voestalpine: In Investitions- und Spatenstichlaune (Linz Oktober 2023)
©voestalpine/Lucas PripflWeil in Österreich Lohn- und Energiekosten stärker steigen als anderswo, warnt die Industrie im Zeichen der Rezession bereits vor Abwanderung. Dabei werden in einzelnen Branchen Rekordsummen investiert – es fehlt jedoch eine Vision für den Wirtschaftsstandort.
An jenem milden Freitagvormittag Anfang Oktober, an dem die heimischen Wirtschaftsforscher die Bevölkerung auf eine "milde Rezession" einstimmen, tourt Lord Dominic Johnson durch Wien, trifft Firmenvertreter und Wirtschaftsverbände - und ist am Ende exzellent gelaunt. "Jedes Unternehmen sollte sein internationales Headquarter in Großbritannien haben", sagt der britische Minister für Investment, der sich über einen Rekordzustrom aus Österreich freut, im trend-Gespräch (siehe "Wir sind durch den Brexit flexibler").
Das Vereinigte Königreich mag Brexit-gebeutelt sein, die Aussicht auf niedrige Steuern und weniger Regulierung klingt für viele Unternehmen derzeit dennoch so verlockend wie der Gesang der antiken Sirenen für Odysseus. Denn die Klage über den Wirtschaftsstandort ist so laut wie schon lange nicht mehr. "Es ist ziemlich wurscht, was bei den Lohnverhandlungen rauskommt", polterte KTM-Chef Stefan Pierer jüngst in der "Krone"."Wir haben in Zentraleuropa den Kipppunkt überschritten." AT& S-Großaktionär Hannes Androsch sieht die heimische Wirtschaft "am Pannenstreifen". Der CEO des drittgrößten Baukonzerns, Swietelsky, Peter Krammer, erwartet "zwei zähe Jahre" und hält den Abschwung sogar für notwendig: "Ohne Rezession wird es nicht zur notwendigen Korrektur bei Löhnen und Energiepreisen kommen."
Im neuen Stimmungsbarometer des Beratungsunternehmens Deloitte, das halbjährlich Finanzvorständen auf den Puls fühlt, zeigt sich eine klar schlechtere Einschätzung des Investitionsklimas als noch vor einem halben Jahr. 16 Prozent der Befragten gehen jetzt von einer "starken Verschlechterung" aus. Im Frühjahr waren es noch null.
Aber auch die wirtschaftsnahe Politik malt am düsteren Bild mit. "Österreich sandelt ab", trompetet Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger seit Monaten im Rückgriff auf eine Formulierung des früheren Wirtschaftskammerchefs Christoph Leitl. Wifo-Chef Gabriel Felbermayr sprach bei der Präsentation der Herbstprognose zweimal explizit von einer "allgemeinen Standortschwäche".
Gehört das alles zum rituellen Schlechtreden der Rahmenbedingungen im Umfeld von Lohnverhandlungen oder sind die Aussichten diesmal tatsächlich so viel trüber als in den Vorjahren?
Wirkungstreffer
Der Alarm ist deshalb dieses Jahr lauter als sonst, weil niemand mit dem Absturz gerechnet hatte, auch die Wirtschaftsforscher nicht. "Die Rezession trifft uns unerwartet: Denn eigentlich wäre nach Covid ein längerer Aufschwung angesagt gewesen", sagt Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung (IV), "doch sogar in den klassisch zyklischen Industrien ist das nicht der Fall. Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Situation, die Mischung ist toxisch."
Überall, wo in den vergangenen Jahren gut verdient wurde, wird derzeit zwar durchaus investiert – auch in Österreich. Die voestalpine hat eben ihr "größtes Klimaschutzprogramm Österreichs" gestartet", wie CEO Herbert Eibensteiner sagt, den schrittweisen Umstieg von klassischen Hochöfen auf mit Grünstrom betriebene Elektrolichtbogenöfen an den Standorten Donawitz und Linz.
Doch so ganz wollte der Stahlboss sich den Lobesreden der Politiker, dies sei ein Bekenntnis zum Industriestandort Österreich, nicht anschließen. "Das ist es zum Teil", verwies er den trend am Rande der Spatenstichfeier in Linz auf E-Öfen seines Konzerns in Schweden und Brasilien. Sowohl beim Strompreis als auch in der Frage, woher in fernerer Zukunft grüner Wasserstoff für die nächste Dekarbonisierungszündstufe kommen kann, ist noch vieles offen.
Neben Stahl ist auch Pharma in bester Spatenstichlaune. Die steirische GL Pharma, das japanische Biopharmazieunternehmen Takeda und der Plasmaspezialist Octapharma stecken jeweils hohe zweibis dreistellige Millionensummen in den Ausbau ihrer Aktivitäten. Dass der deutsche Branchenriese Boehringer Ingelheim seine politisch groß angekündigte 1,2-Milliarden-Euro-Investition in eine Produktionsanlage in Bruck an der Leitha soeben abgeblasen hat, hat weniger mit spezifisch österreichischen Standortschwächen zu tun, wie Pierer behauptet, als mit konzerninternen Gründen, etwa einer veränderten Produktpipeline.
Dennoch hat der Wind gedreht. Daten der OeNB zeigen, dass sich das Verhältnis von aktiven zu passiven Direktinvestitionen in den letzten Jahren stark verändert hat: Österreichs Unternehmen haben seit 2019 46 Milliarden Euro außerhalb der Landesgrenzen investiert, während sich die Transaktionen von internationalen Unternehmen in Österreich in diesem Zeitraum in Summe nur auf 27,7 Milliarden beliefen – in den Jahren davor war dieses Verhältnis weitgehend ausgeglichen (siehe Grafik). Christian Helmenstein, Chefökonom der Industriellenvereinigung (IV), zieht daraus einen nüchternen Schluss: "Der Seismograf deutet nicht auf steigende Standortattraktivität Österreichs hin."
Investitionen in Mrd. Euro
Durch die erwartbar hohen Lohnabschlüsse dürfte sie weiter sinken. Bisher war die gute relative Position bei den Lohnstückkosten ein standortpolitisches Asset Österreichs. Im Vergleich mit den anderen Ländern Westeuropas sind nun die Kosten für Arbeit nominal am drittstärksten gestiegen. In Unternehmerkreisen hört man deshalb zurzeit immer öfter: "Natürlich werde ich weiter investieren – aber nicht in Österreich." Martin Ohneberg, Chef des Vorarlberger Autozulieferers Henn, war etwa soeben in Indien unterwegs, um für sein Unternehmen Investitionsmöglichkeiten zu sondieren. Der Chef der IV Vorarlberg hat sein Ohr dicht an seinen Mitgliedsbetrieben und kommt zum Schluss: "Jetzt fallen die Investitionsentscheidungen für die nächsten drei bis fünf Jahre. Und sie fallen mehrheitlich für Standorte außerhalb der Europäischen Union."
Vertiefung
Die Drohkulisse ist dabei stets zu unterscheiden von den Fakten. Der US-amerikanische Inflation Reduction Act (IRA), der wegen seiner Unkompliziertheit als Gegenmodell zum europäischen Green Deal von Wirtschaftsverbänden hoch gepriesen wird und mit gewaltigen Subventionen Green-Tech-Investitionen über den großen Teich ziehen will, muss erst einmal Wirkung zeigen. Die aktuellen Widrigkeiten treffen kleine und mittlere Unternehmen mehr als die großen Industriekonzerne. Sie haben keine großen Rechtsabteilungen, um sich mit neuen Vorgaben zu Umweltzöllen und Lieferketten auseinanderzusetzen. Auf die Frage nach konkreten Abwanderungsbeispielen bleiben die Industriellen meist wortkarg, auch Joachim Haindl- Grutsch, Geschäftsführer der IV Oberösterreich. Er hatte in einem "Presse"-Podcast Ende Juli gemeint, eine "schleichende Deindustrialisierung passiert schon".
Auf trend-Nachfrage belässt er es jetzt bei der Feststellung: "Das Exportmodell Österreichs und Deutschlands - von hier in die ganze Welt - wird kaum zu halten sein. Arbeits- und Energiekosten sind bei uns stärker gestiegen, die Lohnstückkosten steigen stark." Flucht ist allerdings nur in den seltensten Fällen die beste Lösung. Ein Unternehmen wie die Kärntner Hasslacher-Gruppe, eines der größten in der heimischen Holzindustrie, will etwa mit einer Veränderung des Geschäftsmodells reagieren, Stichwort: automatisierter Wohnbau. "Wir erhöhen die Wertschöpfung", proklamiert Hasslacher-Eigentümer und -CEO Christoph Kulterer.
Sirenengesang
Daher geht es in der aktuellen Standortdiskussion weniger um Österreich. Natürlich gibt es nationale Bremsklötze, etwa die im westeuropäischen Vergleich extrem hohe Inflation - und die zu späte Reaktion der österreichischen Politik darauf. Doch viele der Faktoren seien auf die internationale Konjunktur zurückzuführen und "nicht hausgemacht", gibt IV-Generalsekretär Neumayer zu und zählt auf: "China, die Schwäche Deutschlands, die Frage, ob die USA ein Soft Landing hinbekommen."
Dass in den Pandemie- und Kriegsjahren eine strukturierte Standortpolitik unter die Räder gekommen ist, dürfte ebenfalls kein rein österreichisches Phänomen sein - weil unter der ÖVP-FPÖ-Koalition von Sebastian Kurz diesem Thema fast alles andere untergeordnet wurde, fällt es jedoch besonders auf. "Mir fehlt das große Bild für den Industrie- und Wirtschaftsstandort", sagt Ohneberg klar. Das gelte insbesondere auch für die europäische Ebene, wo es zwar große, subventionsgetriebene Ansiedlungen im Chipsoder im Batterienbereich gebe, allerdings ohne Vision: "So wird Europa zur verlängerten Werkbank der Welt."
Alexander Herzog, Generalsekretär des Pharma-Branchenverbands Pharmig, vermisst trotz intensiver Investitionstätigkeit seiner Mitgliedsbetriebe eine "integrierte Standortpolitik". Damit meint er konkret, dass der von der ÖVP nominierte Wirtschaftsminister und der für die Medikamentenpreispolitik verantwortliche grüne Gesundheitsminister an einem Strang ziehen sollen: "Aber das sind zwei Parteien, die weltanschaulich nicht immer zusammenpassen", klagt Herzog.
Als Riesengefahr für Österreich im Speziellen wird die Diskussion über neue Vermögenssteuern erachtet, vorangetrieben vom neuen SPÖ-Vorsitzenden Andreas Babler. Die IV fährt seit Monaten eine Kampagne gegen diese als "Schnüffelsteuer" gebrandmarkte Idee. Hinter vorgehaltener Hand wird dabei erzählt, dass heimische Familienunternehmen bereits Verlagerungen ihrer Steuersitze ins freundliche benachbarte Ausland - diesfalls Liechtenstein und die Schweiz - prüfen. "Viele überlegen sich derzeit, wo sie in Zukunft ihren Holdingsitz haben wollen", registriert auch Hasslacher-CEO Kulterer. Eine Deindustrialisierung erwartet er dagegen nicht: "Dass Fabriken verlagert werden, ist eher unwahrscheinlich."
Die Hauptschwäche, an der strategisch nur langsam etwas verändert werden kann, liegt jedoch in der hohen Abhängigkeit vom Haupthandelspartner Deutschland. Der große Nachbar zeigt enorme Strukturprobleme. "Deutschland ist am Boden - sowohl wirtschaftlich als auch mental", formuliert Swietelsky-Chef Krammer hart. Während in den letzten Jahren der boomende Osten Westflauten kompensierte, ist das in der derzeitigen Verfasstheit von Ungarn, der Slowakei & Co. jedoch nicht der Fall: "Deutschlands Schwäche können die osteuropäischen Länder derzeit nicht auffangen."
Genau in diese Wunde legt Lord Johnson, der britische Minister für Investment, seinen Finger. In seinen Sirenengesang mischt er an jenem milden Oktoberfreitag eine rhetorische Frage:"Wollen Sie noch stärker mit Deutschland, das in der Rezession ist, Geschäfte machen?"
Der Artikel ist in der trend. PREMIUM Ausgabe vom 13.10. 2023 erschienen.