Ein Jahr nach dem Sturz von Kurz sucht sich der glücklose Kanzler neu zu erfinden. KARL NEHAMMER will bis 2024 durchregieren, um sich in Staatsmann-Pose aus dem Dauertief zu ziehen.
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Dieser Vormittag fühlte sich nicht nur für Abgeordnete und Medienvertreter wie ein stundenlanger Flashback an. Im ÖVP-Korruptions-Ausschuss war am letzten Mittwoch im September Sebastian Kurz als Auskunftsperson angesagt. Anfang Oktober des Vorjahrs war er als Kanzler, bald danach auch als ÖVP-Chef endgültig zurückgetreten.
Knapp ein Jahr danach bot der türkise Messias a. D. noch einmal alle seine Künste auf. Für gut einen halben Tag war jene Nonstop-Kurz-Show angesagt, mit der er jahrelang die politische Arena beherrscht, aber auch polarisiert hatte.
Die ÖVP-Mandatare hofierten ihren gefallenen Jungstar wie in früheren Tagen. Und grätschten, wenn einer der anderen Abgeordneten eine Frage stellte, mit Geschäftsordnungsdebatten über die Zulässigkeit des Themas dazwischen.
Der Beitrag der Auskunftsperson zur Aufklärung blieb so tendenziell gegen null. Am Rande der U-Ausschuss-Sitzung gab es im Small Talk so nur ein Thema, das einmal mehr polarisierte: Wie groß ist die Lust des 36-jährigen Altkanzlers auf ein Comeback - und könnte er beim Partei- und Wahlvolk trotz allem noch einmal reüssieren?
Nehammer-Party mit Grünen
Der Zufall wollte es, dass am Abend des gleichen Tages an Kurz' früherem Arbeitsplatz eine Premiere über die Bühne ging. Karl Nehammer hatte die Abgeordneten des Grünen Klubs zu einem geselligen Abend ins Kanzleramt geladen. Bei Brötchen und diversen Getränken sollten der neue ÖVP-Hausherr und die Mandatare des kleinen Koalitionspartners einander auch persönlich näherkommen.
Mit den wichtigsten grünen Playern in Ministerien, Kabinetten und an der Klubspitze hat Nehammer selbstredend laufend Kontakt. Auch wenn es für Außenstehende seltsam anmutet: Für viele der Mandatare war die Möglichkeit einer mehr als nur formellen Begegnung mit dem ÖVP-Kanzler knapp ein Jahr nach dessen Einzug am Ballhausplatz tatsächlich eine Premiere.
Das kommt wohl auch daher, dass vielen Ökos auch nach bald drei Jahren gemeinsamen Regierens viele in der ÖVP nach wie vor nicht ganz grün sind. Auch ein Gros der ÖVP-Mandatare fremdelt nach wie vor mit den Grünen. Befremden bei den Türkis-Schwarzen löst auch nach wie vor aus: Der kleine Koalitionspartner fühlt sich seiner alten Rolle als Kontrollpartei auch auf der Regierungsbank verpflichtet.
Die beiden grünen Ausschussmitglieder Nina Tomaselli und David Stögmüller nehmen ihren Job im U-Ausschuss sehr ernst und keine besondere Rücksicht auf den großen Koalitionspartner. Sie befragen auch ÖVP-Auskunftspersonen freundlich, aber bestimmt und hartnäckig.
Durchregieren bis 2024
Teilnehmer des grünen Get-togethers mit Karl Nehammer haben den Event just am Abend des konfliktreichen Kurz-Revivals im ÖVP-Korruptionsausschuss dennoch als auffällig entspannt in Erinnerung. Der Gastgeber war besonders um gute Stimmung bemüht. In seiner kurzen Grußadresse an die grünen Mandatare appellierte der ÖVP-Kanzler massiv an die gemeinsame Verantwortung in der Regierung.
Angesichts der außergewöhnlich großen Herausforderungen sei es beidseitig geboten, entschlossen und geschlossen an einem Strang zu ziehen. "Nehammer war sehr verbindlich und hat mehrfach betont, dass er mit uns die volle Legislaturperiode bis Herbst 2024 durchregieren will", erinnert sich ein Teilnehmer.
Auch Sebastian Kurz hatte schon bald nach Amtsantritt versucht, stärkere soziale Bande Richtung Grünen Klub zu knüpfen, und die Abgeordneten zu einem abendlichen Treffen am Ballhausplatz eingeladen. Teilnehmer haben den Abend vor allem als besonders alkoholschwanger in Erinnerung.
Für eine nachhaltige Annäherung hat das aber nicht gereicht. Als die WKStA im Oktober des Vorjahrs eine Hausdurchsuchung wegen des Verdachts der Inseratenkorruption im Dunstkreis des Kanzleramts am Ballhausplatz und in der ÖVP-Zentrale anordnete, war bald danach das Tischtuch zwischen Kurz und den Grünen für immer zerschnitten. Karl Nehammer hat - erst als ÖVP-Generalsekretär und dann als Innenminister - den Aufstieg und Fall von Sebastian Kurz als Kanzler aus nächster Nähe erlebt.
Appell an die gemeinsame Verantwortung
Der in Kürze 50-Jährige weiß, dass er die Grünen braucht, um seine derzeit einzig mögliche politische Überlebensstrategie abzusichern. Bei Amtsübernahme gab es für den gelernten Informationsoffizier des Bundesheeres noch viele Vorschusslorbeeren.
Der neue Hausherr wurde, sowohl was seinen persönlichen Stil als auch was seine Gesprächsbereitschaft in alle Richtungen betrifft, als wohltuend empfunden. Putins Ukraine-Krieg, die Teuerungslawine und der Konjunktureinbruch haben die erwartungsvoll freundliche Anfangsstimmung inzwischen total ins Gegenteil gekippt. Das Krisenmanagement der Regierung und die Führungsqualitäten des Regierungschefs stehen unter Dauerfeuer.
Die ÖVP ist in Umfragen wieder auf das Niveau in der Ära vor Kurz abgestürzt, auch die persönlichen Werte des Kanzlers und ÖVP-Chefs sind im Keller.
Zwei Jahre hat Karl Nehammer maximal noch Zeit, um die ins Bodenlose gefallenen ÖVP-Werte wieder ins Positive zu drehen. Ein inhaltlicher Neustart in der Partei oder gar in der Regierung ist freilich weiter nicht auszumachen. Karl Nehammer himself ist seit Kurzem aber auffällig bemüht, sich stärker als Staatsmann zu inszenieren, um damit als Kanzler an Statur zu gewinnen.
So wurde kürzlich der 120. Geburtstag des ersten Nachkriegskanzlers Leopold Figl, an sich kein zwingender runder Feiertermin, mit einem Staatsakt im Kanzleramt begangen. Der ORF übertrug die von einem Philharmoniker-Orchester umrahmte Feierstunde an einem Sonntagmittag live.
Der Hausherr im Kanzleramt suchte in seiner Festrede einen Bogen von der Nachkriegszeit bis zu Putins Ukraine-Krieg zu spannen. Das Bild, das er zeichnete, war etwas holzschnittartig: Leopold Figl hatte als Nachkriegskanzler mit den Folgen von Hitlers Krieg zu kämpfen. Karl Nehammer tritt Jahrzehnte danach nun in die Fußstapfen des schwarzen Heros und hat sich mit Putins Waffengang herumzuschlagen.
Überraschend gute Nachrede
Mit einer anderen Rede konnte der gelernte Rhetorik-Trainer zuletzt aber bei einem Publikum punkten, das dem jahrelangen ÖAAB-Spitzenfunktionär Karl Nehammer distanziert gegenübersteht. Der Auftritt des Kanzlers beim Tag der Industrie Ende September hinterließ auch bei Topmanagern nachhaltigen Eindruck, die mit dem derzeitigen Team am Ballhausplatz wenig am Hut haben.
Der Kanzler teilte in seiner Rede nicht nur überraschend offenherzig gegen seine Gegenüber in der deutschen Regierung aus. Er ritt auch eine breite Philippika gegen "das Angstmachen als Teil der Kriegslogik". Zuvorderst suchte er sich aber als Herr der Lage zu präsentieren: "Wir sind für diesen Winter gerüstet und in der Lage, mit Herausforderungen umzugehen."
Nehammer kämpferisch: "Ein Gegeneinander in der Krise führt zu gar nix außer Angst. Das Miteinander und aufeinander Aufpassen, das ist ein Versprechen, das ich Ihnen mitgeben kann."
So eine "staatsmännische Rede" räsonierten prominente Manager und Unternehmer hinterher, hätten sie im Haus der Industrie am Schwarzenbergplatz von einem Kanzler schon lange nicht mehr gehört.
Teilnehmende Beobachter des Regierungsalltags erleben freilich nach wie vor auch einen anderen Karl Nehammer: "Er neigt in internen Sitzungen nach wie vor dazu, den Fokus aus dem Blick zu verlieren und sich in Details zu verlieren. Zuletzt wächst er zwar sichtlich etwas mehr in die Kanzlerrolle hinein. Er hätte dafür durchaus ein gewisses Potenzial. Es würde besser zur Geltung kommen, hätte er am Ballhausplatz ein professionelleres Umfeld."
Im Kanzleramt zieht statt des weltgewandten Wirtschaftsexperten Markus Gstöttner demnächst mit Andreas Achatz ein gelernter Polizist als Kabinettschef ein. Dass sich Nehammer mehr denn je lieber mit Vertrauten aus Innenministeriumstagen als mit einem breiter aufgestellten Team umgibt, lässt im ÖVP-Regierungsviertel neue Sorgenfalten aufkommen.
Eine Personalie ließ einige ÖVP-Leute dennoch interessiert aufhorchen. Der bisherige Kanzler-Sprecher Daniel Kosak wird sich ab sofort primär der "strategischen Kommunikation" des Kanzlers widmen. Das mit der Figl-2.0-Rede eröffnete Projekt soll damit offenbar zusätzlichen Rückenwind erhalten: Karl Nehammer erfindet sich neu und goes "New Hammer".
Was daraus wird, bleibt wenige Wochen nach Start der Neuerfindungsambitionen offen. Sicher ist derzeit nur, feixt ein Spitzen-Grüner: "Karl Nehammer weiß, dass seine weitere Karriere an den Grünen hängt."
Der Top-Grüne spannt machtbewusst auch einen Bogen zum jüngsten abendlichen schwarz-grünen Get-together, bei dem der Kanzler das Durchregieren bis 2024 beschwor: "Es ist für ihn politisch lebenswichtig, mit uns bis zum Ende der Legislaturperiode zusammenzuarbeiten. Nur so hat er theoretisch noch eine Chance, sich aus dem Skandalsumpf zu ziehen."
Der Artikel ist der trend. PREMIUM Ausgabe vom 13.10.2022 entnommen.