Bundeskanzler Karl Nehammer setzt mit Kurz-Rhetorik auf das Thema Asyl - die Wirtschaft wartet weiterhin auf einen "Wumms".
©APA/ROLAND SCHLAGERDie ÖVP sucht mit einem Revival der Kurz-Rhetorik in der Flüchtlingspolitik zu punkten. Das wird nicht nur vom grünen Koalitionspartner als “Nebelgranate” gewertet. In ÖVP-Wirtschaftskreisen wächst indes der Unmut ob der befürchteten Massenflucht von Industrie-Betrieben und Arbeitsplätzen. Es wird dringend ein "Wumms" nach deutschem Vorbild gegen die ungebremst hohen Gas- und Energiepreise gefordert.
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Die routinemäßige Sitzung des ÖVP-Parlamentsklubs Montag Nachmittag war an sich als Auftakt zur Marathonwoche im Hohen Haus rund um die Verabschiedung des Budget 2023 gedacht.Tatsächlich dominierte dann ein Thema: Asyl, Asyl, Asyl.
Vor allem in den Grenzgebieten im Burgenland herrscht aufgrund von täglich hunderten neuen Flüchtlingen der Eindruck, Österreich werde neuerlich von Asylwerbern überrannt. “Unser Problem ist nicht eine mangelnde Grenzkontrolle. Im Gegenteil, weil wir unsere Grenze wieder verstärkt kontrollieren, greifen wir so viele Flüchtlinge auf”, deponierte ein burgenländischer Mandatar in der ÖVP-Klubsitzung. “Unser Problem ist, dass die Leute das Gefühl gehabt, dass wir zu wenig unternehmen, um wieder mehr Herr der Lage zu werden.”
Auch wenn in der ÖVP zunehmend weniger Sebastian Kurz nachweinen, macht sich hinter vorgehaltener Hand die Stimmung breit: Ihm und seiner türkisen Truppe sei es zumindest kurzfristig gelungen das Bild zu vermitteln, die Lage im Griff zu haben.
An sich wäre es zuallererst an Innenminister Gerhard Karner hier Führungsstärke zu zeigen. Karner kennt das Ressort noch aus seiner Zeit als Pressesprecher von ÖVP-Innenminister Ernst Strasser. Anfang der 2000er Jahre war er führend daran beteiligt, den rot dominierten Polizei-Apparat ohne Rücksicht auf Verluste auf Schwarz umzufärben. Danach diente er Erwin Pröll mit Zuckerbrot und Peitsche über ein Jahrzehnt als Landesparteisekretär.
Karner schaffte es nie in die Landesregierung, ab 2015 war er als zweiter Landtagspräsident bereits im politischen Ausgedinge. Sein ehemaliger Mitarbeiter in der niederösterreichischen Parteizentrale Karl Nehammer holte Karner vor einem Jahr auf die Vorderbühne zurück und installierte ihn als seinen Nachfolger im Innenministerium.
Dort bewegt sich Karner auch ein Jahr nach Amtsantritt alles andere als trittsicher. “Außer Alarm zu schlagen und Zelte als Winterquartiere aufzustellen ist ihm zum Asylproblem bisher nicht viel eingefallen”, so der Tenor nicht nur im grünen Sektor des Regierungsviertels.
In der ÖVP machen nicht nur die mangelnde Performance des Innenministers, sondern auch die Umfragewerte der FPÖ Sorgen. Die nach Ibiza politisch am Boden liegenden Freiheitlichen nehmen in Umfragen bereits wieder den ersten Platz ein.
In den ÖVP-Reihen steigt daher massiv die Nervosität. Nach den toxischen Chats und dem ÖVP-Korruptionsausschuss droht die Wiederauferstehung der FPÖ die Noch-Kanzler-Partei weiter zu dezimieren. Viele fühlen sich so auch hier an 2015 erinnert. Auch nach der großen Flüchtlingsbewegung war die FPÖ am Weg zur Nummer 1.
Wögingers versuchter Befreiungsschlag bleibt rätselhaft
In der ÖVP drängten daher immer mehr darauf, Anleihe bei jenem Patentrezept zu nehmen, mit dem es Sebastian Kurz einst gelungen war, der FPÖ den Anspruch auf den Kanzlersessel erfolgreich streitig zu machen.
August Wöginger, Intimus von Ex-Innenminister Karl Nehammer, nahm jüngst Anlauf zu einem Befreiungsschlag. Der ÖVP-Klubobmann nutzte ein Standard-Interview zu den Korruptionsvorwürfen gegen ihn, einen Testballon steigen zu lassen.
Gust Wöginger attestierte der 70 Jahre alten Menschenrechts-Konvention eine Hürde in einem zeitgemäßen Umgang mit Flüchtlingen zu sein. Sein Vorstoß war wie vieles unter der derzeitigen ÖVP-Führung: Mehr aktionistisch als strategisch geplant. Mehr handgestrickt als durchkomponiert, mehr an der schnellen Schlagzeile als am langfristigem Erfolg orientiert.
Nach Wöginger deponierten auch zahlreiche Landespolitiker auf Nachfrage ihre Meinung zum Thema Asyl. Freilich so gut wie jeder mit einer anderen Stoßrichtung.
Internes Asyl-Wording der ÖVP listet mehr Fragen als Antworten auf
Wie unschlüssig die ÖVP ist, wohin sie mit ihrem schnellen Vorstoß am Ende will, illustriert das politische Wording, das der ÖVP-Klub Anfang der Woche an Mandatare und Mitarbeiter verschickte.
"Der Klubobmann hat zurecht die enormen migrationspolitischen Herausforderungen, vor denen Europa steht, angesprochen", heißt es einleitend. Aus Sicht der ÖVP sind dies:
Die EMRK ist mehr als 70 Jahre alt, da ist es legitim darüber zu diskutieren, wie sich ihre Auslegung entwickelt hat. Insbesondere da auch der EGMR die EMRK als „living instrument“ bezeichnet, die durch die Rechtsprechung stetig weiterentwickelt wird.
Das große Problem ist aber generell die EU-Asylgesetzgebung. Da braucht es endlich eine tabulose Diskussion auf EU-Ebene über Lösungen des Asylproblems.
Die EU hat in den letzten 7 Jahren wenig getan in diesem Bereich und aus der Flüchtlingskrise 2015 nichts gelernt.
Wir tun in Österreich alles, um uns zu schützen. Aber die einzige echte Lösung liegt auf europäischer Ebene.
Es braucht endlich ein neues Asylsystem in ganz Europa. Denn es kann und darf nicht sein, dass Wirtschaftsmigration und Flucht vermischt werden.
Die Genfer Flüchtlingskonvention regelt, dass es das Recht auf Schutz vor Verfolgung gibt und das ist gut so.
Sie besagt aber nicht, dass man sich das Land in dem man leben möchte einfach aussuchen kann – im Gegenteil: Flüchtlinge sollen im nächstgelegenen sicheren Land Schutz finden.
Der Rechtsrahmen ergibt, dass sich viele ohne Asylgründe und Schutzbedürftigkeit auf den Weg machen und das System ausnutzen.
Menschen, die Schutz benötigen, kommen so nicht zu ihrer Hilfe und müssen lange auf Entscheidungen warten.
Das Zusammenspiel der derzeit geltenden Rechtsvorschriften führt zum Missbrauch des Asylsystems im großen Stil, anstatt jenen Menschen Schutz zu bieten, die ihn auch wirklich brauchen und jene zurückweisen, die keine Schutzbedürftigkeit aufweisen.
Konkret greifbare Antworten oder umsetzbare Lösungsvorschläge bleibt das interne ÖVP-Papier schuldig. Bei grünen Koalitionspartner wird der schwarz-türkise Vorstoß in Sachen EMRK & Asyl so auch als “Ablenkungsmanöver” und “Nebelrakete” geortet - “eine diesmal besonders schlechte”.
Mangels konkreter Vorschläge, so der Tenor im grünen Lager, könne selbst dann, wenn auch die Ökopartei Veränderungsbedarf sähe, eine gemeinsame Regierungslinie verhandelt werden.
Von ÖVP-Insidern wird das unter vier Augen erst gar nicht in Abrede gestellt. “Wir wollten durch ein schärferes Wort mehr Aufmerksamkeit für ein wichtiges Thema schaffen. Ausgesprochen von einer Person, von der man es nicht erwartet hat, damit sich in den Köpfen etwas bewegt”, so die Begründung für den Wöginger-Vorstoß im ÖVP-Regierungsviertel.
Jetzt gehe es darum, konkrete Beispiele für Widersprüche zwischen gültiger Rechtslage und der Asyl-Praxis zu finden. Nachsatz in Richtung der Grünen: “Man wird aber nichts ohne den Koalitionspartner machen.”
ÖVP-Wirtschaftskreise fordern "Wumms" gegen Gaspreise nach deutschem Vorbild
Die Begeisterung über den holprigen Retro-Trip von Nehammer & Co ins Türkise hält sich auch bei Abgeordneten in der Kanzler-Partei in Grenzen. Vor allem in ÖVP-Wirtschaftskreisen werden die nebulosen Offensiven in Sachen Flüchtlinge skeptisch gesehen.
Sie würden sich ähnlich viel politische Energie für neue Krisenfeuer-Maßnahmen wünschen: Zur Vermeidung einer Massenflucht von heimischen Betrieben und Arbeitsplätzen ins kostengünstigere Ausland. Denn immer mehr Betriebe müssten ob der exorbitant steigenden und ungebremsten Gas- und Energiepreise um ihre Konkurrenzfähigkeit fürchten.
Industrie-Bosse vermissen Ansprechpartner wie Bernhard Bonelli am Ballhausplatz
In ÖVP-Sektor des Regierungsviertels wird freilich derzeit freundlich aber bestimmt auch ÖVP-Begehrlichkeiten nach neuen Wirtschaftshilfen eine Absage erteilt: “Jetzt ist es einmal genug. Wir müssen erst einmal die bereits gesetzten Maßnahmen bei den Energiepreisen wirken lassen.”
Die Unzufriedenheit im ÖVP-Wirtschaftsbund mit der ÖAAB-dominierten ÖVP-Regierungsspolitik birgt in den kommenden Wochen so wachsendes Potential für Konflikte. Der Frust über die, bislang unerfüllte, Forderung nach einem Wumms an der Gaspreis-Front nach deutschem Vorbild ist dabei immer weitere Kreise zu ziehen.
Industriebosse, die unter Nehammers Vorgänger einen direkten Draht zum damaligen Kabinettschef im Kanzleramt Bernhard Bonelli hatten, klagen: “Im Moment wüsste ich nicht einmal, wenn ich am Ballhausplatz anrufen soll, um für mehr Verständnis für die Anliegen von Industrie und Wirtschaft zu werben.”
Den gelernten Management-Profi Bonelli, der das Projekt-Handwerk bei Boston Consulting gelernt hatte, vermissen auch jene, die ihm politisch alles andere als nahe standen wie grüne Regierungsmitglieder und Abgeordnete: “Trotz inhaltlicher Unterschiede wusste bei ihm man immer, wie man dran ist, was sich politisch für die Türkisen und für uns ausgeht.”
Kanzleramt vergisst eigenen Gesetzesplan rechtzeitig im Parlament einzubringen
Vergangenen Dienstag wurde im Regierungsviertel auch an unerwarteter Stelle der Verlust an schlichten handwerklichen Grundlagen des Politikgeschäft schmerzlich sichtbar. Auf der Tagesordnung der finalen Parlamentssitzung 2022 sollte demnächst auch ein Vorhaben stehen, das jüngst von ÖVP-Jugend-Staatssekretärin Claudia Plakolm in stolz verkündet worden war: Die Erhöhung der Vergütung für die Zivildiener von 360 auf 500 Euro im Monat.
Der Plan diese 500 Euro per 1. Jänner auszuzahlen geriet ins Schleudern, weil das zuständige Bundeskanzleramt einfach vergessen hatte, die Regierungsvorlage zur notwendigen Begutachtung auszuschicken.
Nun soll ein parlamentarischer Kunstgriff das Regierungsvorhaben last minute vor einer Peinlichkeit retten: Dass wegen eines handwerklichen Blackouts am Ballhausplatz 14.000 Zivildiener zu Jahresbeginn um ihre 500 Euro umfallen.