Bundeskanzler Karl Nehammer vor dem UN Hauptquartier in New York
©APA/BKA/DRAGAN TATICMitte September geht in New York mit der UNO-Generalversammlung das gewichtigste Schaulaufen der Weltpolitik über die Bühne. Das kleine Österreich ist mit Bundespräsident, Kanzler und Außenminister gleich dreifach präsent. Warum Karl Nehammers Umgang mit Putin hinter den Kulissen nach wie vor für Gesprächsstoff sorgt - und wie sich der ÖVP-Chef bei seiner New York-Premiere generell schlug.
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In der zweiten Septemberhälfte wird New York für eine Woche zur weltpolitischen Bühne. Zur Plenartagung der UNO-Generalversammlung reisen Staatsoberhäupter, Außenminister, NGO-Vertreter und Journalisten aus aller Welt an.
In den Straßenschluchten von Manhattan stehen die Zeichen für eine Woche auf Weiterkommen im Schneckentempo. Mehrmals täglich heißt es “freeze”. Der Verkehr wird über viele Häuserblocks von der New Yorker Polizei auf Null gestellt, schon eine Zeitlang bevor sich US-Präsident Joe Biden in seiner gepanzerten Limousine “The Beast” vom oder zum UNO-Hauptquartier am East River auf den Weg macht. Die Hotels verlangen das Doppelte bis Dreifache für das Zimmer wie in den Wochen davor und danach. Im Big Apple, in dem Exzentrik und Hektik zum Alltag gehört, herrscht eine Woche lang untertags der Ausnahmezustand.
Das Schaulaufen der Big Names der Weltpolitik im UNO-Hauptquartier ist vom politischen Kalender nicht mehr wegzudenken. Mit 130 Staats- und Regierungschefs reisten heuer überdurchschnittlich viele oberste Repräsentanten der 193 UNO-Mitgliedsstaaten persönlich an. Samt Mitarbeiter-Gefolge und Vertretern von Nicht-Regierungsorganisationen nehmen mehr als zehntausend politische Strippenzieher in New York für eine Woche Quartier.
Für Aufmerksamkeit sorgt so primär, wer diesmal nicht da - und vor allem warum. Heuer lässt Chinas Staatspräsident Xi Jinping das Gipfeltreffen der Weltpolitik aus. Inoffizielle Begründung, die nach wie vor eisern durchgezogene Null-Covid-Politik. Rar macht sich heuer auch Russlands Herrscher Wladimir Putin. Unausgesprochene Begründung, der Kriegsherr meidet einen öffentlichen Spießrutenlauf oder gar geharnischte Kritik auf offener Bühne.
Putins TV-Kamera-GAU mit Modi
Dem Despoten reicht die für ihn hochnotpeinliche Szene, die jüngst vom Treffen mit Vasallen und Verbündeten im Rahmen der Shanghai-Gruppe in Samarkand, auf allen Nachrichtenkanälen um die Welt ging. "Heute ist keine Ära des Kriegs", proklamierte Indiens Premierminister Narendra Modi im zentralasiatischen Usbekistan zu Beginn eines Vier-Augengesprächs. Alle Kräfte sollten vielmehr auf die Sicherung von Lebens- und Düngemitteln sowie Treibstoffen fokussiert werden.
Entsprechend den Regieanweisungen der Veranstalter des Autokratengipfels mit handverlesenem demokratischem Aufputz waren TV-Kameras nur für einen kurzen Meet & Greet-Schwenk vor Beginn des Gesprächs zugelassen. Weil während des Eröffnungssatzes von Modi die Kameras samt Mikrofon noch weiter liefen, konnte Putin die ungeplante öffentliche Unbotmäßigkeit nicht unerwidert stehen lassen.
"Ich kenne Ihre Position zu dem Konflikt in der Ukraine und Ihre Bedenken, die Sie ständig zum Ausdruck bringen", erwiderte Putin und suchte Modi den Wind aus dem Segel zu nehmen - mit einem Satz, den er wenige Tage danach selber Lügen strafte: "Wir tun alles dafür, um das so schnell wie möglich zu beenden."
In New York hatte so allein Außenminister Sergej Lawrow für Russland die Stellung zu halten. Österreich war durch gleich drei Spitzenrepräsentanten vertreten: Außenminister Alexander Schallenberg reiste für alle fünf Top-Tage der Plenarversammlung an. Bundespräsident Alexander Van der Bellen musste seine geplanten drei New-York-Tage wegen seiner Teilnahme am Begräbnis der englischen Queen auf zwei verkürzen. Und schließlich Bundeskanzler Karl Nehammer.
Nehammer fürchtete Jetsetter-Vorwurf
Nehammer hatte bis eine Woche vor Start der Plenartagung offen gelassen, ob und für wie lange er mit von der Partie ist. Der ob der öffentliche Dauerkritik an der Regierungsperformance zunehmend genervte ÖVP-Frontman wollte zuerst das jüngste Anti-Teuerungspaket samt Aus für die Kalte Progression politisch unter Dach und Fach wissen - und sich nicht nachsagen lasse, er jette durch die Welt statt zu Hause die Preisexplosion zu dämpfen.
Nehammer verknappte vor diesem Hintergrund seinen USA-Aufenthalt auf etwas mehr als 48 Stunden - inklusive Spekulation mit dem Image-Gewinn bei Anreise auf Economy Plus-Sitzen statt in der Business Class ein auch körperlich herausforderndes Unterfangen.
Alexander Van der Bellen hat nach fünfeinhalb Jahren in der Hofburg bereits UNO-Routine. Für Alexander Schallenberg sind die New York-Tage generell ein Heimspiel. Für den gelernten Diplomat stand schon lange vor seiner Zeit als Außenminister die UNO-Woche Jahr für Jahr fix im Arbeitskalender – erst als Kabinettsmitglied im Außenamt, danach als Spitzendiplomat im Kanzleramt.
In New York sind Staatspräsident, Kanzler und Außenminister besonders bemüht, unterschiedliche Sichtweisen öffentlich auszublenden und ein Bild patriotischer Harmonie abzugeben. Das hatten selbst politische Antipoden wie Van der Bellens langjähriger Vorgänger Heinz Fischer und Sebastian Kurz – sowohl in dessen Zeit als Außenminister als auch als Kanzler – so gehalten.
Wenn gleich drei Spitzenpolitiker das kleine Österreich auf der Weltbühne vertreten, würde ein allzu offensichtlicher Ball der Eitelkeiten auf ausländischen Boden die Frage noch schärfer stellen: Wie viel Sinn macht es, dass Bundespräsident, Kanzler und Außenminister gemeinsam auf der gleichen Hochzeit tanzen?
Kurz machte UNO-Gipfel zum prestigeträchtigen Home-Run
Bis zum Einzug von Sebastian Kurz ins Außenministerium war ein derart prominenter Österreich-Auflauf in New York aber die rare Ausnahme. Zum UNO-Treffen der Staatsoberhäupter reisten entweder der Bundespräsident – als oberster Vertreter des Landes nach außen – oder der Außenminister an. Kurz und sein PR-Team machten sofort nach Amtsantritt den UNO-Gipfel in New York als ideale Bühne für eine Image-Offensive aus.
Ab 2013 war mit dem Bundespräsidenten und dem Außenminister Jahr für Jahr zumindest ein österreichisches Spitzen-Duo in New York präsent. Im Herbst 2016 kam es gar zu einem skurrilen Parallellauf zwischen dem neuen SPÖ-Regierungschef und dem ÖVP- Außenminister. Christian Kern wollte seinem Intimfeind Sebastian Kurz nicht allein die prestigeträchtige UNO-Bühne überlassen. Es kam zu einem Terminslalom in New York, bei dem beide peinlich darauf bedacht waren, gemeinsame Auftritte und Bilder zu vermeiden.
Als der türkise Jungstar kurz danach im Wahl-Duell gegen Kern obsiegte, wollte Sebastian Kurz sich auch als Kanzler die populäre Foto-Oportunity – der junge Regierungschef im Kreise der Weltlenker – nicht nehmen lassen. Seither ist das versunkene Weltreich Österreich gar mit einem Trio beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs vertreten.
Auch beim Nachfolger von Kurz‘ in Partei und Regierung, Karl Nehammer, obsiegte nach längerem Hin und Her schlussendlich die Erwartung, auf der außenpolitischen Bühne ein paar rare Plus-Punkte machen zu können.
Schallenberg bügelt seine Kurzzeit-Kanzler-Delle aus
Eine eigene Rolle kommen freilich weder dem Kanzler noch dem Bundespräsidenten bei der Plenartagung der UNO zu. Der jedem Land zustehende einmalige Rede-Slot bei der Plenartagung obliegt traditionell dem Außenminister. Der 53jährige Karriere-Diplomat Alexander Schallenberg scheint nach seiner Image-Delle als glückloser Platzhalter für 58 Tage im Kanzleramt Ende des Vorjahrs wieder seine Mitte gefunden zu haben.
Der Außenamtschef hat sich auch vom Zerrbild des türkisen Lautsprechers zunehmend freigespielt. “Er sucht in den zwei Jahren, die ihm angesichts der Stimmungslage für Türkis-Grün maximal als Außenminister noch bleiben, bella figura zu machen”, resümiert ein langjähriger Schallenberg-Kenner.
Bei seinem fünfzehnminütigen Auftritt diesen Donnerstag-Abend in New York nutzt Alexander Schallenberg die Gelegenheit für ein leidenschaftliches Plädoyer für die Verteidigung der Werte der Weltgemeinschaft in der UNO-Charta wie Freiheit und Menschenrechte und gegen eine schleichende Anerkennung “der Rechte des Dschungels anstelle des Rechtsstaats”.
Nur Side-Event für “His Excellency” Van der Bellen
Den anderen beiden österreichischen Spitzenpolitikern wurden zwei UNO-Side-Events als Ersatz-Bühne angeboten.
“His Excellency Alexander Van der Bellen”, so die offizielle UNO-Ankündigung, entschied sich für das angebotene Drei-Minuten-Statement beim “High Level Meeting on Minorities” und stellte dabei die Südtirol-Autonomie und die nach langen Konflikten heute erfolgreiche österreichische Slowenen-Politik als Role Models in die Auslage.
Karl Nehammer nahm den Rede-Slot in einem Panel beim "Transformation Education Summit". Der ÖVP-Obmann pries, anlässlich des 50jährigen Jubiläums, die Einführung kostenloser Schulbücher durch SPÖ-Kanzler Bruno Kreisky als gelungenes Bildungs-Incentive an. Nehammers Vorgänger hatten das Gratis-Schulbuch einst noch als Geldverschwendung gegeißelt.
Speed-Dating am East-River
Am Ende einer UNO-Plenarwoche zählen aber als härteste Währung die Dutzenden Gespräche, die viele Ländervertreter unter vier Augen am Rande der offiziellen Gesprächen führen. Für die in der Diplomaten-Sprache als “Bilaterals” firmierenden und vorab eng getakteten Speed-Dating-Termine von 15 bis 30 Minuten gibt es im reichlich heruntergekommenen UNO-Hauptquartier eigene spartanisch ausgestattete Kojen.
Angesichts der multiplen Krisen in Sachen Energieversorgung und der neuerlichen Eskalation durch Putin durch die Teilmobilmachung in Russland von 300.000 Soldaten, machte die Anreise zu dritt heuer vor allem dafür Sinn. Die Chance, mit so vielen Staatschefs auf einem Fleck ohne großen Aufwand persönlich zu reden, ist in der UNO-Gipfelwoche einmalig.
Für den gelernten Berufsoffizier Karl Nehammer war New York sowohl vor als auch hinter den Kulissen eine Premiere.
Der Kanzler war in den zwei Tagen vor Ort vor allem darum bemüht, den Eindruck zu vermitteln, sein New York-Trip sei die Fortsetzung seiner spektakulären Reise zu Putin im April dieses Jahres mit anderen Mitteln. Seine bislang ergebnislose Initiative, drei Monate nach Start des Angriffskrieges dem russischen Autokraten seine Aufwartung zu machen, bleibt bis heute umstritten.
Auch wenn die österreichische Diplomatie im Vorfeld erfolgreich darauf bestanden hatte, dass keine Kameras und Journalisten beim Treffen zugelassen sind, muss Nehammer bis heute mit dem Vorhalt von EU-Kollegen leben, Putin kurzzeitig einen unnötigen Terraingewinn auf dem Propaganda-Schlachtfeld verschafft zu haben.
Staatsgeheimnis-Brecher PCR-Test
In Diplomatenkreisen ist unter vier Augen zudem nach wie vor heißer Gesprächsstoff, dass Nehammer die Reise gegen den ausdrücklichen Rat von Top-Diplomaten im Regierungsviertel angetreten hatte. Für gallige Heiterkeit sorgt im Diplomatentratsch die Episode, wie die von Nehammer & Co - auch gegenüber allen Außenpolitik-Profis - als Staatsgeheimnis gehandelte Kommando-Aktion bei Österreichs Vertretern in Moskau ruchbar wurde.
Nehammers Küchenkabinett wollte auch die Botschaft in Moskau erst kurz vor Abflug über die Putin-Visite informieren. Der Geheimhaltungs-Plan wurde freilich Tage zuvor durch eine diplomatische Routine-Aktion aus dem russischen Außenministerium konterkariert. Die Russen wollten die Österreich-Botschaft rechtzeitig im Vorfeld wissen lassen, dass es ohne einen zeitnahen PCR-Test keine Privat-Audienz bei Putin gibt.
Van der Bellen not amused über den Kanzler
Auch Staatspräsident Van der Bellen war alles andere als amused, dass er vom Reiseplan über eine Breakings-News-Meldung des deutschen Boulevard-Mediums “Bild” erfahren musste. Aus dem Kabinett Nehammer gab es Tage davor lediglich vage Andeutungen, dass in den nächsten Tagen eine außenpolitisch spannende Initiative anstehen könnte.
Die UNO-Tagung in New York ist in diesen Tagen in Sachen Umgang mit Russland und seinen politischen Vertretern ein besonders heißer Boden. Heuer hält allein Außenminister Sergej Lawrow die Stellung. Er hat seinen Rede-Auftritt bewusst mit diesen Samstag ans Ende der Tagung gesetzt - um möglichst das letzte Wort zu haben und Widerreden zu vermeiden.
Wladimir Putin hatte der Tagung wenige Stunden vor dem Auftritt von US-Präsident Joe Biden seinen Stempel bereits per Fernzündung aufgedrückt – mit der Teilmobilmachung und einer verstärkten Atomwaffen-Drohung.
Nehammer über seine umstrittene Putin-Visite: “Ich werde es wieder tun”
Die EU-Außenminister haben sich zum Auftakt der UNO-Tagung darauf verständigt, vor Ort jeden bilateralen Kontakt mit Lawrow zu meiden und Russland damit keine Chance zur missbräuchlichen Propaganda zu geben.
Nach Putins Eskalation setzt die EU darauf, die Reihen noch dichter zu schließen – inklusive eines neuen Sanktionspakets. Denn Putin-Kenner sagen, der russische Staatspräsident verstehe nur eine Sprache: Klare Kante, sprich unerschütterliche Entschlossenheit und maximale Härte.
Nehammer sucht sich derweil unverdrossen als Sanktions-Skeptiker und Friedensvermittler zu positionieren. Schon zum Start seiner UNO-Visite platzierte der Kanzler zwar verhalten aber – eine gegenüber der aktuellen EU-Politik - unüberhörbar kritische Botschaft: “Die Sanktionen dürfen uns nicht mehr schwächen als denen, denen sie gelten sollen."
In einem Ö1-Interview bekräftigt der Kanzler nicht nur, dass es wichtig und richtig gewesen sei, dass er Mitte April Putin persönlich aufgesucht habe: “Ja, ich würde es wieder tun.” Er proklamiert zudem ungefragt: “Ich werde es wieder tun, wenn es nützlich ist.”
Karl Nehammer erinnert nach bald 300 Tagen im Kanzleramt auch mit seinen Auftritten auf der internationalen Bühne zuvorderst an seine, zu Amtsantritt in zahlreichen Interviews platzierte, Botschaft: „Ich bin ein Lernender“. Ein auf den ersten Blick durchaus sympathisches Motto für einen Berufspolitiker, der gerade in ein neues Amt, zumal das des Regierungschefs, gewechselt hat.
Nachträglich liest sich Nehammers Kanzler-Motto, “Ich bin ein Lernender”, freilich zunehmend wie ein ständiges Werben um gütige Nachsicht.
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