Die nächste Regierung? Die Planspiele um eine Koalition aus ÖVP, SPÖ und Neos werden VP-intern unterlaufen.
©PICTUREDESK.COM/APA/DRAGAN TATIC (2), PICTUREDESK.COM/TOBIAS STEINMAURER, iStockphotoTrotz EU-Urnengang rüsten alle bereits für den Machtwechsel im Herbst. Die zunehmende Aversion von ÖVP-Landesfürsten gegen einen „Bleiernen Dreier“ könnte eine Hintertür zu Blau-Türkis aufmachen.
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Karl Nehammer steigt noch einmal kräftig aufs Gas. Unter dem Motto „Gegen ein Verbrenner-Verbot“ und „Ja zum Auto“ lud der ÖVP- und Regierungschef am 3. Juni Topmanager der heimischen Autoindustrie sowie die Spitzen von Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung zu einem „runden Tisch“ ins Kanzleramt.
Wegen der jeden Dissens aussperrenden handverlesenen Einladungsliste hatten die gut zwei Dutzend Teilnehmer so gut wie keinen Diskussionsbedarf. Zwischen deren Eintreffen am Ballhausplatz und der abschließenden Pressekonferenz lagen so nicht einmal 90 Minuten. Einzig herzeigbares Ergebnis war denn auch ein wortreich begründeter Beharrungsbeschluss von Karl Nehammer: Ja für die freie Wahl des Treibstoffs fürs Auto und Nein zum EU-Verbrennerverbot.
Sechs Tage vor dem EU-Wahlsonntag zimmert sich Karl Nehammer noch einmal eine Bühne für seine Lieblingsrolle: Er inszeniert sich seit gut einem Jahr offensiv als „Mister Normalo“. Der Kurz-Nachfolger hofft, damit zumindest ein wenig an das Erfolgsrezept seines Vorgängers anzuschließen – und türkise Wähler am Überlaufen zu den Blauen zu hindern, wenn nicht gar zurückzugewinnen.
Die Position des Kanzlers in der Autofrage ist, sagen Meinungsforscher, durchaus populär. Der Zuspruch der Wähler in dieser Frage ist freilich weitaus größer als jener zur ÖVP.
In den Umfragen tritt die Kanzlerpartei weiterhin auf der Stelle. Optimisten in der Partei sagen, der dramatische Aderlass von bis zu 15 Prozentpunkten (seit dem All-Time High von 37,5 Prozent bei der NR-Wahl 2019) sei gestoppt. Pessimisten sehen die Talsohle mit den zuletzt in Umfragen für die EU-Wahl ausgewiesenen rund 22 Prozent noch nicht erreicht.
Absturzängste der Babler-SPÖ
Ähnliche Absturzängste treiben auch die SPÖ um, wo Andreas Babler am 9. Juni ebenfalls seine erste bundesweite Testwahl als neuer Parteichef zu bestreiten hat. Der Super-GAU des grünen Wahlkampfs zeitigt last minute auch bei den Roten überraschende Blüten. So wurde eine Woche vor der EU-Wahl der Architekt von zehn Jahren rot-grüner Rathaus-Koalition, Michael Häupl, via „Krone“ von Andreas Babler als „Mitglied des SPÖ-Expertenteams“ aus dem Hut gezaubert. Der einst populäre Ex-Bürgermeister soll Bablers plötzlich entflammter Offensive für die Renaturierungsverordnung der EU mehr Autorität verleihen. Klimaministerin Leonore Gewessler muss nämlich wegen des obstinaten Neins der ÖVP die Umsetzung dieses Herzstücks des Green Deals auf EU-Ebene weiter blockieren. Auf den letzten Metern bis zum Wahltag ist daher mit allen Mitteln roter Nahkampf um jede schwankende grüne Stimme angesagt.
Babler lässt in der Sonntags-„Krone“ stolz wissen, dass er bereits als Traiskirchner Bürgermeister erfolgreich einen Flusslauf renaturiert habe: „Sogar der Eisvogel ist zurückgekehrt. Am liebsten würde ich jeden einzelnen persönlich begrüßen.“
Wie viele neue Wähler Babler nach den Eisvögeln begrüßen kann, ist noch offen. Nach bescheidenen 23,9 Prozent bei der EU-Wahl 2019 haben die Sozialdemokraten nicht mehr viel zu verlieren. In Umfragen lag die SPÖ lange Kopf an Kopf mit der ÖVP.
Zuletzt hatte sie wiederholt die Nase vorne und rechnet sich so die Chance aus, hinter der FPÖ auf dem zweiten Platz zu landen – und damit mit Rückenwind in die Nationalratswahl zu starten.
Auch wenn es zuletzt beinahe täglich auf allen Medienkanälen Bühne frei für die EU-Spitzenkandidaten von Reinhold Lopatka bis Helmut Brandstätter hieß, dominiert hinter den Kulissen längst der Nationalratswahlgang die internen Weichenstellungen und strategischen Planspiele.
ÖVP und SPÖ brauchen einen Dritten
Dass die FPÖ auch bei der September-Wahl als Erste durchs Ziel gehen dürfte, gilt in allen Parteien als gesetzt und binnen der verbleibenden 15 Wochen bis zum Wahltag auch nicht mehr änderbar.
Der strategische Fokus liegt bei Rot und Schwarz längst darauf, hinter der FPÖ zu landen und den jeweils anderen auf Platz drei zu verweisen. Um dann vom Platz zwei aus – abseits der verfemten FPÖ – den Anspruch aufs Kanzleramt erheben zu können.
Denn hinter den Kulissen haben Mächtige in beiden Parteien längst die Weichen für eine Renaissance einer gemeinsamen Regierung von Rot und Schwarz gestellt. Wenn die Umfragen nicht trügen, reichen freilich allein die Stimmen für SPÖ und ÖVP schon lange nicht mehr aus, um über 50 Prozent und damit zu einer stabilen Regierungsmehrheit im Parlament zu kommen. Dafür bräuchte es zumindest eine dritte Partei – einen Startvorteil hätten dafür da wie dort die Neos.
Bei ÖVP-Länderfürsten löst diese Aussicht schon seit Wochen Horrorvorstellungen aus. Nicht wegen der Pinken, sondern wegen der Vorstellung, einen Dritten ins Regierungsboot holen zu müssen. „Ich will alles, nur keine Dreierkoalition“, sagt ein maßgeblicher schwarzer Landeschef. „Bei drei Regierungspartnern hat jede Entscheidung dreimal einen Preis. Man braucht ja nur nach Deutschland schauen, was das in der Praxis heißt.“
Zumal, so eine andere ÖVP-Spitze, „nach der Wahl aufgrund der überlasteten Budgets Schluss mit der Spendierfreudigkeit sein muss. Wir haben in der Pandemie die Staatskassa für alles und jeden weit auf-, aber danach nie mehr zugemacht. Die neue Regierung wird mit ein paar zentralen Projekten klare Prioritäten setzen müssen. Das heißt auf der anderen Seite, vielen Wünschen auch eine klare Absage zu erteilen.“
Hier Kompromisse mit der SPÖ zu finden, werde schon schwierig genug, so der Tenor von ÖVP-Ländergewaltigen. Dabei jeweils auch noch einen dritten Partner politisch leben lassen zu müssen, trage den Keim des Scheiterns in sich.
Wenn Blau-Türkis einzige Option für Zweierkoalition ist …
Wird hier hinter den Kulissen bereits Stimmung für ein Revival von Türkis-Blau unter neuen Vorzeichen gemacht? Sprich: Für den derzeit sehr wahrscheinlichen Fall, dass sich nach der Nationalratswahl nur mit der FPÖ eine Zweier-Koalition ausginge.
Das alles unter einem neuen ÖVP-Nachwahl-Motto: Jetzt gehe es nicht (mehr) allein um die Frage, ob die Kickl-FPÖ regierungsfähig sei. Ab sofort gehe es darum, ob das Land in instabilen Zeiten nur zu zweit regierbar sei und ob jede weitere Partei mehr am Kabinettstisch nur Chaos und Stillstand beschere.
Mächtige ÖVP-Länderfürsten winken aber ob des Verdachts einer taktisch frisch gestrichenen Hintertür Richtung Blau-Türkis noch vehement ab. Ihre interne Warnung vor einem „bleiernen Dreier“ solle allein dazu motivieren, die ÖVP so stark zu machen, dass diese ohne eine Zuwaage allein mit der SPÖ regieren kann. Die Karten in den Koalitionsplanspielen könnten freilich bald nach dem 9. Juni vollkommen neu gemischt werden.
Nicht primär infolge des Wahlausgangs, sondern wegen einer geheimnisumwitterten Gruppe, die schon seit Wochen hinter den Kulissen für Getuschel sorgt. Vor allem in ÖVP-Kreisen erzählt seit Wochen einer dem anderen: Bürgerliche Unternehmer mit ausreichend Budget und einem bereits fixen Wahlkampfprofiteam stünden Gewehr bei Fuß, um noch im Juni ihre Kandidatur bei der Nationalratswahl zu verkünden. Ähnlich der Liste Stronach sollen bevorzugt Wähler von ÖVP und FPÖ angesprochen werden.
Ein kolportierter Hintersinn des Projekts: Mit ihrem Antreten wolle die Gruppe auch eine Renaissance von Schwarz-Rot oder Rot-Schwarz verhindern. Denn, wenn schon ein Dreibund fürs Regieren notwendig sein werde, dann einer unter politisch Verwandten aus dem rechts-bürgerlichen Lager. Anstelle eines unberechenbaren Dreibundes mit zwei Antipoden links und rechts der Mitte samt einem liberalen Puffer.
Spekulationen über eine dritte Liste rechts der Mitte
Kolportierte Planspiele wie diese hält ein lang jähriger ÖVP-Stratege zwar „noch für pure Spekulation“. Einer dritten Liste im Lager rechts der Mitte gibt er aber durchaus Chancen: „Mit der Bierpartei gibt es bereits ein viertes ernsthaftes Angebot links der Mitte. Hier das Angebot zu verbreitern, könnte auch für das Lager Mitte-rechts Sinn machen: zum einen für Bürgerliche, die der ÖVP müde sind, weil sie für diese in der Koalitionsregierung zu verwaschen agiert. Zum anderen für Wähler, denen die FPÖ zu radikal ist.“
Dazu kommt, so der ÖVP-Intimkenner, dass die EU-Wahl im bürgerlichen Lager am Tag danach alles andere als abgehakt sein wird, sondern für eine nachhaltige Erschütterung sorgen könnte: „Wenn die FPÖ am 9. Juni tatsächlich klare Nummer eins wird und die ÖVP auf den zweiten oder dritten Platz verdrängt, dann ist das ein Erdbebeben: Zum ersten Mal in der Zweiten Republik ist das Dritte Lager tatsächlich ganz vorn. Da werden sich viele fragen: Wann schrillen jetzt endlich die Alarmglocken? Kann man da wirklich wieder zur Tagesordnung übergehen?“
„Man braucht ja nur nach Deutschland schauen, was drei Parteien in der Regierung in der Praxis heißt“, sagt ein VP-Landesfürst.
Der Artikel ist der trend. PREMIUM Ausgabe vom 7.6.2024 entnommen