Er beriet den russischen Präsidenten Dimitri Medwedew, doch sein Engagement für die Opposition brachte ihm Kritik ein. 2013 floh der Ökonom SERGEJ GURIEV nach Frankreich. Ein Gespräch über Diktatoren, die Naivität des Westens und die Verantwortung von Unternehmen.
trend: Sie haben Russland 2013 verlasen, Vladimir Putin ist einer der Gründe, warum Sie zusammen mit Daniel Treisman ein Buch über moderne Diktatoren verfassten. Hat Sie dennoch überrascht, dass Russland die Ukraine angriff?
Sergey Guriev: Ich habe mir über den moralischen Kompass von Vladimir Putin nie Illusionen gemacht. Einen Monat vor Kriegsbeginn schrieb ich in der "Financial Times", dass ein solcher Krieg weder kurz noch siegreich für Russland ausgehen würde, und in den Tagen davor war ich mir sicher, dass es für Putin kein Zurück mehr gab. Die Spieltheorie ist in der Einschätzung solcher Situationen hilfreich: Wenn du bluffen willst, muss das Schreckensszenario groß genug sein, damit du glaubwürdig bist. Ich war dann nicht mehr überrascht, als es geschah.
Für viele Menschen in Europa war es ein großer Schock, dass Krieg in Europa möglich ist. Warum fällt es auch Vertretern aus Wirtschaft und Politik so schwer, einzugestehen, dass sie sich in Putin geirrt haben?
Rational denkende Menschen müssen fast geschockt sein, weil ihnen klar ist, dass dieser Krieg ein großer Fehler ist, egal, ob man Putin für einen guten oder einen schlechten Menschen hält. Niemand in Russland ist glücklich darüber, er schadet dem Regime.
Sie erklären in Ihrem Buch, dass Putin lange das war, was Sie als "Spin Dictator" bezeichnen: ein Diktator, der nicht über Angst regiert, sondern sich Macht und Zuspruch sichert, indem er Freiheit vortäuscht, indem er etwas Opposition zulässt und auch ein paar freie Medien. Nun ist das deutlich anders.
Putin wollte sein Diktatur-Modell nicht unbedingt ändern. Er hat den Krieg ja begonnen, weil seine Zustimmungswerte so gesunken waren und er von früheren Kriegen wusste, dass diese ihm wieder mehr Zuspruch bringen. Wenn der Krieg in der Ukraine genauso kurz und erfolgreich für Russland verlaufen wäre wie die Annexion der Krim 2014 oder der georgischen Gebiete im Jahr 2008, hätte er das Land genauso weitergeführt wie zuvor. Vielleicht hätte das funktioniert. Aber Kiew hielt den Angriffen stand. Und Putin verbot daraufhin westliche soziale Medien, beschloss Strafen, die das Ende der freien Medien bedeuteten, und ließ Menschen einsperren, selbst wenn sie mit einem Plakat ohne Worte darauf protestieren. Er griff zu starken Repressionen.
Hätte der Westen spätestens auf die Annexion der Krim anders reagieren müssen?
Der Westen hätte sich viel bewusster darüber sein müssen, dass er es bei Russland nicht mit einer Demokratie zu tun hat. Vor allem aber hätte man sehr viel härter dagegen vorgehen müssen, wie Russland versuchte, durch Korruption auch in westliche Wahlen und Institutionen einzugreifen. Sie in Österreich sind mit dem Ibiza-Skandal ja ein sehr gutes Beispiel dafür, wie plausibel es war, dass russische Oligarchen versuchen, sich westliche Politiker zu kaufen, um dann gute Geschäfte zu machen.
Auch 2014 gab es allerdings Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland. Waren die also zu sanft angesetzt?
Sie hätten jedenfalls damals schon ganz anders aussehen können. Spätestens damals hätten auch Deutschland und Österreich ihre Energiepolitik hinterfragen müssen. Wir alle erinnern uns daran, dass Griechenlands unverantwortliche Fiskalpolitik in einer Eurokrise endete. Jetzt sehen wir, wie unverantwortlich Deutschlands Energiepolitik war, die auf russisches Gas als billige Übergangstechnologie setzte.
Die in Österreich dafür Verantwortlichen sagen, dass Russland verlässlich lieferte und russisches Gas die billige Alternative war, weil etwa Atomenergie nicht in Frage kam. Gleichzeitig bestand der Glaube, dass gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit jeden Krieg zu teuer machen würde. War das naiv?
Dieser "Wandel durch Handel" getaufte Zugang, der auch darauf baut, dass andere Länder demokratischer werden, muss nicht naiv sein. Man muss sich bei solchen Engagements aber klar sein, dass man es nicht mit Demokratien zu tun hat und muss extrem streng gegen Korruption vorgehen, weil diese sich schnell ausbreitet. Und wer mit einem Land wie China Beziehungen eingeht, darf nicht zulassen, dass es internationale Institutionen wie Interpol übernimmt.
Der Westen hat aber zugelassen, dass Russland Teil von Interpol wird.
Russland war bis vor Kurzem auch im UN-Menschenrechtsrat, dem auch Saudi-Arabien angehört.
In Ihrem Buch argumentieren Sie dennoch dafür, die Beziehungen zu nicht demokratischen Staaten nicht abzubrechen, auch wirtschaftlich nicht.
Es ist nicht einfach, eine andere Lösung dafür zu finden, demokratische Entwicklungen zu fördern. Wenn in nicht demokratischen Staaten die Zahl der gut ausgebildeten Menschen zunimmt, was durch wirtschaftliche Entwicklung gefördert wird, dann haben es Spin-Diktatoren zusehends schwerer, die Menschen zu manipulieren. Solche Beziehungen erhöhen also die Chance zur Veränderung, die aus diesen Gesellschaften selbst kommt.
Mit Viktor Orbán gibt es mitten in der Europäischen Union einen höchst erfolgreichen Spin-Diktator, der gerade wieder haushoch die Wahlen gewann. Wie soll die EU damit umgehen, dass er zentrale europäische Werte verletzt?
Die EU muss auch erkennen, dass Ungarn keine wirkliche Demokratie mehr ist, sondern eine Diktatur. Die Opposition hat keine faire Chance. Die EU ist aber aufgewacht und knüpft ihre finanziellen Mittel an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit. Orbán war extrem gut darin, die EU-Töpfe zu nutzen. Drei Prozent des ungarischen Budgets bestehen aus EU-Mitteln, um exakt drei Prozent ist auch die ungarische Wirtschaft über Jahre gewachsen. Orbán weiß, wie wichtig EU-Gelder für sein Land sind, sie sind also ein Hebel, um Regeln durchzusetzen. Eine andere wichtige Einrichtung ist die seit 2021 aktive europäische Staatsanwaltschaft, die sich Korruptionsfällen widmen soll. Orbáns Regime gäbe ihr viel zu tun, sie bräuchte aber noch mehr Ressourcen.
Soll ein nicht demokratisches Land Teil der EU bleiben?
Orbán hat genau erkannt, dass Europa glaubt, die postkommunistischen Gesellschaften wären so froh über die Demokratie, dass sie nie jemanden wie Orbán wählen würden. Die EU muss aufwachen. Übrigens gilt das auch für die Nato, zu der ja auch die von Erdogan regierte Türkei gehört.
Sowohl Viktor Orbán als auch Recep Erdogan sind sehr versierte Spieler, wenn es um internationale Beziehungen geht.
Sie sind große Spin-Diktatoren. Sie spielen ein Spiel, sie sind Opportunisten, man kommt ihnen mit Fragen der Ideologie nicht bei. Sie geben sich als Demokraten, manipulieren dabei aber internationale Institutionen.
In Ihrem Buch zeigen Sie, dass Spin-Diktaturen heute viel erfolgreicher sind als Diktaturen, die auf komplette Unterdrückung, Gewalt und Repression setzen. Wir sehen bei Orbán und Erdogan, wie aus Demokraten Spin-Diktatoren geworden sind, aber können aus Spin-Diktatoren auch Demokraten werden?
Sie werden eher von Demokraten abgelöst. Ecuador ist zum Beispiel mehr eine Demokratie, seit der Spin-Diktator Rafael Correa 2017 abgewählt wurde, auch Armenien ist seit 2018 auf dem Weg zur echten Demokratie. In Venezuela wiederum folgte auf den Spin-Diktator Hugo Chavez mit Nicolás Maduro wieder ein Diktator, der auf Unterdrückung setzt.
Die aktuelle Situation führt dazu, dass auch Unternehmen sich vermehrt fragen, in welchen Regimen sie tätig sein sollen und können. In Deutschland wird zum Beispiel darüber diskutiert, wie das Verhältnis zu China nun zu bewerten ist. Wie stehen Sie als Ökonom dazu?
Orbán hat Unternehmen nach Ungarn gezogen, gerade indem er vorgab, es wäre eine Demokratie. Putin hat die gleiche Strategie verfolgt. Viele Unternehmen haben Russland von selbst verlassen, weil das Land im Krieg ist und die Risiken gewaltig hoch sind. Sie wollen mit dem Regime auch nicht mehr verbunden werden. Österreichs Raiffeisen hat Russland noch nicht verlassen, aber ihr Geschäft dort ist natürlich zerstört. Wenn Unternehmen in Diktaturen investieren, müssen sie sich des Risikos bewusst sein, dass es auch so ausgehen kann wie jetzt in Russland. Sie hätten dieses Risiko spätestens 2014 berücksichtigen müssen. Dass solche Risiken nun mehr Beachtung finden, wird die Globalisierung verändern.
Auch in Unternehmen ging man lange davon aus, dass es schlicht zu teuer für Russland wäre, einen Krieg zu beginnen und die internationale Gemeinschaft vor den Kopf zu stoßen.
Andere Diktaturen lernen aus dem aktuellen Fall, wie gigantisch teuer das sein kann. China wird sich sehr genau überlegen, ob es Taiwan angreift. Es ist nun völlig klar, dass Russland keine westlichen Investitionen mehr anziehen wird, und die Heftigkeit der wirtschaftlichen Sanktionen ist ebenfalls offensichtlich. Die russische Wirtschaft ist komplett abgeschnitten.
Die Hoffnung der Wirtschaftssanktionen war und ist, dass sie dazu führen, dass sich in Russland Widerstand gegen den Krieg formt. Zeichnet sich das ab?
Putin wird stürzen, aber es ist weder klar, wie das geschieht, noch, wann es geschieht. Arme Russen stöhnen unter den steigenden Preisen. Menschen aus der Mittelklasse haben ihre Jobs in IT-Firmen oder Beratungshäusern verloren. Das Land befindet sich in der tiefsten Rezession seit den 1990er-Jahren.
Europa hat nun ein Öl-Embargo beschlossen, schreckt aber vor einem Gas-Embargo zurück. Vor allem Deutschland wägt dabei zwei Fragen ab: Kann ein Embargo den Krieg wirklich stoppen, und kann man es deshalb verantworten, die heimische Wirtschaft zu schwächen, die Inflation zu befeuern und Arbeitslosigkeit zuzulassen?
Deutschland fürchtet sich vor Protestbewegungen wie den französischen Gelbwesten, die gegen die von Emanuel Macron leicht angehobenen Spritpreise ins Feld zogen. Diese Frage muss man sich auch stellen. Doch es ist auch völlig klar, dass Russland den Krieg intensiviert, dass es seinen Einsatz nochmal erhöht und jeder Euro, den Europa zahlt, in den Krieg fließt.
Ein Embargo würde den Krieg also schneller beenden?
Putin braucht das Geld, weil die russische Wirtschaft nichts abwirft und er Soldaten bezahlen muss, um in den Krieg zu ziehen. Der Krieg ist in Russland enorm unbeliebt. Das Militär heuert junge Männer aus armen Gegenden an, es verspricht 2.000 Euro im Monat und 100.000 Euro für die Familie, sollte der Soldat sterben. Wird ein Embargo Putins Einstellung zum Krieg ändern? Nein. Aber es würde seine Ressourcen stark einschränken. Es müsste gar kein vollständiges Embargo sein.
Sondern?
Durch eine Steuer könnten Teile des Geldes einbehalten und später für den Wiederaufbau der Ukraine verwendet werden. Italiens Premier Mario Draghi hatte jedenfalls recht, als er sagte, dass Europa sich zwischen der Klimaanlage und dem Frieden entscheiden müsse.
Je höher die Inflation wird, desto eher schwindet jedoch die Unterstützung für die Ukraine. Schon jetzt fordern einige, sie solle die östlichen Gebiete an Russland abtreten, damit Friede herrsche.
Es ist schwer, zu sagen, wie und wann ein solcher Stimmungsumschwung eintritt. Wir haben bei den Wahlen in Frankreich gesehen, dass Marine Le Pen in den Umfragen zulegte, je stärker die Preise stiegen, und das, obwohl ihre Partei von Russland finanziert worden war.
Mit welchem Kriegs-Szenario rechnen Sie aktuell?
Er wird lange andauern, aber als eingefrorener Konflikt. Die Ukraine wird die östliche Gebiete nicht aufgeben, aber auch nicht zurückgewinnen können. Das heißt aber nicht, dass der Wiederaufbau des Landes nicht schon beginnen kann. Er muss es sogar.
ZUR PERSON
Sergej Guriev, 50, leitete die New Economic School in Moskau, war einer der Wirtschaftsberater des russischen Präsidenten Dmitiri Medwedew (2008 bis 2013) und im Aufsichtsrat der Sberbank. 2013 floh er aufgrund offenbar vom Regime Putin konstruierter Vorwürfe nach Frankreich. Er war Chefökonom der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und ist Professor für Volkswirtschaft an der Sciences Po in Paris.
Das INterview ist der trend. EDITION vom 10. Juni 2022 entnommen.