscheinlich staatlich verordnete Rationierungen. Aber es gibt die Zusage der Energieministerin, so lange wie möglich marktwirtschaftliche Instrumente zu verwenden.
Bei möglichen Rationierungen wird ständig über die Industrie, aber kaum von den Privathaushalten gesprochen. Warum bleibt das tabu?
Weil man niemandem zumuten kann, bei minus 20 Grad Außentemperatur in der kalten Wohnung zu sitzen. Das heißt ja nicht, dass es keine Aufrufe zum Energiesparen in privaten Haushalten gibt und geben wird. Aber wie Rationierungen in diesem Bereich funktionieren könnten, ist mir unklar.
Das Modell "autofreier Sonntag" aus den 1970er-Jahren ist heute nicht mehr anwendbar? So nach dem Motto "einen Tag frieren in der Woche"?
Das kann ich mir nicht vorstellen. Nein, man wird versuchen müssen, im laufenden Betrieb zu sparen.
Ihr Nachfolger am IHS, Klaus Neusser, hat von drei Prozent Wohlstandsverlust seit der Coronakrise gesprochen. Sind wir also schon ärmer geworden?
Importierte Inflation bedeutet automatisch, dass die Volkswirtschaft ärmer geworden ist. Während der Covid-Zeit war eine Kompensation gut möglich, weil es möglich war, den Konsum zu verschieben. Jetzt ist das anders, denn direkten Einfluss auf die Krise haben wir nicht.
Ihr deutscher Kollege Robert Habeck wird ja dafür gerühmt, die Deutschen auf solche Wahrheiten zeitgerecht vorbereitet zu haben.
Natürlich muss es den Hinweis darauf geben, dass es womöglich außerordentliche Maßnahmen brauchen könnte, die außerordentliche Auswirkungen haben können. Aber es gibt keinen Grund für Panik. Wir sind gut beraten, nicht nur die schwärzesten Bilder an die Wand zu malen. Bei den Liefermengen gibt es - noch - nur geringe Einschränkungen. Außer den starken Preissteigerungen, gegen die wir ja etwas tun, hat es bei der Energieversorgung noch keine großen Effekte gegeben.
Sie sehen also kein Kommunikationsproblem der österreichischen Bundesregierung?
In Österreich gibt es eine gewisse Aufgeregtheit über Aussagen wie jene von Sebastian Kurz am Beginn der Pandemie, jeder werde jemanden kennen, der an Covid gestorben ist. Im Nachhinein hat er recht behalten, damals wurde das als Angstmache tituliert. Man muss immer die Balance halten, aber so unterschiedlich ist die Kommunikation in Deutschland und Österreich nun auch wieder nicht. In der Kommunikation ist Deutschland vielleicht gut, bei der Umsetzung von Maßnahmen sind wir aber oft schneller, etwa bei den Gesetzen zur Gasvorsorge.
Brauchen wir einen wie Habeck?
Er wird nicht wie im Fußball abwerbbar sein. Und es gibt in Österreich ja einen Arbeits- und Wirtschaftsminister.
Hätten Sie gern ein Ressort wie Habeck, mit den Energie-und Wirtschaftsagenden unter einem Dach?
Habeck hat keine Arbeitsagenden. Wichtig ist mir, dass wir in Österreich eng zwischen Energie- und Wirtschaftsministerium abgestimmt sind. Wir treffen uns fast täglich.
Ihre Kollegin Gewessler gilt vielen in der Wirtschaft angesichts des Handlings der Gaskrise als Feindbild. Eine ungerechte Einschätzung?
Für ein Energieministerium ist es derzeit nicht einfach. Es war eingestellt auf die grüne Transformation, die durch die Krise jetzt anders passiert. Unsere beiden Häuser sind aber sehr gut abgestimmt. Natürlich gibt es immer wieder Meinungsverschiedenheiten, aber mein Anspruch ist, mit allen Regierungskollegen sehr gute Zusammenarbeit zu haben.
Kann die Bundesregierung dem Druck der Landeshauptleute auf Preisdeckel in diversen Energiebereichen realpolitisch standhalten?
Allen ist klar, dass ein nationaler Preisdeckel, ohne den Großhändlern die Differenz zu zahlen, nicht möglich ist. Das spanische und portugiesische Modell, wo die Differenz aus öffentlichen Mitteln gezahlt wird, kann für Österreich nicht funktionieren, sondern nur mit mehreren Ländern. Von einem gemeinsamen Gaseinkauf sind wir jedoch noch weit entfernt. Ein Modell mit einem Deckel für eine bestimmte Verbrauchsmenge, wie ihn Wifo-Chef Felbermayr vorgeschlagen hat, ist diskutierenswert. Das ist eine Maßnahme, die - wenn es dazu ein politisches Commitment gibt - im Herbst oder Winter greifen sollte. Ich glaube, dass es in diese Richtung gehen könnte.
Wird es einen Preisgipfel, wie ihn der Wiener Bürgermeister gefordert hat, geben?
Ich fände gut, wenn wir uns auf Ebene der Landeshauptleute und der Bundesregierung austauschen.
Es gab aus dem Burgenland auch den Vorschlag zur Deckelung des Spritpreises - ist so eine Maßnahme isoliert sinnvoll?
Es ist jedenfalls sinnvoll, bundesweit vorzugehen. Ich warne aber davor, dass wir mit einer möglichen Spritpreisdeckelung Großverbraucher subventionieren. Damit wird die Treffsicherheit konterkariert.
Teilen Sie die Kritik von Wirtschaftskammerpräsident Mahrer, dass die Sanktionen gegen Russland nicht zu Ende gedacht waren? Das
Ziel der Sanktionen war, dass die russische Aggression in der Ukraine aufhört und dass es dort möglichst rasch Friedensverhandlungen gibt. Dass kurzfristig Europa stark getroffen wurde, ist mittlerweile klar, langfristig wird der Wohlstandsverlust für Russland aber groß sein. Und ich sehe nicht, welche Alternativen es gegeben hätte. Sanktionslos einen Staat überfallen zu lassen, wäre zumindest für mich moralisch schwer erklärbar gewesen.
Mahrer forderte ja auch, "nicht nur auf die Ukraine zu schielen", sondern unseren sozialen Frieden im Auge zu behalten. Sollen wir im Zweifelsfall unseren Wohlstand höher priorisieren als die Freiheit der Ukraine?
Der Bundeskanzler war meines Wissens dazu ziemlich eindeutig: Wir können keinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg 500 Kilometer von Wien entfernt zulassen. Dass das Kosten verursacht, war von Anfang an klar.
Wie hoch schätzen Sie die Gefahren massiver sozialer Unruhen im Fall eines Gaslieferstopps ein, wie das etwa Felbermayr befürchtet?
In schwierigen Zeiten gibt es eine Anfälligkeit gegenüber einfachen Parolen. Aber von sozialen Unruhen sind wir glücklicherweise sehr weit entfernt. Ich sehe viel Solidarität mit der Ukraine.
Wechseln wir zu einem Thema, das viele Unternehmen aktuell für das vordringlichste halten: die Verwerfungen am Arbeitsmarkt. Immer wieder wird an uns herangetragen, dass Bewerber nur noch 30 Stunden oder überhaupt nur noch im Homeoffice arbeiten wollen, immer häufiger Sabbaticals einfordern etc. Ist das eine positive Entwicklung?
Die Demografie kann man nicht kurzfristig beeinflussen. Wir haben die höchste Beschäftigung seit jeher, sogar im Tourismus, und wir haben viele offene Stellen. Vor zehn Jahren haben wir noch darüber diskutiert, ob uns die Arbeit ausgeht. Insofern ist das eine positive Entwicklung. Es gibt jetzt eben noch mehr Personalbedarf. Die Folge: Die Arbeitsplätze werden besser bezahlt, sie werden weniger Schwerarbeit mit sich bringen, sie werden attraktiver. Für viele Unternehmen ist das natürlich ungewohnt. Entscheidend für Unternehmen ist, dass sie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter motivieren und das Arbeitsumfeld gut ist und gar nicht so sehr, ob man 100 Euro mehr oder weniger verdient.
Wir werden uns also daran gewöhnen müssen...
...dass es mehr Wettbewerb um Arbeitskräfte gibt, ja. Wir haben aber auch ein riesiges Potenzial bei Teilzeitkräften, bei älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, bei Arbeitssuchenden.
In dieser Diskussion geht es ja oft um Arbeitsmoral. KTM-Chef und IV-OÖ-Präsident Pierer hat als Folge der Pandemie "ein Problem mit der Leistungsbereitschaft" diagnostiziert und vorgeschlagen, Leute unter 30, die Vollzeit arbeiten wollen, steuerlich zu begünstigen, damit sie sich etwas schaffen können. Ein überlegenswerter Ansatz?
Wir haben einen gewissen Wertewandel und glücklicherweise einen Wohlstand, mit dem sich manche junge Leute leisten können, nicht Vollzeit zu arbeiten. Das kann sich im Übrigen auch wieder rasch ändern. Ich warne aber davor, das Phänomen zu breit zu sehen. Ich halte es eher für ein Luxusthema. Viele Menschen in Österreich können es sich nach wie vor nicht leisten, nicht 40 Stunden zu arbeiten.
Also kein Problem?
Natürlich wissen wir aus anekdotischer Evidenz - aus den Zahlen noch nicht -, dass junge Leute manchmal einfach weniger arbeiten wollen. Gerade auch beim Einstieg ins Arbeitsleben. Das gab es früher nicht. Da würden ökonomische Anreize aber wenig bewirken. Was ich nicht für gut halte, ist, eine moralisierende Diskussion daraus zu machen.
Verschärfend kommt ja dazu, dass als Folge der Pandemie viele Arbeitskräfte zurück in ihre Heimatländer in Osteuropa gegangen sind. Pierer will jetzt etwa statt den Bosniern, von denen viele zurückgegangen sind, Inder holen. Werden mit der reformierten Rot-Weiß-Rot-Card schnell genug die benötigten Leute nach Österreich kommen?
Die neue Rot-Weiß-Rot-Card ist ein Angebot an Unternehmen - ich hoffe, es wird genutzt. Es wäre eine Illusion, zu glauben, dass das jetzt alle Probleme löst, die wir haben. Gewisse Dinge werden sich aber verbessern. Die Grenzsperren während der Covid-Zeit haben viele davon abgehalten, in Österreich beschäftigt zu sein. Das ist hoffentlich vorbei. Insofern glaube ich, dass viele Beschäftigte, die vom Westbalkan stammen, wieder zurückkommen. Dort gibt es immer noch zum Teil Arbeitslosenquoten von 20 bis 30 Prozent.
Sie haben als IHS-Chef stets davor gewarnt, die Kurzarbeit zum Dauerinstrument zu machen. Jetzt sieht es ganz danach aus, oder?
Ich habe gesagt, man sollte nicht zu lange ohne Unterbrechung in Kurzarbeit sein, weil das strukturkonservierend ist - das gilt für Personen wie für Betriebe. Dass die Kurzarbeit als Instrument grundsätzlich sinnvoll ist und in Krisen zur Verfügung stehen sollte, steht aber außer Streit.:
Sie sind jetzt seit eineinhalb Jahren Minister. Wie ist Ihre persönliche Bilanz?
Es waren keine einfachen eineinhalb Jahre. Aber ich glaube, wir haben einiges erreicht. Man hat als Minister mehr Gestaltungsspielraum, als ich gedacht hatte. Jedenfalls bin ich nach wie vor motiviert und bin mir der Verantwortung bewusst: Ich habe von der öffentlichen Hand profitiert, etwa weil ich Studienbeihilfe bezogen habe, und ich habe lange im öffentlichen Bereich gearbeitet. Da ist es Verpflichtung, etwas beizutragen.
Uns fehlt eine Art Wirtschaftsvision: Wohin soll sich die österreichische Wirtschaft, die in ihren Strukturen durch die Lieferkettenprobleme, durch das Energiethema etc. verändert wird, entwickeln? Welche Bereiche braucht es nicht mehr, welche neuen kommen dazu?
Ich werde mich bemühen, visionärer an diese Sache heranzugehen, wenn die Dinge wieder etwas ruhiger sind. Mein neues Amt habe ich ja zur Mitte der Legislaturperiode übernommen; die Visionen stehen zum Teil im Regierungsprogramm. Aber ich glaube schon, dass es eine an die aktuellen Herausforderungen angepasste, längerfristige Vision für Österreich braucht, wie Wirtschaft in Zukunft aussehen soll. Bitte um etwas Geduld.
ZUR PERSON
Martin Kocher, geb. 1973, ist Ökonom, karenzierter Hochschullehrer und Politiker. Seit Jänner 2021 ist er Bundesminister für Arbeit, im Mai 2022 hat er mit dem Abtritt von Margarete Schramböck auch deren Wirtschaftsagenden übernommen. Der Verhaltensökonom war vor seinem Wechsel in die Politik Chef des Instituts für Höhere Studien. Der parteilose Wirtschaftsprofessor ist aktuell nach dem Vertrauensindex von APA/OGM das vertrauenswürdigste Regierungsmitglied.
Das Interview ist der trend. PREMIUM Ausgabe vom 29.7.2022 entnommen.