Lena Schilling, die Klima-Aktivistin und Gründerin des Jugendrates, der die Besetzung der Baustelle des Wiener Lobau-Tunnels durchführte. Hat sie das Format, um für die Grünen als Spitzenkandidatin in die EU-Wahl zu gehen?
©Elke MayrWarum Leonore Gewessler tatsächlich als EU-Spitzenkandidatin last minute kniff. Wie die 22jährige Öko-Aktivistin Lena Schilling als Ersatz ins Spiel kam. Weshalb Spitzengrüne aber gegen ein "riskantes Experiment" mobil machen.
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In der Wiener Breitegasse verkündete schon weit vor dem Eingang zum Wiener Glacis-Beisl vergangenen Donnerstag ein großes Schild: “Ab 17 Uhr geschlossene Gesellschaft”. Die geschlossene Gesellschaft, die sich an diesem Abend im Traditionslokal am Spittelberg einfand, stand bis vor wenigen Jahren noch für alles andere als die Tafel verhieß. Der grüne Parlamentsklub, einst als höchst streitbar verrufen, hatte Journalisten zu einem “Medienheurigen” geladen.
Auch grüne Minister waren “als Gäste willkommen”, so die Parole, die Klubchefin Sigi Maurer gerne mit einem leichten Schmunzeln, aber durchaus selbstbewusst ausgibt.
Rätseln über Gewesslers Hakenschläge
Die grünen Schlüsselspieler in der Regierung standen, bei aller hochgehaltenen Wertschätzung der parlamentarischen Arbeit, sowohl bei Mandataren als auch Medienleuten diesmal besonders im Zentrum des Interesses. Denn in allen kleineren und größeren Runden, die sich im Laufe des Abends bildeten, sorgte die einzige abwesende grüne Ressortchefin für den hartnäckigsten Gesprächsstoff.
Just am Tag davor war ruchbar geworden, dass die Grünen ihren Anfang des Jahres geplanten Start in den EU-Wahlkampf samt Beschluss einer Kandidatenliste noch im Dezember gleich um zwei Monate verschieben müssen, weil ihnen die Spitzenkandidatin abhanden gekommen war. Umwelt- und Infrastrukturministerin Leonore Gewessler, die bereits fix als grüne Spitzenkandidatin bei der EU-Wahl Anfang Juni 2024 gesetzt war, hatte Kogler & Co kürzlich wissen lassen, dass sie nun doch nicht nach Brüssel gehen will.
Über die Gründe ihrer Hakenschläge wurde anfangs grün-intern gerätselt. Inzwischen ist klar: Gewessler hatte schon diesen Sommer avisiert, dass sie an diesem Job hoch interessiert sei. Denn: Die Chance auf eine Fortsetzung von Türkis-Grün und damit ein Verbleib als Ministerin liegen bei Null. Den Traum von einer rot-schwarz-grünen oder schwarz-rot-grünen Koalition nach 2024, den manche Grüne hegen, hält sie offenbar für eine Fata Morgana.
Die Vision, nach fünf Jahren als grüne Ministerin mit dem größten Budget und dem wirkmächtigsten Ministerium als eine von bestenfalls zwei Dutzend Grün-Abgeordneten nur noch die dürre Oppositionsfaust gegen die Regierungsbank erheben zu können, hielt Gewessler für wenig erstrebenswert.
In der "Politik Backstage" Kolumne vom 28.7.2023 berichtete Josef Votzi erstmals über die Pläne der Grünen, Klimaschutzministerin Leonore Gewessler als Spitzenkandidatin für die EU-Wahl zu nominieren.
Chefin der EU-Grünfraktion statt Ministerin bleibt Fata Morgana
Mit der Aussicht im EU-Parlament ab Sommer kommenden Jahres, wenn alles gut läuft, allein eine dreiköpfige Abgeordneten-Riege als Delegationsleiterin anzuführen, wollte sich die ehrgeizige Öko-Ministerin freilich auch nicht zufriedengeben. Ihr Plan: Zusätzlich zur heimischen Spitzenkandidatur wollte Gewessler auch einen der beiden Spitzen-Jobs der EU-Wahl 2024 bei der “European Green Party” (EGP) übernehmen.
Die europaweiten Spitzenkandidaten sind auch bei den Grünen für die Wähler mangels transnationaler Listen zwar weitgehend ohne Belang. Für das Standing in den eigenen Reihen beim Rennen um den Fraktionsvorsitz im EU-Parlament war dieser Titel ohne Mittel bei den Grünen zuletzt aber entscheidend.
Mit Übernahme des Fraktionsvorsitzes aller grünen EU-Parlamentarier hätte Gewessler auch auf Europa-Ebene ein viel größeres Rad als im österreichischen Hohen Haus drehen können. Die EU-Grünen spielten schon zuletzt bei Mehrheitsbildungen gelegentlich eine Rolle. Mit der erwarteten Stärkung des rechten Lagers im Europa-Parlament könnten sie künftig eine noch größere Rolle spielen.
Gewessler hätte freilich den Sprung zur heimischen Spitzenkandidatin eine Woche vor Weihnachten ohne Netz machen müssen.
EU-Grüne: Flohzirkus mit 39 Kleinparteien
Die EGP ist ein sehr heterogener Zusammenschluss von 39 grünen Klein- und Kleinstparteien. Dementsprechend gedeiht auch die Willensbildung. Eine Entscheidung über die beiden Listen-Frontrunner soll nun auf grüner EU-Ebene erst im Februar fallen.
Gewessler & Co fühlten sich so auch jüngst bei einem eher amateurhaften Strategie-Meeting der EGP in Brüssel an Berichte von den politischen Flegeljahren der heimischen Grünpartei erinnert. Dazu kamen intern lancierte Prognosen, dass in der Öko- und Alternativszene nicht nur “alte weiße Männer” mit Argusaugen gesehen werden. Nach zwei Legislaturperioden mit SpitzenkandidatInnen aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden wollten, so die grüne Gerüchteküche, vor allem Vertreter der Mittelmeer-Länder, symbolisch gesehen, "keine blonde und blauäugige Frau” an der Spitze sehen.
Alles in allem offenbar ausreichend Gründe für Leonore Gewessler, die Reißleine zu ziehen.
Alma Zadic & Johannes Rauch winken ab
Grün-intern war schon Tage vor der offiziellen Absage der geplanten Kandidaten-Kür am 16. Dezember klar, dass nun der Hut brennt.
Justizministerin Alma Zadic hatte schon vor Monaten als EU-Frontrunnerin abgewunken. Die in Umfragen bislang populärste grüne Ministerin sieht ihre Zukunft nicht in Brüssel, sondern auf dem breiten Feld der Justiz.
Gesundheits- und Sozialminister Johannes Rauch, der auch bundesweit immer mehr an Kontur und Statur gewinnt, hält eisern an seinen Plänen fest, mit 65 Jahren Ende der Legislaturperiode Ämtern und Mandaten den Rücken zu kehren.
Werner Kogler, der als Spitzenkandidat bei der kommenden Nationalratswahl gesetzt ist, scheidet aus, einen Hattrick hinzulegen und die EU-Wahl und Nationalratswahl 2024 neuerlich als Zugpferd zu übernehmen. Zumal der Doppellauf 2019 nicht geplant war, sondern erst nach Platzen des Ibiza-Skandals samt vorzeitigen Neuwahlen zwei Wochen vor der EU-Wahl praktisch unausweichlich wurde.
Kogler als Wahl-Frontrunner 2024 fix
Kogler hat zudem kein Problem damit, nach seinem Abgang als Vizekanzler als Klubchef auf jenes Spielfeld zurückzukehren, das er aus zwei Jahrzehnten als Parlamentarier in- und auswendig kennt.
Sigi Maurer würde sich so wohl auf Zeit mit der Rolle der geschäftsführenden Klubobfrau begnügen müssen. Zumal Insider glauben, dass sich die Vielarbeiterin bereits für die Rolle der Parteichefin rüstet, sobald Kogler nicht mehr will.
Maurer macht für Schilling mobil
Die grüne Klubobfrau wird grün-intern denn auch als Frontfrau jener Gruppe in der Partei gesehen, die sich zunehmend erfolgreich für eine 22jährige Öko-Aktivistin als grüne EU-Spitzenkandidatin stark macht. Lena Schilling wird derzeit in grünen Zirkeln als die derzeit wahrscheinlichste Nummer 1 auf der grünen EU-Liste herumgereicht.
Schilling machte in der breiten Öffentlichkeit erstmals als Gesicht und Stimme jener Gegner des Wiener Lobautunnels von sich reden, die mit einer Besetzungsaktion den Start der Bauarbeiten für die Stadtautobahn, einen Zubringer zum Lobautunnel, wochenlang verhinderten. Schon davor war sie in der Szene als Aktivistin der Fridays-for-Future-Bewegung geläufig.
Die eloquente und ehrgeizige Studentin hat mit Anfang 20 bereits ihr erstes Buch auf den Markt gebracht und einen von fleißiger Hand zusammengetragenen expeditiven Wikipedia-Eintrag. Seit dem Sommer schreibt sie regelmäßig eine Kolumne für die Kronen Zeitung, in der sie sich für eine andere Sozial- und Klimapolitik stark macht.
Symbolfigur für beide grüne Parteiflügel?
Ihre Mentoren bei den Grünen sehen sie strategisch auch als willkommenes Gegengewicht zur Babler-SPÖ. Deren schillernder Links-Kurs wird dort als Gefahr für das Überlaufen potentieller junger Grün-Wähler zur SPÖ gesehen.
Ihre Befürworter bei den Grünen proklamieren darüber hinaus: Die junge Öko-Aktivistin sei sowohl eine gute Kandidatin für den starken Klimaflügel in der grünen Partei, für den Umweltschutz über alles geht. Lena Schilling stehe auch für den sozialen, stark links blinkenden Flügel der Grünen, der sich innerparteilich durch die Öko-Fraktion bisweilen an den Rand gedrängt fühlt.
Schilling-Skeptiker: "Null Erfahrung"
Vor allem pragmatisch denkende grüne Spitzenleute werben angesichts der grassierenden Schilling-Mania intern immer offensiver dafür, vor lauter Schielen nach diversen grünen Flügeln das große Ganze nicht aus dem Blick zu verlieren.
“Schilling hat null praktische politische Erfahrung. Sie zur grünen Spitzenkandidatin zu machen ist absurd”, proklamiert ein Spitzengrüner. Zudem gebe es Bedenken wegen hartnäckiger Ondits einer zu großen Nähe zu anderen Parteien, die im Wahlkampf mit Berichten über Aktionen und Parolen à la Bablers denkwürdiger Sager gegen die EU aufschlagen könnte.
Am Rande des jüngsten SPÖ-Parteitags in Graz ließen Mitglieder der roten Jugendorganisationen wissen, dass Schilling einst auch bei der Jungen Generation der SPÖ politisch andocken habe wollen.
Grüne Hoffnungsfigur Lena Schilling taucht unter
Lena Schilling selbst stand trotz ursprünglicher Zusage für Rückfragen bis Redaktionsschluss nicht zur Verfügung.
“Eine EU-Spitzenkandidatur einer zwar sehr begabten und redegewandten Aktivistin, mit der wir aber keine Erfahrungen in der Zusammenarbeit und über ihre Teamfähigkeit haben, halte ich für ein großes Experiment, das wir wenige Monate vor der Nationalratswahl nicht eingehen sollten”, sekundiert ein Insider im grünen Regierungsviertel. “Wir haben im grünen Klub genug erfahrene Anwärterinnen für die EU-Spitzenkandidatur.”
Nachsatz: “Mit diesen erzielen wir vielleicht nur ein halbwegs solides Ergebnis. Wir riskieren aber nicht, sehr viel aufs Spiel zu setzen.”
Grüne Länderchefs bei EU-Kandidaten-Kür spielentscheidend
Grünen-Parteisprecher Werner Kogler, ist aus den innersten grünen Zirkeln zu vernehmen, hält sich vorerst total bedeckt.
Bei der endgültigen Weichenstellung für die erste Testwahl nach fünf Jahren in der türkis-grünen Hochschaubahn ist Kogler auch nur ein “Primus inter pares”. Die Listenerstellung ist zuvorderst Sache der grünen Länderchefs. Schließlich reden sie ein gewichtiges Wörtchen mit, wer zum Bundeskongress am 24. Februar delegiert wird.
Die Listenerstellung für die nächsten Wahlen auf Bundeskongressen ist bei den Grünen oft noch unberechenbarer als parteiinterne Voten bei Babler & Co. Da geht es meist nicht nur um Schrammen via Streichungen wie zuletzt am SPÖ-Parteitag, sondern um Sein oder Nichtsein auf dem nächsten Stimmzettel.