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Rudolf Taschner: Europa quo vadis?

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Um Europa vor einer drohenden Verzwergung zu bewahren, bedarf es Persönlichkeiten historischen Formats, die in der Lage sind, die richtigen Marksteine zu setzen und für einen Ausgleich der Interessen zu sorgen.

Noch höre ich in meiner Erinnerung die Worte über Europa, die Karl Jaspers fallen ließ, jener philosophische Gigant, Lehrer von Geistesgrößen wie Hannah Arendt oder Golo Mann, der, nachdem er mit seiner jüdischen Frau den Schergen der Nazis entkommen war, mit seinen klugen Essays die Politik der jungen Bundesrepublik Deutschland prägte. Europa, so Jaspers, sei von solch geistiger Kraft, dass diesem Kontinent die Verwerfungen der Geschichte nichts anhaben konnten und, so hoffe er, nichts anhaben werden.

Das Europa des Karl Jaspers ist dabei größer als die uns heute bekannte Europäische Union. Wo sind die Grenzen jenes Europas, das Jaspers vor Augen hatte?

Im Norden wohl jener Punkt auf dem Globus, von dem aus es kein Norden mehr gibt: der Nordpol. Im Westen der Atlantik. Im Osten wohl der Ural, nach dem weiter östlich sich die fast menschenleeren Gebiete der Tundra, Taiga und Steppe Sibiriens erstrecken. Und im Süden ziemlich sicher nicht das an allen seinen Küsten stark bewohnte Mittelmeer, sondern noch weiter südlich die unbewohnten Wüsten Afrikas und Arabiens. Schon das Imperium Romanum, ein europäisches Reich, dehnte sich südlich bis dahin aus. Einflussreiche Philosophen der Spätantike stammen von dort: Augustinus aus Tagaste in Numidien, Plotin aus Lykonpolis und Hypatia aus Alexandria in Ägypten.

Dennoch war für Jaspers klar, dass die damalige EWG den Kern Europas bildet, der auf den ganzen Kontinent auszustrahlen hat, auch über die Grenze des Eisernen Vorhangs bis in die UdSSR. Heute, nach Fall des Stacheldrahtverhaus, sollte dies für die größer gewordene EU umso mehr der Fall sein. Doch mindestens drei Beobachtungen lassen an der Strahlkraft der EU zweifeln:

Erstens der gegenwärtige Zustand der Europäischen Union

Die vier Freiheiten, auf denen die EU gründet, werden von weit über vierzigtausend in Brüsseler Bürotürmen erlassenen Verordnungen überwuchert. Mit wachsendem Verwaltungsdrang versucht man, das Fehlen großer Würfe zu kaschieren, und nichts beschreibt die beklagenswerte Lage besser als Oscar Wildes treffendes Wort: Die Bürokratie dehnt sich aus, um den Bedürfnissen einer expandierenden Bürokratie gerecht zu werden. Das behindert freies Wirtschaften, erstickt innovatives Forschen, verengt kreatives Denken.

Dabei schlummern in der Europäischen Union zukunftweisende Ideen. So in vielfältigen Aspekten im Gebiet der Informatik. Zum Beispiel bei der Gestaltung eines vom europäischen Geist getragenen „Digitalen Humanismus“ als Alleinstellungsmerkmal des Kontinents. So bei der Gewinnung von Energie bei gleichzeitiger Schonung der Umwelt – breiter gesehen als der verengte Blick allein auf Kohlendioxid –, beispielsweise in der Weiterentwicklung der Kernenergie, beispielsweise in Gewinnung von Wasserstoff aus Sonnenenergie in den sonnenverwöhnten Ländern des Südens und der Nutzung dieses Gases und seiner Derivate als idealen Energieträger. So auch in anderen Bereichen: Richtungweisende Konzepte liegen vor, allein an konsequentem Willen, an nötiger Kraft ihrer Umsetzung scheint es zu fehlen.

Wohl erklärt sich dieser Mangel daraus, dass manche der Brüsseler Entscheidungsträger den Erwartungen, die in sie gesetzt werden, kaum gewachsen sind. Diesen Mangel können weder Geschäftsordnungen noch Verfahrensregeln kompensieren, allein kraftvolle, zielstrebige und gewissenhafte Persönlichkeiten vermögen mit Format und unwiderstehlicher Ausstrahlung die richtigen Marksteine zu setzen.

Zweitens die bedenkliche Lage an der Süd- und Ostküste des Mittelmeers

Während nördlich des Mittelmeers noch nie so wenige junge Menschen so vielen alten gegenüberstanden, wie wir es gegenwärtig erleben, ist in den südlichen Ländern, ja im ganzen afrikanischen Kontinent das Umgekehrte der Fall: Dort sinkt die Waage mit jung und alt auf den Schalen bedenklich tief an der Seite der Jungen herab. Dem sich daraus ergebenden Bevölkerungsdruck können die Länder nördlich des Mittelmeers nicht standhalten. Wobei erschwerend hinzukommt, dass die kaum ausgebildeten Zuwanderer nichts von der europäischen Lebensart des Leben-und-leben-Lassens wissen, sondern mehrheitlich vom politischen Islam indoktriniert sind.

Abhilfe schüfe die Mehrung des Wohlstands in den Ursprungsländern der potenziellen Zuwanderer. Denn dann drängten sie nicht nach Norden in das ihnen von Schleppern versprochene Paradies. Und auch der Islam zöge sich vielleicht in den Bereich des Privaten zurück und verlöre seinen politischen Geltungsdrang. Dies mag eine fast zu gewagte Hoffnung sein. Aber auch die früher streitbare Kirche, die Ecclesia militans, hat im Gefolge der Aufklärung und der mit ihr einhergehenden technischen und medizinischen Errungenschaften sowie des Zuwachses von Wohlstand für alle Bevölkerungsschichten ihre ursprüngliche Macht völlig verloren. Der religiöse Glaube – es sei betont: ich halte ihn hoch – fand dort seinen Platz, wo er hingehört: im Privaten.

Als unter dem vielgescholtenen amerikanischen Präsidenten Donald Trump Israel mit potenten arabischen Staaten die Abraham Accords vereinbarte, öffnete sich ein Hoffnungsfenster, dass den Regionen am östlichen und südlichen Mittelmeer ein enormer wirtschaftlicher Aufschwung und damit einhergehend eine gewaltige Steigerung von Wohlstand bevorsteht. Eine Teilnahme Saudi-Arabiens war in greifbarer Nähe, als die Hamas den beispiellos schrecklichen Terroranschlag vom 7. Oktober in Israel verübte. Über die entsetzliche Tragik der vielen Opfer hinaus wäre es fatal, wenn die Feinde Israels ihr Ziel erreichten, dass sich das Hoffnungsfenster der Abraham Accords schlösse.

Die Unterstützung der EU für Israel, den bislang einzigen Leuchtturm einer freien Welt im Nahen Osten, hält sich in bescheidenen Grenzen. Es ist ganz im Gegenteil in vielen Staaten der EU schick geworden, Israel eines „Postkolonialismus“ zu zeihen – kein Wunder bei den stetig wachsenden israelfeindlichen Kohorten von Zuwanderern. Wie ein Menetekel ist dies Zeichen dafür, dass die Eingliederung der Zuwanderer in eine aufgeklärte Gesellschaft zu scheitern droht. Auch deshalb, weil die Wertschätzung für die Errungenschaften der Aufklärung erschreckend schwindet und, vom Zeitgeist des Wokeismus erdrückt, gar nicht mehr mit aller gebotenen Kraft verbreitet und eingefordert werden will.

Drittens die Gefahr eines zweiten und Europa schädigenden Kalten Krieges

Derzeit herrscht kein kalter, sondern sogar ein heißer Krieg in Europa. Eingehegt noch im Osten der Ukraine, voll von Tragik und Leid.

Man würde es dem für sein eisig nüchternes, realpolitisch ausgerichtetes Denken bekannten Fürsten Metternich nicht zutrauen, dass er Tragik und Leid des Kriegs in die folgenden Worte zu fassen verstand: „Ich hasse den Krieg und alles, was er mit sich bringt: das Morden, die Schmerzen, die Schweinereien, die Plünderungen, die Leichen, die Amputierten, die toten Pferde – und ebenso die Vergewaltigungen.“ Nicht trotz, vielmehr wegen dieser Worte suchte Metternich eine Verhandlung mit Napoleon, dem monströsen Feldherrn, der sich einem Caesar gleich brüstete: „Wenn es die Situation erfordert, ist einem Manne wie mir das Schicksal einer Million Soldaten egal!“

Metternich war bewusst: Frankreich wird seine Position als Großmacht nie und nimmer verlieren. Darum steckte er sich das Ziel, den über Jahrzehnte gefochtenen schrecklichen Koalitionskriegen und den napoleonischen Eroberungskämpfen durch Verhandlungen Einhalt zu gebieten, bei denen alle europäischen Mächte, Frankreich notabene als gleichberechtigte Großmacht miteingebunden, einen Ausgleich der Interessen suchen. Eine Jahrzehnte dauernde, auf Legitimität und Stabilität fußende Friedenszeit nach dem Wiener Kongress war die Folge.

Dieser historische Exkurs mag als Hoffnung verstanden sein, es gelänge, bei dem gegenwärtigen mitten in Europa tobenden Krieg möglichst rasch ein Schweigen der Waffen herbeizuführen, aller bösen Motive zum Trotz, die jede der beiden Seiten der jeweils anderen unterstellt, aller niederträchtigen Taten zum Trotz, die jeglicher Krieg als klaffende Wunden hinterlässt. Da nie und nimmer eine bedingungslose Kapitulation erreicht werden kann, ist – so die Hoffnung – die Kunst der Diplomatie gefordert, in fairen Verhandlungen nach einem Ausgleich der Interessen zu suchen.

Mit wachsendem Verwaltungsdrang versucht man, das Fehlen großer Würfe zu kaschieren.

Eine Chance dafür wurde leider im Frühjahr 2022, nur wenige Wochen nach dem Überfall der russischen Truppen auf ukrainischem Boden, vertan. Der greise Henry Kissinger verglich diese vertane Möglichkeit mit jenem schrecklichen Missgriff im Jahre 1916, als die Gelegenheit eines für alle Seiten akzeptablen Friedensschlusses sträflich versäumt wurde: In Verblendung träumte man vom „Siegfrieden“ und taumelte der Katastrophe entgegen.

Sollte der gegenwärtige Krieg in der Ukraine nach Erschöpfung der militärischen Kraft einer Seite in eine Art „Einfrieren“ ohne fair geführte Verhandlungen münden, droht für die Zeit danach die Vergiftung mit der Doktrin des Revanchismus und des gegenseitigen Hasses. Es droht ein zweiter Kalter Krieg mit gegenseitiger Aufrüstung unter Verschwendung wertvoller Ressourcen, die sinnvoller einzusetzen wären. Die Schlucht zwischen der Europäischen Union und Russland vertiefte sich ins Abgründige, und niemand wäre versucht, Brücken über sie zu errichten.

Bei einem solchen Szenario wäre eine Verzwergung der Europäischen Union, wenn nicht noch Schlimmeres zu befürchten. Sie driftete auf den Pannenstreifen ab, während sie andere Weltmärkte auf der Überholspur hinter sich ließen.

„Europa quo vadis?“, wörtlich übersetzt: „Wohin gehst du, Europa?“, ist angesichts dieser drei Beobachtungen die Frage der Stunde. Welcher Weg einzuschlagen wäre, wurde aus meiner Sicht in den obigen Zeilen andeutungsweise skizziert.

Es ist, so meine ich, dies ein Weg, der die Hoffnung von Karl Jaspers zu untermauern vermag, Europas geistige Kraft werde alle herausfordernden Krisen meistern. Ihn zu beschreiten bedarf es politischer Persönlichkeiten von achtunggebietender Statur und historischem Format, bedarf es herausragender Persönlichkeiten mit Verantwortungsbewusstsein, mit Weitblick, mit Mut.

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Zur Person

RUDOLF TASCHNER ist Professor für Mathematik an der TU Wien, Autor und ÖVP-Abgeordneter zum Nationalrat.

Der Artikel ist trend. PREMIUM vom 24. Mai 2024 entnommen.
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