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Nehammer verpatzt die Chance für einen Neustart [Politik Backstage]

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Nehammer verpatzt die Chance für einen Neustart [Politik Backstage]
Kanzler Karl Nehammers erste Erklärung zur jüngsten Detonation der türkisen "Zeitbombe" Thomas Schmid war kaum mehr als eine lauwarme Distanzierung von den ÖVP-Skandalen.©APA/Robert Jäger
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Die ÖVP schwankt in Sachen türkise Umtriebe zwischen Selbstmitleid und Selbstverteidigung. Warum Kanzler Karl Nehammer weiter laviert, ein Reformpaket halbherzig bleibt und zu spät kommen könnte.

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Was war das nun: eine aufrichtige Entschuldigung für die schwarzen Schafe bei den Türkisen? Eine geharnischte Rüge für die Opposition, die die Regierung neuerlich zur Rechtfertigung ins Parlament zwingt, obwohl diese weitaus wichtigere Dinge zu tun hätte? Ein Rundumschlag gegen alle Kritiker der ÖVP, die seit Monaten das politische Klima im Land nachhaltig vergiften würden?

Karl Nehammer bot am Allerseelentag von allem etwas. Nach den jüngsten Enthüllungen des Kronzeugen-Anwärters Thomas Schmid fand sich der Nationalrat zu einer Sondersitzung ein. Der Nachlassverwalter des türkisen Trümmerhaufens in Regierung und Partei sucht offenbar, alle Flügel in seiner Partei zu bedienen:

  • Jene Schwarzen, die erwarten, dass Karl Nehammer endlich einen Schlussstrich unter die Kanzlerschaft von Sebastian Kurz zieht.

  • Jene ÖVP-Kreise in Wirtschaft und Bundesländern, die von Nehammer & Co. mehr Initiativen in Sachen Bekämpfung von Energiekrise und drohender Rezession fordern.

  • Und schließlich jene, die immer noch hartnäckig dem gefallenen türkisen Messias nachtrauern.

Vor den Kurzianern hat der aktuelle Parteichef offenbar nach wie vor den größten Spundus. Denn am doppelbödigsten und undeutlichsten fiel jener Teil der Rede aus, der von seinen Propagandisten danach als Nehammers Befreiungsschlag verkauft wurde.

Lauwarme Distanzierung von Türkis

In Wahrheit beließ es der ÖVP-Regierungschef bei ein paar Sätzen wie diesen:

„Ereignisse der letzten Wochen haben ein schlechtes Bild gezeichnet. Wenn es diese Vorgänge gegeben hat, dann verurteile ich diese. Ich bin nicht so. Wir sind nicht so.“

Damit hatte es sich auch schon in Sachen türkise Vergangenheitsbewältigung. Der große Rest der Kanzlererklärung war weitaus klarer und kämpferischer – in Richtung seiner politischen Widersacher. Karl Nehammer wendet sich im Hohen Haus nicht an die Abgeordneten, sondern direkt an die Bürger:

„Das Bild ist miserabel. Während Krieg herrscht, wird der Ton im Parlament immer aggressiver. Während viele Sorgen haben wegen der Teuerung, reden wir hier über Neuwahlen. Ich möchte mich dafür bei Ihnen entschuldigen.“

Die erste öffentliche Erklärung des Kanzlers zur jüngsten Detonation der türkisen „Zeitbombe“ Thomas Schmid war von großen Erwartungen begleitet. Nicht einmal eine Woche danach ist der Effekt total verpufft. Weder die lauwarme Distanzierung von den ÖVP-Skandalen noch die lautstarke Abrechnung mit seinen politischen Gegnern sorgte für nachhaltige Debatten.

Schwarzes Baden im Selbstmitleid

Der Auftritt war freilich kein Unfall, er ist Teil einer Strategie, auf die Nehammer & Co nach wie vor eisern setzen. In der ÖVP haben weiter jene die Oberhand, die sagen, das, wofür die ÖVP jetzt am Pranger steht, war in Österreich seit Jahrzehnten gang und gäbe: Freunderlwirtschaft und Postenschacher, Inseratenvergabe gegen freundliche Berichterstattung und viele rechtliche und moralische Grauzonen mehr.

Der ÖVP-Fraktionsführer Andreas Hanger versucht seit Wochen, im ÖVP-Korruptionsausschuss zu thematisieren: Das heimliche Vorbild für Kurz, Schmid & Co. sei keiner der schwarzen Bundeskanzler von Leopold Figl bis Wolfgang Schüssel gewesen. In Sachen Machttechnik und Medienlenkung, proklamiert die ÖVP im U-Ausschuss, stand mit Werner Faymann ein roter Regierungschef Pate. Andreas Hanger stellte so zuletzt auch die rhetorische Frage: „Hat Herr Faymann das Beinschab-Tool erfunden?“

Eine Regierungspartei badet mehr als ein Jahr nach dem türkisen Kanzlersturz mehr denn je im Selbstmitleid: Warum immer nur wir? Im ÖVP-Regierungsviertel sehen sich viele nach wie vor als Opfer eines blöden Zufalls. Schmids vergessenes Handy-Back-up habe das via die ominösen Chats nur breit sichtbar gemacht: Postenschiebereien und Machtmissbrauch würden seit Jahrzehnten in allen Regierungskonstellationen hinter den Kulissen betrieben.

Da ist weder ihm noch seinen Nachfolgern zu widersprechen, sagen Repräsentanten anderer Parteien unter vier Augen. Freilich mit dem für sie gewichtigen Zusatz: „Aber es gab bisher niemanden in der Republik, der das so scham- und grenzenlos ausgebaut und gnadenlos exekutiert hat wie die Türkisen.“

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Der Kronzeuge: Nach seinem schweigsamen Auftritt im U-Ausschuss plauderte Thomas Schmid dieser Tage wieder vor der WKStA.

 © APA/Helmut Fohringer

Nachdenklichere Gemüter in den ÖVP-Büros des Regierungsviertels diagnostizieren so auch nüchtern: Die selbstmitleidige ÖVP-Strategie „Wir wollen und werden nicht für die Sünden aller anderen büßen“ verfange bestenfalls noch bei eingefleischten schwarzen Funktionären.

Als größtes politisches Versäumnis kreiden aber zunehmend mehr kritische Geister in der ÖVP dem aktuellen Parteichef und Kanzler an: „Karl Nehammer hatte schon vor dem Sommer die Chance versäumt, ein Offensivpaket gegen Postenschacher und Freunderlwirtschaft und für mehr Transparenz zu präsentieren“, so ein ÖVP-Mann. „An der Chat-Front war damals für Monate Ruhe eingekehrt. Nehammer hätte die Zeit nach seiner Wahl zum Parteichef im Mai auch für einen moralischen Neustart nützen können.“

Grüne machen nach Schmid-Geständnis Reformdruck

Nach den Schmid-Enthüllungen machen die Grünen wieder mehr Druck auf die Gesetzesvorhaben, die zum Teil seit zwei Jahren unerledigt auf Eis liegen: vor allem Nachschärfungen bei Antikorruptionsparagrafen für Politiker und eine Lockerung des Amtsgeheimnisses („Informationsfreiheitsgesetz“). „Bei seiner jüngsten Erklärung im Parlament hat der Kanzler diese offenen Punkte erstmals persönlich angesprochen“, resümiert eine Vertreterin der grünen Regierungsriege zufrieden und registriert auch wieder mehr Bewegung.

In Sachen Info-Freiheitsgesetz gab es jüngst in der Tat eine hochkarätige Verhandlungsrunde, angeführt von Kanzleramtsministerin Karoline Edtstadler und Vizekanzler Werner Kogler, mit den im Vollzug entscheidenden Ländervertretern, angeführt von Wiens Bürgermeister Michael Ludwig. „Es geht vor allem darum, wie tief reichend macht man das Auskunftsrecht, ohne den ganzen Betrieb lahmzulegen“, sagt ein ÖVP-Strippenzieher in der Regierung.

Wenn das so weitergeht, ist die Causa in einem Jahr anklagereif.

ÖVP-Insider

In Sachen Antikorruptionsparagrafen geht die ÖVP freilich immer offensiver mit dem legistischen Entwurf der grünen Justizministerin Alma Zadić ins Gericht: „Da steht ein Politiker wegen Mandatskauf schon im Kriminal, wenn er ein Fass Bier zahlt“, so ein ÖVP-Verhandler. Dennoch wollen die Türkisen und die Grünen nun reichlich spät in Sachen Transparenz und Anti-Korruption doch noch in Fahrt kommen, ringen aber derzeit weiter zäh um das spielentscheidende Kleingedruckte im Gesetz.

Lösen die Aussagen von Schmid eine neue Kronzeugen-Welle aus?

In der WKStA hat diese Woche Thomas Schmid neuerlich an mehreren Tagen mit Insiderwissen zu punkten gesucht, um endgültig in den ersehnten Kronzeugenstatus zu kommen.

Nach einem Jahr relativer Ruhe an der Enthüllungsfront könnte es für die ÖVP so noch einmal Schlag auf Schlag kommen. Unter dem Druck der Aussagen der Kronzeugin Sabine Beinschab dürfte Thomas Schmids Motivation massiv gestiegen sein, sich als Kronzeuge anzubieten. Nach den jüngsten Belastungsaussagen des Kronzeugen-Anwärters Thomas Schmid könnte bald der nächste Beschuldigte sein Heil als Kronzeuge versuchen.

„Wenn das so weitergeht, könnte die ganze Causa in einem Jahr anklagereif sein“, malt ein ÖVP-Regierungsinsider den Teufel an die Wand. „Ein erster Prozess könnte dann mitten in den nächsten Wahlkampf fallen.“

Der Artikel ist der trend. PREMIUM Ausgabe vom 11. November 2022 entnommen.

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