In den pinken Kreisen von Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger (rechts) geht die Idee von „Bereichskoalitionen“ um
©Dragan Tatic/APABlau-Schwarz ist von Karl Nehammer kategorisch abgesagt, der Regierungspoker mit allen anderen Parteien ist nun neu eröffnet. Am Ende der dritten Woche nach der Wahl wachsen freilich die Zweifel an einer Dreier-Koalition Schwarz-Rot-Pink. Neos-intern gewinnt eine „Koalition light” an Boden.
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Die Szene liegt bald vier Jahre zurück und mutet im Rückblick nach wie vor sehr bizarr an. Im Dezember 2020 fanden sich im 6. Stock der Zentrale der Arbeiterkammer in der Wiener Prinz-Eugen-Straße an einem langen Konferenztisch Vertreter von höchst diametralen Welten ein: Auf der einen Seite des Besprechungstisches die rote AK-Chefin Renate Anderl, flankiert von ihren engsten Mitarbeitern und Experten. Auf der anderen Seite eine Delegation der Neos: Die beiden frischgebackenen pinken Mandatare Fiona Fiedler und Helmut Brandstätter - und der Gottseibeiuns der Linksangehauchten aller Lager, der Langzeit-Abgeordnete Gerald Loacker. Der Vorarlberger ist für Rote, Grüne und auch einige seiner eigenen Parteifreunde der Prototyp des kaltherzigen Neo-Liberalen, der immer wieder für heftige Debatten sorgte: von der Forderung nach einem schärferen Regime gegenüber Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern bis zu seinem Ceterum Censeo „Rauf mit dem Pensionsalter".
In diskreter Mission: Pinker „Klassenfeind“ Loacker bei roter AK-Spitze
„Es wurde sehr kontroversiell, aber zivilisiert diskutiert. Am Ende gingen beide Seiten mit dem Gefühl auseinander, dass man den anderen nun besser verstehe und ein Gespräch wie dieses durchaus sinnvoll und befruchtend sein kann”, erinnert sich ein teilnehmender Beobachter.
Ein maßgebliches Motiv für diese Begegnung erschließt sich aus einer tiefen Enttäuschung. 2020 neigte sich gerade das erste Jahr von Tükis-Grün dem Ende zu. Der damals in den eigenen Reihen noch strahlende Held der Wiederauferstehung der Machtmaschine ÖVP, Sebastian Kurz, hatte sich nach der Wahl 2019 ausgerechnet für die Grünen als Regierungspartner entschieden.
Noch drei Jahre zuvor hatte es hinter den Kulissen sehr konkrete Verhandlungen zwischen dem damaligen Außenminister Sebastian Kurz und Neos-Chef Matthias Strolz über eine gemeinsame Liste für die Zeit nach dem absehbaren Ende der zerrütteten rot-schwarzen Koalition gegeben. Das Projekt, das als Mitgift bei der Machtübernahme von Kurz in der ÖVP gedacht war, scheiterte daran, dass sich die Pinken von Kurz bald über den Tisch gezogen fühlten. Strolz erzählte zudem hinterher kopfschüttelnd gerne ein höchst ernüchterndes moralisches Erweckungserlebnis. Als er mit Kurz die Frage besprach, wie sie reagieren sollten, wenn die Geheimverhandlungen vor der Zeit aufflögen, beschied ihm dieser ohne mit der Wimper zu zucken: „Alles bestreiten.”
Pinkes Trauma: Grün sticht Neos bei Regierungspremiere aus
Als Kurz zwei Jahre nach Rot-Schwarz auch Türkis-Blau sprengte, war bei den tonangebenden Pinken das Scheitern der gemeinsamen Liste so weit verdaut, dass sie alles andere als von vornherein Nein zu neuen ÖVP-Avancen sagten, nach der Wahl im September 2019 gemeinsame Sache zu machen.
Für den in Sachen SPÖ maßlos allergischen ÖVP-Jungchef kam diese einmal mehr als Partner nicht in Frage. Die FPÖ schied nach dem Koalitionsbruch im Gefolge des Ibiza-Skandal aus. Aufgrund der Umfragen gingen Kurz & Co davon aus, dass sie fürs neuerliche Regieren mehr als eine der kleineren Parteien brauchten: Die Grünen und die Neos.
Das - nach dem Rauswurf aus dem Parlament 2017 - überraschend fulminante Comeback der Grünen mit 13,9 Prozent und die über den Prognosen liegenden 37,5 für die Türkisen ermöglichten für die ÖVP eine weitaus billigere Zweierkoalition. Die Neos wurden ein zweites Mal durch Kurz nachhaltig frustriert.
Ein langes Koalitions-Leben für die bis dahin größten Antipoden der Innenpolitik galt aber als höchst unwahrscheinlich.
Zuvorderst bei den neuerlich verschmähten Neos setzte sich nach dem ersten Wundenlecken die Einsicht durch: Für die Zeit nach dem erwarteten frühzeitigen Zerbrechen von Türkis-Grün müssten sich die Pinken beizeiten strategisch perfekt aufstellen. Nach der Implosion der Blauen und dem neuerlichen Scheitern von Türkis-Pink wollten sich die Neos für neue Varianten wie eine Ampelregierung paktfähig machen.
Das diskrete erste Beschnuppern zwischen der roten AK-Führungsriege und dem „Klassenfeind” Gerald Loacker, abgefedert durch weniger übel beleumundete Neos-Mandatare wie Brandstätter und Fiedler, war nur eine von vielen Initiativen der Neos, Brücken in fremdelndes politisches Terrain zu schlagen.
Bald vier Jahre nach Start dieser diskreten Aktion „Wandel durch Annäherung” schien nun die Zeit gekommen, die Früchte dieser Bemühungen zu ernten.
Wachsende Aversion gegen Dreier bei Schwarz & Rot
Nach den Blauen haben die Schwarz-Türkisen nun den zweiten Koalitionspartner auf Sicht verbrannt. Die meisten Umfragen vor der zurückliegenden Wahl legten nahe: Wenn Schwarz-Türkis in der Nach-Kurz-Ära das alte Bündnis mit den Roten wieder aufleben lassen will, brauchen sie einen Dritten im Regierungsbund. Wegen der massiven Aversion gegen die Grünen vor allem in der Wiener SPÖ und der Parole „Nie-mehr-wieder-mit-den-Ökos” vor allem beim ÖVP-Wirtschaftsflügel, schien der rot-weiß-rote Teppich für Beate Meinl-Reisinger & Co in Regierungsämter und Gestaltungsmacht gelegt.
Jetzt, wo es nach den erwartbaren ergebnislosen Gesprächs-Ehrenrunden zwischen Schwarz-Türkis & Blau ans Eingemachte Richtung einer Koalition von SPÖ, ÖVP und Neos gehen soll, wachsen da wie dort Zweifel am Sinn und dem Gelingen dieser Premiere auf Bundesebene.
In der ÖVP malen vor allem Wirtschaftsvertreter, aber auch Regierungspraktiker aus der ersten und zweiten Reihe Schreckensbilder: Von der im freien Fall befindlichen Ampel-Koalition in Deutschland bis zum Himmelfahrtskommando, ein Dreierbündnis im Koalitionsalltag zu managen.
In der SPÖ besteht null Interesse, eine vor allem in den zentralen Wirtschaftsfragen der ÖVP nahestehende Partei als Zünglein an der Waage zuzulassen. Dazu kommt das unausgesprochen Kalkül des Parteichefs: In einem Zweierbündnis, das mit 92 von 183 Mandaten mit nur einer Stimme Überhang eine Mehrheit hat, hat jeder der Handvoll Bableristen in den Abgeordneten-Reihen ein massives Gewicht.
Auch Pinke verlieren Lust am Dreier
Gleichzeitig plagen auch strategisch denkende Pinke immer mehr Bedenken: Da Schwarz & Rot zur Not auch allein regieren können, ist der Machthebel von Meinl-Reisinger, der Regierung ihren Stempel breit sichtbar aufzudrücken, überschaubar klein.
Noch ist offen, ob sich bei Schwarz & Rot die Anhänger einer Koalition durchsetzen, die nicht durch jeden schwarzen oder roten Abgeordneten erpressbar ist.
Eines wird aber auch in der pinken Führung rund um Beate Meinl-Reisinger immer mehr zur Gewissheit: Wenn die Pinken zum billigen Beiwagerl zur Machtabsicherung von Schwarz & Rot geraten, läutet sie im zweiten Jahrzehnt des Bestehens der Neos deren rasches Verwelken ein.
„Bereichskoalitionen” als Win-Win-Chance
In Neos-Zirkeln gewinnt so dieser Tage eine Idee aus pinken Anfangsjahren an Charme: Regierungen sollten sich im Sinne der Wähler politisch breiter aufstellen als durch Koalitionen mit Mehrheiten knapp jenseits von 50 Prozent. Konkret schlugen die Neos schon vor bald einem Jahrzehnt erstmals „Arbeitsübereinkommen mit der Opposition” vor - sprich konkrete Projekte, die über den Minimalkonsens einer Koalition hinausgehen und etwa im Fall des Bedarfs einer Zwei-Drittel-Mehrheit auch sichtbar die Handschrift einer oder mehrerer Oppositionsparteien tragen.
Die Idee einer Art Koalition light feiert so nun pink-intern eine Renaissance: Statt „alles mitmachen zu müssen und dabei als kleinster Partner unterzugehen”, so ein pinker Stratege, böten thematisch klar abgegrenzte Bereichskoalitionen für Regierung und Opposition eine Win-Win-Chance.
Im Fall der Neos würde sich das Thema Bildung als breites Betätigungsfeld anbieten: Hier braucht es in vielen Fällen eine Zwei-Drittelmehrheit - diesfalls eine politische Profilierungs-Chance für Neos und Grüne.
Hier geht andererseits aber auch ohne Einbindung der Länder nichts, die ausschließlich in schwarzen und roten Händen sind.
Ungewöhnliches Wahlergebnis! Ungewöhnliche Regierung?
Ein Neos-Mann fasst die aktuell in den eigenen Reihen kursierenden neuen Planspiele in Sachen Koalition versus Opposition so zusammen: „Wir hatten ein ungewöhnliches Wahlergebnis: Die Kanzlerpartei verliert 30 Prozent, der zweite Regierungspartei verliert 40 Prozent der Wähler. Der Bundespräsident fällt die ungewöhnliche Entscheidung, keinen Regierungsauftrag an jene Partei zu vergeben, die Erster geworden ist. Statt dessen will er, dass alle jetzt einmal miteinander reden. Warum kann und soll am Ende dieses ungewöhnlichen Prozesses nicht auch eine ungewöhnliche Form des Regierens stehen? Entweder erstmals in Form einer Dreier-Koalition, die aber alle drei Partner leben lässt. Oder in Form einer Zweier-Koalition, die alle Oppositionsparteien via Arbeitsübereinkommen zu Bereichskoalitionen einlädt.”
Ende der Woche 3 nach der Wahl ist die Debatte um eine Dreier-Koalition neu eröffnet: Klassisch oder light?