
Mit drei Klausurtagen binnen fünf Regierungswochen will die Dreierkoalition Arbeitseifer signalisieren. Ob der überschaubaren Substanz der bisherigen Vorhaben macht sich in der Wirtschaft erste Enttäuschung breit. Das Gros der Bevölkerung gibt überraschend große Vorschuss-Lorbeeren.
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- Nach Neos-Chefin nun auch der ÖVP-Kanzler am „Spiegel“-Cover
- Parole: Jeder lobt jeden im Kabinett
- Meinl-Reisinger zieht Image-Notbremse
- Die „Kanzlerpartei braucht ein Thema“
- Klausuren am Fließband sollen Bild einer Arbeitsregierung prägen
- „Peinlich und ernüchternd“
- Türkis-Rot-Pink startet mit viel Goodwill
Es ist Mittwoch kurz nach halb zwei Uhr Nachmittag, als Andreas Babler mit zwei seiner engsten Vertrauten den Innenhof des Kanzleramts aufsucht. Dort, wo nur noch einige schwarze Limousinen darauf warten, die letzten Teilnehmer der Regierungsklausur zurück in ihre Büros zu chauffieren, verzieht sich der Vizekanzler und neuerdings auch Chef des Bundesministeriums für Wohnen, Kunst, Kultur, Medien und Sport (BMWKMS) in eine Ecke des Innenhofs, um sich eine Entspannungszigarette anzuzünden und gemeinsam mit seiner Kabinettschefin und Ex-SPÖ-Bundesgeschäftsführerin Sandra Breiteneder und Pressesprecherin Raphaela Pammer den Tag Revue passieren zu lassen.
Die zweite mehrstündige Zusammenkunft der Minister, Klubobleute, engsten Kabinettsmitarbeiter und zeitweilig auch externen Experten von WIFO und AMS im Kanzleramt ist nach innen und außen hin unfallfrei über die Bühne gegangen. Das ist aus Sicht des ehemaligen Traiskirchner Bürgermeisters, dessen Aufstieg zum SPÖ-Chef über Monate von Pannen, Peinlichkeiten und Polemiken begleitet war, mehr, als er bis zuletzt erwarten durfte. Der SPÖ-Chef hat es trotz vieler Unkenrufe nicht nur geschafft, im zweiten Anlauf doch noch eine Koalition mit Türkis und Neos zu zimmern. Er hat auch dem roten Teil des Kabinetts – trotz anderer Zurufe aus der Wiener SPÖ – weitgehend seinen persönlichen Stempel aufgedrückt.
Babler selber, sagen teilnehmende Beobachter im Regierungsviertel, ist in seiner neuen Doppelrolle als Partei- und Vizeregierungschef noch nicht ganz angekommen. Er wirkt bisweilen noch so, als fühle er sich nicht richtig am Platz, lässt da und dort Souveränität und Leichtigkeit vermissen, sagt ein Regierungskollege: „Er formuliert auch intern weitaus vorsichtiger als noch vor wenigen Wochen und ist bemüht, den Boden des Regierungsabkommens keinen Millimeter breit zu verlassen.“
Nach Neos-Chefin nun auch der ÖVP-Kanzler am „Spiegel“-Cover
Der neue Hausherr im Kanzleramt, der seiner Leidenschaft für Zigarren bislang nur im privaten Rahmen nachgeht, hat sich inzwischen wieder in das „Kreisky-Zimmer“, jenes weitläufige holzgetäfelte Kanzler-Arbeitszimmer, zurückgezogen, das von einigen seiner Vorgänger wegen seiner dämmrigen Atmosphäre als bedrückend empfunden und daher zugunsten hellerer Räumlichkeiten gemieden wurde.
Christian Stocker hat in dem zuletzt von Karl Nehammer auch gerne für repräsentative Fototermine benutzten Büro so gut wie nichts verändert. Zuletzt hat Stocker hier auch einen Reporter des „Spiegel“ empfangen. Das deutsche Nachrichtenmagazin kam mit dem Ansinnen, dem neuen Ösi-Kanzler die nächste Titelgeschichte der Österreich-Ausgabe des „Spiegel“ zu widmen.
Im ÖVP-Sektor der Regierung wurde das mit einer Mischung aus Vorfreude und Genugtuung registriert, zumal „Der Spiegel“ kurz nach Start der ersten Dreierkoalition in Österreich just die Chefin des kleinsten Regierungspartners aufs Titelblatt der Österreich-Ausgabe gehoben hatte. Verbliebene Sorge bei Stocker & Co.: „Hoffentlich steht nicht wieder etwas wie ‚Der Buddha‘ im Titel“, so eine Mitarbeiterin im ÖVP-Regierungsteam.
Parole: Jeder lobt jeden im Kabinett
Auf offener Bühne ist mehr denn je penibles Bemühen um Vermeidung von Eifersüchteleien, ungeteiltes Wohlwollen und ausreichend Raum für die politischen Anliegen der jeweils anderen Regierungspartner angesagt. Beim jüngsten gemeinsamen Auftritt zum Ende der auf zwei Tage verteilten jeweils mehrstündigen Sitzungen der binnen fünf Wochen bereits zweiten Regierungsklausur streute jeder der drei Regierungsspitzen in sein Statement überschwängliches Lob für die jeweils beiden anderen Partner in der Koalition ein. Einer, der im innersten Kreis der Strippenzieher im Regierungsviertel lang genug dabei ist, um auch noch die letzte Koalition aus SPÖ und ÖVP miterlebt zu haben, resümiert: „Dieses demonstrative Bemühen um Einigkeit und Rücksichtnahme ist keine Show, das gibt es auch nach innen tatsächlich. Und das war in den letzten Jahren von Schwarz-Rot ganz anders.“
Meinl-Reisinger zieht Image-Notbremse
Allein Beate Meinl-Reisinger ist gelegentlich anzumerken, dass ihr manches zu behäbig oder schlicht zu ungelenk über die Bühne geht. Als ORF-Reporter Matthias Westhoff von Christian Stocker bei der Präsentation der Klausur-Bilanz wissen will, welche Anliegen die ÖVP in die Klausur eingebracht habe, beeilte sich der Kanzler und ÖVP-Chef zu versichern: Eine klar schwarz-türkise Handschrift trügen vor allem der Gesetzes-Entwurf zur Messenger-Überwachung und die Einschränkung für Arbeitslose, als geringfügig Beschäftigte dazu verdienen zu dürfen, „weil sie bisher zu wenig Anreiz haben, wieder eine dauerhafte Beschäftigung aufzunehmen“.
Meinl-Reisinger schnallt sofort, dass das Frage-Antwort-Spiel, auf das sich der Kanzler da blauäugig eingelassen hat, das gepflegte Bild der Dreifaltigkeit trüben könnte und fragt artig Richtung Stocker, ob sie noch etwas anmerken dürfe. Und merkt umgehend an, es sei „verlockend, das so zu sehen“. Hinter jedem der Regierungspläne stünden allerdings alle drei Parteien ungeteilt. Es gibt keine türkisen, roten oder pinken Gesetze, proklamiert Meinl-Reisinger und platziert einmal mehr eine Eloge von Türkis-Rot-Pink.
Die „Kanzlerpartei braucht ein Thema“
Die Frage des ORF-Reporters traf freilich ins Schwarze. Auch die Vorbereitung der Klausur ging zwar ohne koalitionäres Haxelstellen über die Bühne. Bei der von Stocker in die Auslage gestellten Messenger-Überwachung gab es bis zuletzt aber kein Go von den Neos. Die ÖVP drängte mit folgender Parole „Die Kanzlerpartei braucht auch ein Thema auf der Klausur“ schlussendlich erfolgreich darauf, einen Gesetzesentwurf auszuschicken, über den es regierungsintern noch keinen Konsens gibt. Als Kompromiss wurde den – ob der Missbrauchsmöglichkeiten der noch undefinierten Überwachungssoftware – skeptischen Pinken mit acht Wochen eine ungewöhnlich überlange Begutachtungsfrist zugestanden.
Pink-intern wird nicht ausgeschlossen, dass das Vorzeigeprojekt des neuen türkis-roten Innenministeriums-Führungsduos Gehard Karner & Jörg Leichtfried nur mit der knappen türkis-roten Mehrheit (von einer Stimme Überhang) beschlossen wird. Was in früheren Fällen eine Mega-Koalitionskrise ausgelöst hätte, soll auch im Falle des Falles möglichst unaufgeregt zum „neuen Stil im Umgang mit Dissens“ ausgelobt werden.
Realos im Regierungsviertel geben freilich zu bedenken, dass dies bestenfalls für Symbolthemen tauge. Bei bislang noch ausstehenden, in der Breite schmerzhaften Budget-Kürzungen oder gar einschneidenden Weichenstellungen in Sachen Gesundheitssystem oder Pensionen werde mehr denn je Koalitionsdisziplin angesagt sein, um nicht schon beim ersten Versuch zu scheitern.
Klausuren am Fließband sollen Bild einer Arbeitsregierung prägen
Langjährige Politik-Analysten glauben zu wissen: Türkis-Rot-Pink haben sich binnen fünf Wochen schon an drei Tagen zu Regierungsklausuren gefunden, weil sie bei ihrem zweiten Anlauf zu einer gemeinsamen Regierung massiv unter Zeitdruck standen. Nach mehr als hundert Tagen ergebnislosen Verhandelns war es geboten, den Sack so rasch zuzumachen, dass ausreichend fertiger Stoff für eine halbwegs vorzeigbare Regierung-Startphase fehlte.
Diese Feinarbeit wurde nun nachgeholt und zugleich positiv verkauft, so ein erfahrener Politik-Berater: Stocker, Babler & Meinl-Reisinger wollen mit möglichst vielen gemeinsamen Medienauftritten in den Startwochen auch das Bild einer fleißigen und seriösen Arbeitsregierung vermitteln.
„Peinlich und ernüchternd“
Dass dieses Wunschbild einem genauen Blick nicht immer und überall standhält, trat just am Abend des ersten Tages der Regierungsklausur in einer für die ÖVP nach wie vor wichtigen Zielgruppe zutage. Nach dem ersten Klausurnachmittag war Dienstagabend ein Gettogether von Regierungsmitgliedern, Mitarbeitern und Medienvertretern im Palais Niederösterreich angesetzt. Je zwei Regierungsmitglieder pro Tisch boten Platz für gut ein halbes Dutzend Journalisten. Bei Wiener Tonnato oder Tomate-Mozarella, Schweinsbackerln oder Gemüsestrudel, Apfelstrudel im Glas oder Schokomousse sollten Macht- und Medienwelt einander besser kennenlernen.
Wirtschaftsminister Wolfgang Hattmannsdorfer, der sich mit Sozialministerin Korinna Schumann einen Tisch teilte, hatte zuvor noch ein Rendezvous mit der Realität. Der Österreichische Raiffeisenverband hatte zu einer Diskussion in das Hochhaus des grünen Riesen am Wiener Donaukanal geladen. Das Thema war mit der europaweit tristen Wirtschaftslage und dem dritten Rezessionsjahr in Österreich gesetzt. Die Frage, wie der heimische Wirtschaftsstandort wieder in die Gänge kommen kann, stand auf der Agenda ganz oben.
Am Podium standen neben Hattmannsdorfer die oberösterreichische Raiffeisenmanagerin Sigrid Burkowski und der Agenda-Austria-Chef Franz Schellhorn. Für Hattmannsdorfer an sich ein Heimspiel, in dem er aus Sicht des Publikums offenbar einige Bälle vergab. Der oberösterreichische Politiker ist, was druckreife Sätze und Rhetorik betrifft, bislang unbestritten die Nummer eins im ÖVP-Team. Er machte vor dem wirtschaftsaffinen Publikum auch Punkte, als er die Maßnahmen der EU in Sachen Zollpolitik erläuterte und einmal mehr proklamierte, „dass sich Europa vor Trump nicht zu fürchten braucht“.
Nach konkreten Rezepten zur Belebung des heimischen Wirtschaftsstandorts befragt, hinterließ der neue Ressortchef aber enttäuschte Gesichter. Hattmannsdorfer pries routiniert einige Zeichen des Goodwill zur Entlastung der Klein- und Mittelbetriebe, die auf der ersten Regierungsklausur präsentiert worden waren, als Heilmittel an: von der Anhebung der Basispauschalierung um 15 Prozent bis zum Aus für die Zettelwirtschaft bei der Belegpflicht für Rechnungen bis zu 35 Euro.
„Das war peinlich und ernüchternd“, gibt ein Teilnehmer die Stimmung vieler der rund 150 Zuhörer – Raiffeisen-Top- und Mittelmanagement sowie geladene Gäste aus Kunden- und Wirtschaftswelt – wieder. Der Think-Tank-Chef und Bruder des gleichnamigen Neos-Staatssekretärs, Franz Schellhorn, erntete so besonders großen Applaus, als er nach dem vorzeitigen Abgang Hattmannsdorfers zum Regierungsklausur-Abendtermin eine Lanze für eine nachhaltige Art des Bürokratieabbaus bricht: „Wer tatsächlich Bürokratie abbauen will, muss Behörden abschaffen.“
Türkis-Rot-Pink startet mit viel Goodwill
Episoden wie diese können allerdings bisher dem – auch für viele im Regierungsviertel überraschend freundlichen – Rückenwind für Stocker & Co. in den ersten Koalitionswochen nichts anhaben. Meinungsforscher messen regelmäßig im Auftrag von Parteien und Medien die Bewertung der Regierungsarbeit durch die österreichische Bevölkerung. In einer mehrstufigen Skala wird die generelle Beurteilung der jeweiligen Machthaber in Ministerämtern von sehr gut bis sehr schlecht abgefragt. Im Blick für den zeitlichen Vergleich über die Jahre haben die Regierungskommunikatoren zuvorderst den Saldo aus positiven und negativen Bewertungen.
Dieser bleibt zwar in der Regel im Minus, entscheidend ist aber, wie nahe die jeweils amtierende Regierung der Nulllinie aus gleich viel positiven und negativen Bewertungen kommt. Oder es schafft, gar einen positiven Saldo-Überhang zu erwirtschaften. In einem 15-Jahres-Vergleich, so ein erfahrener Berater in Sachen Politkommunikation, kam zuletzt allein die türkis-blaue Regierung auf einen Positiv-Saldo. In ihren ersten Amtsmonaten ab 2018 kam das Team Kurz-Strache auf ein Plus-Saldo zwischen ein und fünf Prozent. Das heißt, die guten Bewertungen überwogen die negativen.
Sebastian Kurz und Werner Kogler hatten in Sachen Regierungszeugnis zwar einen fulminanten Beginn – vor allem ob des anfänglich nationalen Schulterschlusses nach Ausbruch der Corona-Pandemie. Türkis-Grün wurde aber ab der zweiten Hälfte der Legislaturperiode einen bleiernen negativen Saldo von bis zu minus 45 Prozent nicht mehr los.
Türkis-Rot-Pink kam schon drei Wochen nach der Zangengeburt einer Dreierkoalition bei einem überraschend guten Saldoüberhang von minus fünf Prozent zwischen Befürwortern und Gegnern zu liegen. Regierungskommunikatoren aller Lager resümieren erleichtert: Dieses einstellige Minus ist in Zeiten wie diesen ein überraschend positiver Wert.