Noch sind die Koalitionsverhandler guter Dinge. Doch die Einsparungsvorgaben aus Brüssel könnten die geplante Dreierkoalition noch in die Luft jagen.
©APA/HELMUT FOHRINGERDiesen Sonntag liefert die EU-Kommission erstmals harte Zahlenvorgaben zur Budgetsanierung. Noch ist total offen, wie Türkis-Rot-Pink den Sprengstoff aus Brüssel entschärfen will oder ob das Dreiergespann doch noch in die Luft fliegt. Die Woche vor der Bescherung wird zu den D-Days für die Dreierkoalition.
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Es ist ein sehr ungewöhnliches Bild, das sich Mittwoch dieser Woche zu Sitzungsbeginn im Hohen Haus bietet. Auf der ausladend breiten Regierungsbank im Plenarsaal des Nationalrats sitzt allein Innenminister Gerhard Karner. Die mehr als ein Dutzend Stühle links und rechts von ihm bleiben auch den Rest des Vormittags gähnend leer.
Die bisherigen Stammgäste auf der Regierungsbank haben vis-à-vis in den Abgeordnetenreihen Platz genommen. Interims-Regierungschef Karl Nehammer verfolgt flankiert von ÖVP-Klubchef August Wöginger und ÖVP-Nationalratspräsident Peter Haubner von der ersten Reihe im ÖVP-Mandatarssektor aus die Debatte zum ersten Verhandlungsgegenstand des Tages, den die ÖVP als Heimspiel für den ÖVP-Innenminister inszeniert. Als Thema der „Aktuellen Stunde“, dessen Wahl turnusmäßig diesmal der Kanzlerpartei zusteht, hat diese einen aus ÖVP-Sicht aufgelegten Elfmeter gewählt: „Asylbremse: Maßnahmen, die wirken.“
Gerhard Karner spult routiniert jene Message herunter, die er schon seit Tagen via Funk, TV, Online- und Print-Medien gebetsmühlenartig verbreitet: Noch vor zwei Jahren seien im Jahresschnitt 80.000 illegale Migranten an der burgenländischen Grenze aufgegriffen worden, im heurigen Vergleichszeitraum „sind es dank unserer Polizei nur noch rund 4.000“.
Blau und Schwarz vertiefen Grabenkampf
Die FPÖ sucht einmal mehr die Schwarz-Türkisen als Schmiedl zu framen und mit Eiserner-Faust-Rhetorik dagegen zu halten. „Das sind alles wieder nur Pseudomaßnahmen“, wettert Hannes Amesbauer, FPÖ-Klub-Vize und Topkandidat als Landesrat der ersten blau-schwarzen Regierung in der Steiermark: „Unser Ziel ist die Null-Zuwanderung, das Boot ist übervoll.“
In seinem Rundumschlag gegen Karner & Co erklärt Amesbauer die zehntausenden syrischstämmigen Teilnehmer einer Kundgebung in Wien anlässlich der Vertreibung des Diktators Assad pauschal zu hochgefährlichen Zeitgenossen: „Sie schützen die Asylbegehrer und die Islamisten, aber nicht das eigene Volk. Die Demo gegen Nehammer wurde verboten, die der Syrer erlaubt.“
Den Fehdehandschuh Richtung FPÖ hatte schon davor einmal mehr der bullige ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker geworfen. Er nimmt direkter denn je deren Parteichef ins Visier: „Herr Kickl, es ist nicht nur so, dass Sie in diesem Haus niemand will. Es ist auch so, dass Sie in diesem Haus niemand braucht.“
Die FPÖ-Mandatare reagieren ob dieser besonders massiven persönlichen Attacke mit einem spontanen Zwischenruf, der als Distanz zu Kickl gedeutet werden könnte: „Sie aber auch nicht!“ Für ein weniger missverständliches „Sie schon gar nicht!“ hatte es in der Hitze der Wortgefechte offenbar nicht gereicht.
Das Gros der amtierenden ÖVP-Übergangsminister, von Susanne Raab über Klaudia Tanner bis Norbert Totschnig, sitzt den jüngsten türkis-blauen Stiefbruderkrieg gleich hinter dem Kanzler in der zweiten Abgeordnetenreihe nolens volens stillschweigend ab. Nur Noch-Verfassungsministerin Karoline Edtstadler macht sich eifrig Notizen.
Sie geht als einzige Übergangsressortchefin bald danach in ihrer Abgeordnetenrolle auch ans Rednerpult, um im Rahmen der anschließenden „Aktuellen Europa-Stunde“ in Richtung FPÖ zu proklamieren: „Es macht mich immer wieder fassungslos, wie Sie ungeniert mit den Ängsten der Menschen spielen.“
Allein Karoline Edtstadler wird wohl auch in der nächsten Nationalratssitzung Ende Jänner 2025 weiter auf ihrem Abgeordnetensessel verharren. Alle anderen aus der bisherigen Nehammer-Truppe hoffen in der zweiten Jännerhälfte wieder den Sprung zurück auf die Regierungsbank gemacht zu haben.
Die Chancen dafür, so der Tenor in allen drei Lagern diesen Mittwoch am Rande der letzten Nationalratssitzung 2024, stehen weiterhin günstig.
Rumpeliger Koalitionspoker-Start
Dem ging freilich eine rumpelige und persönlich oft von Null beginnende Annäherung voraus. Das ließ sich in den vergangenen Wochen im Regierungsviertel da und dort auch live beobachten. Etwa wenn die prononciert linke Vize-Obfrau des SPÖ-Parlamentsklubs Julia Herr und die kreuzbrave junge ÖVP-Jugend-Staatssekretärin Claudia Plakolm sich bei Almdudler und Tee in einer stillen Ecke des Parlaments erstmals persönlich beschnuppern, bevor sie das erste Mal am Verhandlungstisch als oberste Verantwortliche für einen der sieben Top-Themen-Cluster („Inflationsbekämpfung und Wohnen“) Platz nehmen.
In den ersten drei Wochen der offiziellen Regierungsverhandlungen für eine Dreierkoalition wurde dennoch ungewöhnlich oft und lautstark zum Fenster hinaus geredet statt diskret hinter verschlossenen Türen verhandelt. Der pinke Wirtschaftssprecher Sepp Schellhorn tat seine Verärgerung über das in einem Aufwaschen paktierte doppelte Gehalts-Plus für die Beamten 2025/26 kund. Die roten Budget-Verhandler drohten mit einer Verhandlungspause ob des zögerlichen Kassasturzes durch das ÖVP-Finanzministerium. Die ÖVP wiederum ließ sickern, dass die SPÖ-Finanzriege am Verhandlungstisch in gleicher Lautstärke die alten Wahlkampftöne in Sachen Vermögenssteuern anschlage.
Good News aus einigen Verhandler-Untergruppen
In den vergangenen Tagen nahmen aber die positiven Rückmeldungen aus einigen der 33 Untergruppen, die ein Regierungsprogramm erarbeiten sollen, zu. In der Untergruppe Bildung wurde etwa Dienstag bis ein Uhr früh um möglichst viele grüne Punkte gerungen. Alles, worin zwischen den drei Parteien Übereinstimmung herrscht, wird grün markiert. Wo es ein paar offene Fragen mit Aussicht auf Annäherung gibt: Orange. Dieser Bereich soll von den Verantwortlichen des jeweiligen Themen-Clusters noch einmal auf Konsens-Chancen abgeklopft werden. Wo sowohl in den Untergruppen als auch im Cluster-Management null Aussicht auf Einigung festgestellt wurde, wird „Rot“ an die Steuerungsgruppe weitergereicht. Dort haben die Parteichefs, flankiert von je vier Gefolgsleuten, das letzte Wort.
„In den letzten 72 Stunden wahrscheinlicher geworden“
Spielentscheidend wird am Ende aber nicht der offene Streit um Details sein, sondern das Gesamtbild, das sich aus Sicht der Koalitionswilligen bietet.
Von dort waren ab Mitte der zu Ende gehenden Woche Botschaften wie diese zu vernehmen. „In den letzten 72 Stunden ist es sehr viel wahrscheinlicher geworden, dass das wirklich was wird“, sagt ein Spitzen-Roter. „Das Klima in den Untergruppen ist sehr freundlich und konstruktiv“, berichtet ein ÖVP-Verhandler, der nicht zum ersten Mal einen Koalitionspakt schmiedet. „Es hat sehr zäh begonnen, aber schön langsam nehmen wir an immer mehr Schauplätzen Fahrt in die richtige Richtung auf“, meint ein pinker Unterhändler.
Die große Hürde ist und bleibt aber das für die Finanzminister-Partei ÖVP nachhaltig peinliche riesige Loch in der Staatskasse. Bis zum Wochenende war weiterhin offen, wie groß das Minus und damit der Konsolidierungsbedarf tatsächlich ist. Keine gemeinsame Linie gibt es auch, wie rasch und damit mit welcher Dosierung der Schmerzen die Wunsch-Koalitionäre den Staatshaushalt sanieren wollen.
Jedes Konsenskapitel im Regierungsprogramm bekommt nun ein Preisschild
Eines ist aber schon jetzt fix: Auch jene Kapitel im Regierungsprogramm-Entwurf, die in den Untergruppen bereits auf grün gestellt wurden, sind damit politisch noch nicht auf „Go“ gestellt. „Es hocken seit einigen Tagen nun die von allen drei Parteien nominierten Budget-Experten mit den Beamten im Finanzministerium zusammen und versuchen allen Vorschlägen ein Preisschild zu geben“, beschreibt ein Verhandlungs-Haudegen das Vorhaben, alle bereits konsensualen Vorhaben auf ihre Budget-Verträglichkeit abzuklopfen, plastisch.
Die politische Herkulesaufgabe steht Karl Nehammer, Andreas Babler und Beate Meinl-Reisinger aber erst bevor: Diesen Sonntag übermittelt die EU-Kommission die Zahlen für den „Budgetpfad“, den Österreich einschlagen muss. Sprich: Wie hoch – aus Sicht Brüssels – der jährliche Konsolidierungsbedarf tatsächlich ist. Und wie stark Türkis-Rot-Pink die Finanzschrauben anziehen muss, um unter der Drei-Prozent-Defizit-Grenze zu bleiben.
Die sogenannten Maastricht-Grenze nimmt Maß am jährlichen BIP. Ein Prozent Plus beim Defizit – wie derzeit in etwa für das laufende und auch das kommende Jahr angenommen – entspricht bei einem BIP von zuletzt rund 500 Milliarden Euro einem Konsolidierungsbedarf von fünf Milliarden Euro.
ÖVP-Option Blau-Schwarz erst nach Neuwahl reanimierbar
Im Regierungsviertel hat sich aber trotz dieses noch unbezwungenen Problembergs eine Einsicht unverrückbar breit gemacht: Die Dreierkoalition ist vor allem für die Parteichefs von ÖVP und SPÖ politisch und vor allem persönlich alternativlos. Wenn diese Regierungsverhandlungen tatsächlich scheitern, dann gibt es nicht Blau-Schwarz, sondern Neuwahlen. Denn die FPÖ, so die übereinstimmende Lageeinschätzung, wird sich nach der Abfuhr durch ÖVP und Bundespräsident nicht nachträglich doch noch an den Verhandlungstisch begeben. Zumal sich in der ÖVP auch weiterhin niemand aufdrängt, Karl Nehammer zu stürzen, um unter Herbert Kickl den Vizekanzler zu machen.
Die FPÖ hat zudem wenig Ambitionen, den verfahrenen Budgetkarren aus dem Dreck zu ziehen. Sie spekuliert lieber darauf, die bereits jetzt manifesten Zugewinne in den Umfragen (auf bis zu 35 Prozent) bei Neuwahlen auch zu realisieren.
Bescherung aus Brüssel am dritten Adventsonntag
In den verbleibenden zehn Tagen bis zum Weihnachtsfest ist daher im Palais Epstein High Noon angesagt. Wenn diesen Sonntag auf den Adventkränzen des Landes die dritte Kerze entzündet wird, erwarten die Verhandler ihre Bescherung aus Brüssel: Die Zahlen für den „Referenzpfad“ der EU-Kommission zur Budgeterstellung für die kommenden vier Jahre.
Was technokratisch trocken klingt, ist politischer Sprengstoff. Nehammer, Babler & Meinl-Reisinger stehen ab Montag vor der ultimativen Herausforderung, das unweihnachtliche Packerl aus Brüssel mit den Budget-Sanierungsvorgaben gemeinsam erfolgreich zu entschärfen. Können sie sich nicht auf einen Mix aus Ausgabenkürzungen und Einnahmenerhöhungen einigen, dann lösen sich ihre hochfliegenden Pläne für die erste Dreierkoalition des Landes mit einem nachhaltigen Knall endgültig in Luft auf.
„Sind in Wahrheit noch in der Aufwärmphase“
„In Wahrheit waren wir in den vergangenen Wochen bei den Verhandlungen nach wie vor in der Aufwärmphase“, sagt ein Verhandler, der einen breiten Überblick über die bisherigen Ergebnisse hat. Die vom Gros der 300 Unterhändler in den eigenen Parteireihen verbreitete Stimmung, es gehe überraschend viel weiter, deckt sich weitgehend mit dem Verhandlungsklima in den Kleingruppen. Das Bild, das damit auch nach außen geprägt wurde, trügt freilich.
Die zwei wirklich zentralen Fragen sind nach wie vor total offen: Wie schmerzhaft muss die Budgetsanierung ausfallen – die Oesterreichische Nationalbank (OeNB) liefert dazu aktuell neue Zahlen –– und mit welchen Leuchtturmprojekten kann eine Dreier-Koalition trotz des Budget-Blutbads zu punkten versuchen?
Das liegt auch daran, dass die Hundertschaften von Unterhändlern vor bald vier Wochen nur mit dem allgemeinen Auftrag in die Verhandlungen entsendet wurden, in ihren jeweiligen Fachgruppen einen politisch belastbaren Konsens zu erarbeiten.
Last-Minute-Leuchtturm-Projekte fieberhaft gesucht
Besondere Wünsche oder gar politische Vorgaben aus den Parteizentralen gab es nicht. So soll etwa bereits grünes Licht für eine überfällige Valorisierung des Bildungsbudgets, eine Einigung in Sachen Bundesstaatsanwalt oder beispielsweise ein Aus für das höchst umstrittene System der Kettenverträge für das Uni-Lehrpersonal erzielt worden sein.
Womit gegenüber der jeweiligen Klientel durchaus Punkte zu machen sind, vermag aber die breite Wählerschaft nicht zu beeindrucken. Zumal von allen drei Parteien als Parole ausgegeben wurde: „Kein weiter wie bisher.“
Was die Parteispitzen bislang schleifen ließen, müssen sie nun last minute nachholen. Wenn über das bevorstehende Wochenende die letzten Berichte aus den Untergruppen in den Büros der Verhandlungsspitzen eintrudeln, werden überall die Köpfe rauchen, was sich davon als „Kein weiter wie bisher“ vermarkten lässt.
Neos-Spitze geht übers Wochenende in Klausur
Bei den Neos will Beate Meinl-Reisinger auf Nummer sicher gehen und sich nicht allein auf die mit grün-gelb-roten Ampel-Signalen versehenen Untergruppen-Berichte verlassen. Ab diesem Freitagmittag zieht sich die Neos-Chefin mit den pinken Verhandlungsspitzen und engsten Vertrauten zu einem Brainstorming zurück.
Klassenziel fürs kommende Open-End-Wochenende: Meinl-Reisinger will kommenden Dienstag bei zentralen Neos-Anliegen wie Pensionen, Bildung und Medien konkrete Vorschläge für Leuchtturmprojekte in der türkis-rot-pinken Steuerungsgruppe auf den Tisch legen. „Sich auf ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr zu einigen mag gut und schön sein“, sagt ein Neos-Verhandler, „Aber eine neue Regierung muss angesichts der Herausforderungen mit größeren Ambitionen an den Start gehen. Beispielsweise damit: Unser gemeinsames Ziel ist, dass in fünf Jahren alle Kinder, die in die Schule kommen, ausreichend Deutsch können.“