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„Politik Backstage“: Last Exit Bürgermeister-Koalition

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Erst 2019 – mit 59 – stieg der Wiener Neustädter Rechtsanwalt Christian Stocker als Nationalratsabgeordneter in die Bundespolitik ein. Sechs Jahre später soll er als erster schwarzer Kanzler einer ÖVP-SPÖ-Koalition seit 1966 die Republik regieren.

©Helmut Graf / Heute / picturedesk.com
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Mit Christian Stocker und Andreas Babler wollen zwei gelernte Kommunalpolitiker die Führung der krisengebeutelten Republik übernehmen. Und wie Harald Mahrer und Wolfgang Katzian die eingerostete Sozialpartnerachse schmieren, um Schwarz-Rot zum Laufen zu bringen.

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Am 3. Jänner saß ÖGB-Chef Wolfgang Katzian bereits in der AUA-Maschine nach Washington, als „Breaking News“ ganz Österreich aus der nachweihnachtlichen Ferienstimmung rissen. SPÖ-Bundes-geschäftsführerin Sandra Breiteneder informierte den Gewerkschaftsboss via Handy, dass Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger die Verhandlungen für eine Dreierkoalition platzen lässt.

Der Gewerkschaftsvertreter im sechsköpfigen roten Spitzenverhandler-Team wurde wie alle Beteiligten vom überraschenden Ausstieg der Pinken aus dem Koalitionspoker auf dem falschen Fuß erwischt, machte aber keine Anstalten, seine Reisepläne platzen zu lassen. „Es war lange geplant, dass ich als Sprecher bei einem internationalen Panel der amerikanischen Gewerkschaft in die USA reise“, ließ er bei seiner Rückkehr nach zehn Tagen trocken wissen. Der 68-jährige ÖGB-Vorsitzende ist stolz darauf, 2023 auch zum Chef der Europäischen Gewerkschaft gewählt worden zu sein, sagen ÖGB-Insider, und kostet die Freude an diesem Job, wo immer er kann, aus.

Am Tag danach platzte dann auch die Option Zweierkoalition. Der finale Crash beim gescheiterten Anlauf zur Rückkehr der SPÖ in Regierungsämter zum Dreikönigswochenende hat auch bei Wolfgang Katzian nachhaltig Spuren hinterlassen. In einer solchen Situation einen Trip zu einem Kongress nicht sofort abzubrechen und zu retten zu versuchen, was noch zu retten ist, trug Katzian hinter seinem Rücken die Nachrede ein: Seine Vorgänger im ÖGB hätten ihren Job als tragende Säulen der Republik weitaus ernster genommen als der amtierende Gewerkschaftschef.

Ultimativer Härtetest für Sozialpartner

Abseits persönlicher Befindlichkeiten ließ diese Episode im Regierungsviertel auch generell Zweifel sprießen, ob die gerade in Krisenzeiten viel beschworene Sozialpartnerschaft noch eine entscheidende Rolle in der Politik spiele.

Der dritte Anlauf zu einer möglichen Regierung bald fünf Monate nach der Nationalratswahl am 29. September 2024 wird damit auch zum ultimativen Härtetest eines Gründungsmythos der Zweiten Republik: der tatsächlichen Tragfähigkeit der nicht nur bei Lohnverhandlungen, sondern bislang auch in vielen politischen Krisen bewährten Achse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

„Das Verhältnis zwischen den Sozialpartnern war in den letzten Jahren ziemlich gestört. Jeder hat sich vor allem um seinen eigenen Schrebergarten gekümmert. Einige sind nur noch am persönlichen Profilierungstrip“, so ein Spitzengewerkschafter und langjähriger Insider des Sozialpartner-Alltags. „Bei den Kollektivverträgen funktioniert alles nach wie vor sehr gut, aber es gibt nur noch wenige, die über den Tellerrand hinausblicken.“ Seit Mitte Februar auch die – vor allem von namhaften Repräsentanten der Industriellenvereinigung forcierte – blau-schwarze Koalitionsoption perdu war, sehen sich beide Sozialpartner-Lager über Nacht wieder gefordert.

Mahrer und Katzian beim „Durchrütteln“

„Wir werden uns jetzt mit dem Wolfgang Katzian zusammensetzen und im Vorfeld an Lösungen arbeiten“, proklamierte unmittelbar danach ein prominenter Wirtschaftsbündler. Wolfgang Katzian formuliert das hinter den Kulissen gerne so: „Wir werden das alles jetzt durchrütteln und schauen, was dabei am Ende herauskommt.”

Mit Christian Stocker und Andreas Babler sollen zwei gelernte Kommunalpolitiker die Führung der krisengebeutelten Republik übernehmen. Der gelernte Rechtsanwalt Stocker stieg erst 2019 mit Ende 50 als ÖVP-Nationalratsabgeordneter in die politische Bundesliga ein. Davor war er Gemeinderat und zuletzt auch Vizebürgermeister in Wiener Neustadt.

Babler, der dieser Tage 52 Jahre wird, hat es trotz großen Sendungsbewusstseins wegen großer Vorbehalte in den eigenen Reihen der niederösterreichischen SPÖ nie weiter als zum Bürgermeister von Traiskirchen gebracht.

Beginnend mit dem vergangenen Wochenende wird nun hinter den Kulissen zuallererst die klamme Staatskassa durchgerüttelt. Bevor es in formelle Koalitionsverhandlungen gehen kann, wollen Christian Stocker und Andreas Babler, flankiert von einer Handvoll Experten, die Sanierungsmaßnahmen für ein Doppelbudget 2025/26 endgültig außer Streit stellen.

Am 6,4 Milliarden schweren Sparpaket, das Finanzminister Gunter Mayr im Auftrag der blau-schwarzen Verhandler Anfang Februar nach Brüssel gemeldet hatte, soll es lediglich ein paar Retuschen geben. Am Verhandlertisch liegt mit einem weiteren Sparbedarf von rund 18 Milliarden für die kommenden Jahre freilich ein noch weitaus schwererer Brocken. „Die Eckpfeiler, wie wir damit umgehen, müssen feststehen, bevor es zu einer gemeinsamen Regierung kommt“, so ein ÖVP-Verhandler. Zumal Experten nicht ausschließen, dass der Sparbedarf bei zusätzlichem wirtschaftlichem Gegenwind noch größer werden könnte.  

Die Prognosen, dass es im zweiten Anlauf zur kleinstmöglichen Großen Koalition etwas werden könnte, sind ähnlich optimistisch wie bei den anderen Varianten. 70 zu 30 veranschlagt ein prominenter ÖVP-Exponent die Abschlusschancen, sieht dafür das Verhandlungsgegenüber aber besonders gefordert: „Die SPÖ muss sich entscheiden, wer bei ihr am Ende das Sagen hat.“

Ludwig setzt auf rotes „Kollegialorgan“

Das SPÖ-Präsidium hat diesmal den Chef der Fraktion Sozialistischer Gewerkschafter (FSG) und Bau-Holz-Gewerkschaftschef Josef „Beppo“ Muchitsch als Spitzenvertreter des ÖGB ins rote Verhandlungsteam nominiert. Das liegt zuvorderst daran, dass Muchitsch diese Rolle im Finale der gescheiterten Dreier- und Zweierkoalitionsverhandlungen bereits vom offiziellen ÖGB-Vertreter im SPÖ-Team, Wolfgang Katzian, übernommen hatte.

Michael Ludwig deponierte beim SPÖ-Chef mit Nachdruck, dass Babler Ludwigs Vertraute Doris Bures diesmal nicht nach Gutdünken bei Verhandlungen außen vor lassen könne. Die Weichen würden, so Ludwig, nicht allein vom Verhandlungsführer, sondern vom fünfköpfigen roten Team „als Kollegialorgan“ gestellt. Ludwig setzt darauf, dass diesmal der ewige Juso Babler von den roten Realos Doris Bures, Beppo Muchitsch, Philip Kucher und Eva-Maria Holzleitner bis zum Schluss erfolgreich „eingehegt“ werde und nicht neuerlich zum Stolperstein für einen Neustart der Zusammenarbeit von SPÖ und ÖVP wird.

SPÖ will Milliarden-Konjunkturspritze

Weitgehend außer Streit gestellt ist bereits die beim gescheiterten Anlauf zu einer Zweierkoalition zum Megakonflikt gehypte Anhebung der Bankenabgabe. Was Insider schon damals wussten, ein für beide Seiten gesichtswahrendes Kompromissmodell lag abschlussfertig schon am Tisch: Wohnungs- und Hauskredite sowie Unternehmensinvestitionen sollen – mit Verweis auf die zuletzt außerordentliche Ertragslage – seitens der Banken zeitlich befristet und summenmäßig gedeckelt besonders günstig angeboten werden.

In den Vordergrund des präkoalitionären Tauziehens rückt jetzt ein anderer milliardenschwerer Brocken. „Wenn wir unseren Leuten derart viele Sparmaßnahmen und gleichzeitig den Verzicht auf Vermögenssteuern zumuten müssen, dann brauchen wir ein anderes klares positives Zeichen“, sagt ein Babler-Genosse. Ein mit rund 20 Milliarden Euro dotierter Transformationsfonds soll aus SPÖ-Sicht helfen, die Wirtschaft und damit auch die Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen anzukurbeln.

Die mit rund zwei Milliarden pro Jahr veranschlagte Fördersumme zum rascheren Umbau der Wirtschaft in Richtung ökologisches und digitales Zeitalter kann und soll nicht aus dem ohnehin klammen Staatshaushalt aufgebracht werden. „Wie bei Bauvorhaben der Asfinag übernimmt der Staat nur die Haftung für die notwendige Fremdfinanzierung“, so ein SPÖ-Wirtschaftsmann. Im Fall von Start-ups soll der Staat auch als finanzkräftiger Minderheitsgesellschafter einsteigen können – mit der verbrieften Aussicht, sich darüber hinaus aller Einflussnahmen zu enthalten und nach Erreichen der wirtschaftlichen Flughöhe wieder zur Gänze zurückzuziehen.

„Jetzt müssen wir einmal schauen, wie granular das ist, was seitens der SPÖ beim Budget vorgelegt wird“, proklamiert ein ÖVP-naher Sozialpartnervertreter. Das ÖVP-Verhandlerteam ist mit Christian Stocker nicht nur an der Spitze anders aufgestellt, sondern auch neu gefordert. Der in der Spitzenpolitik spätberufene Anwalt aus Wiener Neustadt saß schon an der Seite von Ex-ÖVP-Regierungs- und Parteichef Karl Nehammer mit Rot, Pink und Blau am Verhandlungstisch und wird von allen Seiten als „pragmatisch, unaufgeregt und um Verbindlichkeit bemüht“ beschrieben.

Kräftemessen der ÖVP-Bünde

Bündemäßig ist Stocker nirgendwo stark verankert. Am schwarz-türkisen Mega-Krisen-Wochenende zu Dreikönig, als mit dem Platzen von Türkis-Rot auch Karl Nehammer das Handtuch warf, mutierte Wirtschaftsbund-Chef Harald Mahrer über Nacht zum ÖVP-Königsmacher. Gemeinsam mit dem Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer installierte er Christian Stocker als neuen ÖVP-Chef und Vizekanzler-Anwärter unter Herbert Kickl.

Der Nehammer-Nachfolger baut seine Autorität primär darauf, den Job übernommen zu haben. „Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er sich das antut. Denn es hat sich nach Nehammer keiner aufgedrängt, die Parteiführung zu übernehmen“, sagt ein ÖVP-Spitzenmann.

Nach der massiven Schwächung des ÖAAB-Lagers durch den Rückzug des eingefleischten ÖAAB-Funktionärs Nehammer ist an der vordersten Verhandlerfront noch nicht endgültig entschieden, wer in Streitfragen am Ende das Sagen hat. Der ÖVP-Wirtschaftsbund und damit der Arbeitgeberflügel der Sozialpartner hat jüngst an Gewicht gewonnen, zuletzt aber auch schmerzhaft Federn lassen müssen.

Bei den blau-türkisen Verhandlungen definierten ÖVP-intern zuvorderst Wirtschaftskammer-Chef Harald Mahrer und sein frischgebackener Generalsekretär, der frühere oberösterreichische Landesrat Wolfgang Hattmannsdorfer, zentrale rote Linien der Schwarz-Türkisen. In Sachen EU plädierten sie von Anfang an dafür, Herbert Kickl und die potenziellen blauen Minister an die Regierungsleine zu nehmen. Offiziell wurde es als „Lex Gewessler“ verkauft, dass künftig jedes Minister-Votum in Brüssel regierungsintern vorab zustimmen ist. Ein Alleingang wäre ein klarer Bruch des Koalitionsabkommens.

Vorsorglich gewappnet hatten sich die Wirtschaftsbündler im ÖVP-Team auch gegen Wünsche der Blauen, mit neuen plebiszitären Instrumenten dem Populismus zusätzlich Tür und Tor zu öffnen. „Da kam weitaus weniger, als zu befürchten war“, resümiert ein Verhandlungsteilnehmer, „offenbar hat sich in der FPÖ die Angst vor dem Zauberlehrlingssyndrom durchgesetzt.“

Sprich: Im Zeitalter von Social Media mussten die Erfinder von neuen und niederschwelligen politischen Mobilisierungsinstrumenten damit rechnen, dass diese in Spar- und Sanierungszeiten auch gegen deren Erfinder auf blauen Ministersesseln erfolgreich eingesetzt werden.

Vor allem in ÖVP-Industriekreisen macht sich Bedauern über das Misslingen des Kabinetts Kickl-Stocker breit. Ein Spitzenmann der Industriellenvereinigung kleidet das um Diplomatie bemüht in den Satz: „Ich hoffe, dass die ÖVP jetzt ausreichend Verantwortung zeigt und diesmal die Verhandlungen nicht wegen einer zweitrangigen Einzelfrage wie der Besetzung eines Ministeriums scheitern lässt.“

Im ÖVP-Wirtschaftsbund sank zwar mit zunehmender Sturheit der Blauen, sich in Sachen EU an die Kandare nehmen zu lassen, die Bereitschaft, sich mit den Blauen auf eine Regierung einzulassen. Gleichzeitig gingen aber ÖVP-intern die Meinungen auseinander, was auf dem Altar eines blau-türkisen Kompromisses geopfert werden kann.

Dass Christian Stocker mit Zähnen und Klauen auf einem ÖVP-Chef für das Innenressort beharrte, aber bereit war, die Schlüsselposition des Finanzministeriums den Blauen zu überlassen, sorgte für nachhaltige Verstimmung im bis dahin halbwegs rund laufenden neuen ÖVP-Führungstrio Christian Stocker, Harald Mahrer und August Wöginger. Im ÖVP-Wirtschaftsbund ging gar der Wunsch um, Harald Mahrer solle im ÖVP-Parteivorstand gegen ein blau-türkises Regierungsabkommen als Zeichen des Protests votieren. Mahrers persönliches Bedauern ob des Scheiterns eines Kabinetts Kickl-Stocker hält sich freilich in Grenzen. Der Wirtschaftskammer-Chef läutete als Erster mit dem Sager von Kickls Machtrausch die Totenglocke für Blau-Schwarz.

Fakt ist aber auch, dass der Wirtschaftsbund-Chef mit Beginn des neuen schwarz-roten Koalitionspokers bislang primär seinen Generalsekretär Wolfgang Hattmannsdorfer an den schwarz-roten Verhandlungstisch delegierte. „Mahrer nimmt sich wegen der im März bevorstehenden Kammerwahlen raus und will sich nicht mit Zugeständnissen an Babler belasten“, sagt ein langjähriger Mahrer-Kenner im ÖVP-Wirtschaftsbund.

Kickls „Brot und Spiele“

Im Regierungsviertel wird vice versa aber nach wie vor räsoniert, wie es dazu kam, dass am Ende nicht die ÖVP vom Tisch aufstand, sondern Herbert Kickl den Regierungsbildungsauftrag zurücklegte. Der anfangs gerne bediente Reflex „Kickl hat sich verzockt“ hält nach Rückkopplung mit der Sicht des FPÖ-Chefs einem Reality-Check nicht stand.

Kickl hatte im engsten blauen Verhandlerkreis die Devise ausgegeben: „Wir brauchen das Innenministerium, um bei Asyl und Migration Flagge zu zeigen und unsere Kernwähler bei Laune zu halten. Wenn wir das nicht tun können, verlieren wir unnötig viele Stimmen bei der Sanierung der Republik.“

Frei nach dem Motto, wer politisch Erfolg haben will, müsse für „Brot und Spiele“ sorgen: Wenn es schon weniger „Brot“ via Finanzministerium zu verteilen gäbe, dann müsste die FPÖ umso mehr „Spiele“ via Innenministerium bieten können. Sprich: die blaue Wählerklientel mit einem besonders scharfen Programm in Sachen Ausländerpolitik „bei Laune halten“. 

FPÖ-Insider sagen: Kickl beharrte deshalb sowohl auf dem Finanzministerium als auch auf dem Innenministerium, um beide offenen Flanken möglichst präzise selbst bedienen zu können.

„Der Kanzler war ihm nicht so wichtig, dass er dafür eines dieser politischen Steuerinstrumente geopfert hätte“, sagt ein FPÖ-Verhandler. „Kickl geht davon aus, dass die künftige Zweierkoalition ihm neue Wähler bescheren wird und es die ÖVP beim nächsten Mal wird billiger geben müssen.“ Vollmundige FPÖ-interne Prognose: „Die ÖVP ist beim nächsten Mal nur noch Dritter. Viel Spaß der ÖVP nach den nächsten Wahlen bei dem ‚Wünsch dir was‘, das sie schon diesmal erfolglos mit uns versucht hat.“

Lesen Sie den Artikel in der trend.PREMIUM Ausgabe vom 21. Februar 2025.


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