Handschlag am Beginn des Regierungsbildungs-Pokers: Bundespräsident Alexander Van der Bellen und FPÖ-Chef Herbert Kickl.
©APA/Helmut FohringerWarum KARL NEHAMMER der FPÖ beim Regierungsauftrag den Vortritt lassen will. Wie ALEXANDER VAN DER BELLEN die Punze des Kanzler-Kickl-Verhinderers wegspielen will. Wer in diesem Powerplay die besseren Karten hat.
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Es war die letzte Sitzung des Ministerrats in der Ära Türkis-Grün. Auf der Tagesordnung stand vier Tage vor der Nationalratswahl am letzten September-Mittwoch null von politischem Belang. Der letzte Rest an Kraft zu gemeinsamen Vorhaben war schon seit Wochen aufgebraucht. Die formalen Notwendigkeiten, wie das rechtsgültige Abnicken von zwei Dutzend Routineangelegenheiten war binnen Minuten erledigt: von der Kenntnisnahme von Berichten aus den EU-Ministerräten, des Rechnungshofes, die Beschickung diverser Fachbeiräte sowie die Freigabe diverser Titel- und Ordensverleihungen.
Die Zusammenkunft wird vielen Teilnehmern dennoch prägend in Erinnerung bleiben. Aus zwei Gründen: Karl Nehammer bat die Regierungsmitglieder und anwesenden Kabinettsmitarbeiter sich von ihren Sitzen zu erheben und eine Gedenkminute für einen Spitzenbeamten des Bundeskanzleramts einzulegen. Claus Hörr, umsichtiger Abteilungsleiter im Bundespressedienst, hatte nicht nur für Türkis-Grün, sondern bereits davor für mehrere Regierungen über zwei Jahrzehnte für das richtige Setting von aberhunderten Medienauftritten von Kanzlern und Ministern gesorgt und damit das öffentliche Bild der Regierungszentrale geprägt. TV-Zuseher kennen ihn als jenen Mann, der meist vom Bildrand aus das Geschehen bei TV-Übertragungen im Auge hatte. Hörr war in den Tagen davor verstorben.
Gedenkminute und Dankesbekundungen beim letzten türkis-grünen Ministerrat
„Es war meines Wissens das erste Mal, dass die ganze Regierung einen Beamten in dieser Weise gewürdigt hat“, zeigt sich ein Teilnehmer der letzten Ministerratssitzung noch Tage danach beeindruckt.
Als neu und außergewöhnlich haben Teilnehmer auch eine zweite empathische Geste, die vom Kanzler ausging, in Erinnerung: Karl Nehammer bedankte sich bei allen Regierungskolleg:innen und auch ausdrücklich bei jenen des Koalitionspartners für die Zusammenarbeit in den zurückliegenden mehr als viereinhalb Jahren. Eine Geste, die vom grünen Vizekanzler dann postwendend erwidert wurde. „Noch mitten im Intensivwahlkampf ist das keine Selbstverständlichkeit“, resümiert ein Sitzungsteilnehmer.
Nicht nur für ihn stand die letzte reguläre Zusammenkunft des Kabinetts Nehammer-Kogler vor der Nationalratswahl auch als Symbol dafür, dass das Binnenklima in einer Regierung aus zwei sehr diametralen Welten weitaus besser war, als die politische Großwetterlage vermittelt hatte. Vor allem die im Laufe der Jahre immer strapazierfähigere persönliche Achse zwischen beiden Regierungschefs Karl Nehammer und Werner Kogler hatte dafür gesorgt, dass die Koalition nicht, wie wiederholt erwartet, vorzeitig platzte.
Eines ist freilich nicht erst seit dem Wahltag sicher: Karl Nehammer und Werner Kogler werden in den kommenden Wochen nur mehr als Platzhalter für die nächste Regierung am dunkelgrün bespannten Ministerratstisch sitzen.
Grüne Chance auf Regierungs-Comeback verwelkt
Zum einen ist auf beiden Seiten das notwendige Wählervertrauen für eine Neuauflage einer Kooperation von Türkis und Grün implodiert.
Zum anderen: Selbst für die derzeit wahrscheinlichste, von ÖVP und SPÖ angeführte, Dreier-Koalition sind die Ökos aus dem Spiel.
Im Laufe der viereinhalb Koalitionsjahre hatte sich nicht nur im ÖVP-Wirtschaftsbund die Einschätzung festgesetzt: Der weitaus größere Koalitionspartner habe zu oft und zu sehr nach der Pfeife des weitaus kleineren Regierungspartners tanzen müssen. Mit dem politischen Alleingang beim Ja zum EU-Renaturierungsgesetz haben es sich die Grünen mit dem Gros der ÖVP-Granden endgültig verscherzt.
Der aus reinem Machtpragmatismus von den roten Granden – zumindest auf Sicht – weiter geduldete SPÖ-Chef Andreas Babler würde zwar lieber die Grünen ins Regierungsboot holen, auch um einen Achsenpartner gegenüber den stimmenstärkeren und regierungserfahreneren Schwarz-Türkisen zu haben. Aber die tonangebenden Kräfte, Wiens SPÖ-Chef Michael Ludwig und die roten Gewerkschafter, sehen bei Grün nur noch Rot. Der Wiener Bürgermeister will nach zehn Jahren Erfahrung mit Rot-Grün in Wien (damals noch als Wohnbau-Stadtrat) partout nicht mehr gemeinsam mit ihnen regieren. Für die Gewerkschaftsspitze standen sie schon immer im gegnerischen Lager.
Die Proklamation "Nicht wieder mit den Ökos" verbindet so auch schon vor der ersten Koalitionspoker-Runde führende ÖVP- und SPÖ-Leute.
Damit hat es sich allerdings schon mit den unerschütterlichen Gewissheiten am Ende der Woche eins nach dem Wahlsonntag, der Österreich tatsächlich einen Big Bang am Ballhausplatz bescherte.
Nehammers vorsorglicher Anruf in der Wahlnacht bei Van der Bellen
Nach der Wahl ist vor vielen Wochen des Tarnens und Täuschens.
Karl Nehammer hat ÖVP-intern die Parole für eine etwas durchsichtige Strategie ausgegeben: Vortritt für die Blauen in der Hofburg. Noch in der Wahlnacht kontaktierte der ÖVP-Kanzler Alexander Van der Bellen. Er bat den Bundespräsidenten, bei der Usance zu bleiben, dem Erstplatzierten den Regierungsauftrag zu geben.
Zwei Tage danach tat der ÖVP-Chef nach der Sitzung der Parteigremien diesen dringenden Wunsch auch öffentlich kund.
Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner hatte schon vor der Wahl öffentlich wissen lassen: Sie erwarte, dass der Bundespräsident, wer immer die Nummer eins ist, diese mit der Regierungsbildung betraut.
Angst vor Kickl-Anleihe bei Trump: ÖVP stiehlt blauen Wahlsieg
Die ÖVP will in den Augen der FPÖ-Wähler nicht als die Partei dastehen, die Herbert Kickl den Wahlsieg „stiehlt“. Sie will ihn vielmehr vor aller Augen auf dem propagierten Weg zum „Volkskanzler“ mangels Mehrheit im Parlament öffentlich breit sichtbar scheitern lassen.
Das Wunschszenario der ÖVP: Der Bundespräsident betraut Herbert Kickl hochoffiziell mit Regierungsverhandlungen. Dieser kehrt nach vielen Runden vergeblichen Bemühens mit leeren Händen in die Hofburg zurück.
Höhepunkt dieses Wunsch-Drehbuchs: Dann schlägt die Stunde des Karl Nehammer – des einzigen, der noch die Chance hat, eine Regierung zu bilden.
Van der Bellen will Schwarzen Peter, blaue Wähler zu missachten, wegspielen
Der Pferdefuß in diesem Szenario, Stand Woche eins nach der Wahl: Der Bundespräsident will sich mit einem taktischen Schachzug made by Hofburg, „die FPÖ ins Leere laufen lassen“, bislang nicht anfreunden.
„Ein Regierungsbildungsauftrag ist kein taktisches Spiel“, beschied Van der Bellen bisher allen einschlägigen Ratgebern freundlich, aber bestimmt „sondern eine ernsthafte Angelegenheit“.
Der Bundespräsident steht damit vor einem heiklen Balanceakt: Van der Bellen hält Herbert Kickl, der 2019 von ihm als erster Minister in der Geschichte der Hofburg in Unehren entlassen wurde, fünf Jahre danach weiterhin nicht für regierungsfähig. Er will als Präsident aller Österreicher aber zugleich – ähnlich wie Nehammer – am Ende nicht mit dem Schwarzen Peter dastehen, er würde jene 1,4 Millionen Wähler missachten, die die FPÖ zur Nummer eins gemacht haben.
Das Wunsch-Szenario der Hofburg: Alle in Frage kommenden Parteien sollen in den kommenden Wochen in Sondierungsgesprächen die Chancen auf ein gemeinsames Regierungsprogramm ausloten – ohne konkreten Regierungsbildungsauftrag an einen präsumptiven Kanzler.
Dafür hat der Bundespräsident diesen Mittwoch – bei der Betrauung des türkis-grünen Kabinetts mit der Fortführung der Regierungsgeschäfte – Karl Nehammer & Co. bereits einen Themenkatalog mit auf den Weg gegeben.
Hausaufgaben aus der Hofburg für Kickl, Nehammer, Babler & Co.
Die künftige Regierung, so Alexander Van der Bellen, habe Kompromisse und gemeinsame Antworten auf drängende Fragen wie diese zu finden: Teuerung, Pensionen, die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts, die Bewältigung der Klimakrise, die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen, Gesundheit und Pflege, Flucht, Migration und Integration, Bildung und einen „konstruktiven Beitrag“ in der EU.
Diesen Themen-Katalog für ein künftiges Regierungsprogramm wird er in den persönlichen Gesprächen mit den fünf Parteichefs noch vertiefen.
Unausgesprochene Erwartung in der Hofburg: ÖVP-Chef Karl Nehammer kehrt als einzige realistische Kanzler-Alternative zu FPÖ-Chef Herbert Kickl von diesem wochenlangen Gesprächsreigen zurück, erklärt nur Türkis-Rot für machbar (mutmaßlich zur Absicherung der knappen Mandatsmehrheit mit Pink als Drittem im Regierungsbund), Schwarz-Blau aber für chancenlos.
Der ÖVP-Chef will diese Rolle aber weiterhin dringend meiden und nach wie vor alles unternehmen, damit Herbert Kickl einen offiziellen Regierungsbildungsauftrag aus der Hofburg erhält.
Die Republik steht so in jedem Fall vor einem wochenlangen Katz- und Maus-Spiel.
Kickls Charmeoffensive bei Van der Bellen
Die Vorgabe des Bundespräsidenten etwa, „dass die Grundpfeiler unserer liberalen Demokratie wie Grund- und Menschenrechte“ auch von einer künftigen Regierung zu beachten sind, hat FPÖ-Chef Kickl bereits keck quittiert. Er stellte, um ein besonders freundliches Gesicht bemüht, fest, dass er mit dem Präsidenten da vollkommen übereinstimme.
Verbale Schattenbox-Vorstellungen wie diese stehen der Republik in den kommenden Wochen wohl noch im Dutzend ins Haus.
Der Amateur-Boxer Karl Nehammer glaubt sich dabei auch im Polit-Ring im Vorteil. Er tut ab sofort alles, um den Schattenbox-Ring halbwegs heil zu verlassen – um ohne nachhaltiges Cut, den blauen Wählern die Nummer eins zu stehlen, als Sieger nach Punkten wieder ins Kanzleramt einzuziehen.