Treffen auf Toplevel. Bundeskanzler Karl Nehammer empfing 140 Unternehmer und CEOs am Ballhausplatz zum Meinungsaustausch - und erhielt danach Dankesschreiben.
©BKA/Christopher DunkerBundeskanzler Karl Nehammer bleibt auch ein Jahr nach Amtsantritt ein Mann mit zwei Gesichtern. Öffentlich: ein Kanzler mit Kasernenhof-Ton. Im kleinen Kreis: offen und nachdenklich. ÖVP-Strategen wollen dieses Bild nun vermehrt in die Auslage stellen.
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Es war bereits der fünfte Anlauf für einen gemeinsamen Termin. Zwei Versuche, mit dem Kanzler ins Gespräch zu kommen, waren in der Zeit von Sebastian Kurz erst zugesagt, verschoben und dann abgesagt worden. Unter Kurzzeitkanzler Alexander Schallenberg reichten nach einer ersten Absage des vereinbarten Treffens dessen 52 Amtstage für einen neuen Termin nicht mehr. Bald nach Amtsantritt von Karl Nehammer wurde ein neuerlicher Anlauf gestartet.
Nach einem einmal mehr gescheiterten ersten Termin sollte es wenige Wochen vor dem Jahreswechsel 2022/23 endlich soweit sein. Im Kongress-Saal des Kanzleramts waren Stehtische platziert. Entlang einer Seitenwand warteten bereits ein Buffet und Servicepersonal auf die Gäste. In einer Ecke des Saals ging eine bei Krone-TV tätige Moderatorin ihre Ablauf- und Themenkarten noch einmal durch. 140 Unternehmer und Firmenvertreter hatten sich an einem Donnerstagnachmittag Mitte November im Kanzleramt eingefunden. Durchgehend auf Toplevel: CEOs, Vorstände und Manager aus allen Bundesländern, einige waren selbst aus Vorarlberg für den für drei Stunden geplanten Event angereist.
Ausgerichtet hat das Get-together mit dem Regierungschef der "Senat der Wirtschaft", eine - in der breiten Öffentlichkeit nicht geläufige, aber hinter den Kulissen rege und einflussreiche - Unternehmer-Organisation abseits der starren Wirtschaftskammer-Strukturen.
Als Präsident des Senats fungierte bis zu seinem Ableben ÖVP-Urgestein Erhard Busek. Als seine Stellvertreterin firmiert nach wie vor Ex-Außenministerin Benita Ferrero-Waldner. Die Vorstandsgeschäfte werden von aktiven Unternehmern und Managern geführt. Der Senat der Wirtschaft versteht sich als "parteiunabhängige Unternehmensorganisation und treibende zivilgesellschaftliche Kraft zur Gestaltung einer zukunftsfähigen Gesellschaft und einer globalen ökosozialen Marktwirtschaft".
Die Unternehmergruppe hat sich in den vergangenen Jahren besonders den SDG-Zielen einer nachhaltigen Entwicklung verschrieben und vergibt jährlich auch einschlägige Preise für entsprechend innovative Unternehmen und Initiativen - den Austrian SDG Award.
Rund 550 Unternehmen sind mit ihren Vorständen, Geschäftsführungen und Eigentümern vor allem aus der mittelständischen Wirtschaft im Senat vertreten. Alles in allem also kein massenwirksamer, aber als Meinungsbildner in der Zielgruppe Wirtschaft wichtiger Interessenverband.
"Ich nehme Sie mit auf eine Reise, wie es einem Kanzler im Alltag geht"
Der einzige der zum vereinbarten Zeitpunkt fehlte, war auch beim fünften Anlauf zu einem Gespräch auf Augenhöhe zwischen Kanzler und Firmenchefs der Gastgeber. Karl Nehammer verspätete sich nicht nur gut eine halbe Stunde, er wirkte zu Beginn der Veranstaltung, so Teilnehmer, auch nervös und abgespannt. Einer merkt pointiert an: "Auf mich machte er den Eindruck einer sehr skeptischen Erwartungshaltung. Ähnlich der, die Alfred Gusenbauer als Kanzler einmal so ausdrückte: Wird das jetzt wieder das übliche Gesudere?"
Das Gespräch ließ sich so in den ersten Minuten auch zäh und ermüdend an. Die 140 Senatsmitglieder hatten vorab Dutzende Fragen ans Kanzleramt geschickt, über die sie gerne diskutieren würden. Dass seitens des Kanzler-Kabinetts ein paar Fragen schlicht gestrichen worden waren, hatte im Vorfeld Unmut erregt. Ein Faktum, das Karl Nehammer, von einem der Teilnehmer offen darauf angesprochen, nicht nur bedauerte, sondern coram publico auch revidierte.
Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kanzler freilich die Stimmung im vollen Kongresssaal schon um 180 Grad gedreht. Binnen einer Viertelstunde redete sich Karl Nehammer warm. Vor allem mit diesem Satz brach er den Bann: "Ich nehme Sie mit auf eine Reise, wie es einem Kanzler im Alltag geht." Der Regierungschef extemporierte differenziert und empathisch über seine plötzliche Konfrontation mit dem Ukraine-Krieg und seine Reisen nach Kiew und Moskau. Über die höchst ungleichgewichtigen Kräfteverhältnisse und widerstrebenden Interessen bei EU-Gipfeln, wenn es gilt, einen gemeinsamen Weg für eine Energiepreis-Bremse zu finden.
"Er hat auch in einer sehr offenen Weise verständlich gemacht, warum er sich so und nicht anders bei der Bekämpfung der Teuerung entschieden hat", berichtet ein Teilnehmer. Trotz gehöriger Verspätung blieb es am Ende nicht bei den geplanten drei Stunden. Nehammer hängte nach zweieinhalb Stunden Fragen und Antworten vor dem gesamten Publikum spontan noch eine Stunde für Einzelgespräche quer durch den Kongresssaal an - im Schlepptau Mitarbeiter des Kanzlers sowie aus wirtschaftsaffinen Ministerien wie Finanzen und Wirtschaft und Arbeit für die Annahme von individuellen Anliegen.
Fast eine Weihnachtsgeschichte mit Happy End
"Am Ende waren alle echt begeistert von diesem Termin", resümiert eine Teilnehmerin. Im Kanzleramt langte Tage danach Post ein, die in politikerverdrossenen Zeiten wie diesen selten geworden ist: "Sie haben uns nicht nur, wie sie sagten, in die Gedanken- und Gefühlswelt des Bundeskanzlers eingeladen. Sie haben in beeindruckender Weise auch Antworten auf viele Fragen gegeben und in aller Offenheit und Menschlichkeit Ihre Denkweise und sogar Ihre Befürchtungen dargelegt", heißt es im Dankschreiben des Senats der Wirtschaft.
Zielgruppengespräche wie diese hat Nehammer in seinem ersten Amtsjahr auch mit Vertretern der Industriellenvereinigung und der Leitbetriebe Austria geführt. Unter Meinungsbildnern in der Wirtschaft macht sich daher immer stärker jenes Bild breit, das dem Kanzler unter vier Augen auch in der politischen Szene attestiert wird.
Nicht nur beim grünen Regierungspartner, sondern auch in der größten Oppositionspartei SPÖ gilt Nehammer als umgänglicher und offener politischer Gesprächspartner. Das Bild, dass er öffentlich von sich gibt, widerspricht dem immer wieder diametral. Bei TV-Auftritten kommt der gelernte Offizier und Ex-Innenminister auch als Kanzler nach wie vor als Politiker in Uniform rüber. Im Auftreten wie ein Panzer auf zwei Beinen, in Ton und Sprache immer einen Schuss zu martialisch - als gelte es noch immer, sich im Kasernenhof Gehör verschaffen zu müssen.
Karl Nehammer bleibt so auch ein Jahr nach dem Aufstieg zum Regierungschef ein Mann mit zwei Gesichtern: Empathisch, zuhörend und differenziert nach innen. Sichtlich beschwert, zunehmend ungeduldig und bemüht holzschnittartig nach außen.
Restzeit für "wahren Nehammer" nutzen
Beim Koalitionspartner macht man als Erklärung fast verständnisvoll die prekäre Lage der ÖVP aus. "Er kann sich in der ÖVP vor allem bei der Abgrenzung von Kurz nicht wirklich bewegen. Was immer er tut, irgendeine maßgebliche Gruppe in der Partei verärgert er dabei immer", sagt ein Spitzen-Grüner: "Daher bewegt er sich besser nicht, bleibt öffentlich stur auf Kurs und tut alles, um sich auf Sicht über Wasser zu halten."
In Kanzleramt und ÖVP macht sich in Nehammers Umfeld dieser Tage aber zunehmend eine andere Sichtweise breit: Bis zum regulären Wahltermin im Herbst 2024 habe der nun 50-jährige Partei- und Regierungschef noch knapp zwei Jahre Zeit, das Ruder doch noch zu seinen Gunsten herumzureißen.
Diese Zeit wollen ÖVP-Strategen nun nutzen, den "wahren Nehammer" besser ins öffentliche Licht zu setzen. "Es passiert mehr an Annäherung und Veränderung, als nach außen hin sichtbar wird", resümiert ein schwarz-türkiser Regierungsinsider. Als Beispiel nennt er: "Abseits der bei vielen kritischen Haltung zur Person Leonore Gewessler gibt es ein stabil gutes Gesprächsklima zwischen Grünen und der Wirtschaft, das gerade in den aktuellen Krisenzeiten sehr wertvoll ist."
Der schwarz-türkise Regierungsmann ist daher überzeugt: "Man wird diese Koalition zwischen ÖVP und Grünen historisch auch anders bewerten, als sie jetzt gesehen wird."
Ob das auch auf Karl Nehammer zutrifft, bleibt für die Schwarz-Türkisen das Hoffnungsspiel 2023.
Der Artikel ist der trend. EDITION vom 21.12.2022 entnommen.
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