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Ex-Außenministerin Plassnik zur neuen Weltordnung: Klartext! Jetzt!

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©TVB Ausseerland Salzkammergut / OTS
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Österreichs frühere Außenministerin, Ursula Plassnik, über die neue Weltordnung: Europas Traum von Sicherheit zum Diskontpreis ist geplatzt. Wir müssen sofort elementares sicherheitspolitisches Denken lernen.

Manchmal möchte man am liebsten wie ein Kind die Augen schließen, um aus der Schreckensspirale auszusteigen. Der 28. Februar war ein solcher Moment. Vor den Augen der Welt wurde der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vom entfesselten Demolierer-Duo Vance-Trump fertiggemacht. Die Botschaft: „Verlass dich nicht mehr auf die USA. Dein engster Partner solidarisiert sich in der Stunde der Not mit deinem ärgsten Feind. Und bist du nicht willig, dann verschwinde gefälligst.“

Ab sofort kämpft die seit drei Jahren kriegsgepeinigte Ukraine also einen Zweifrontenkrieg – gegen den Aggressor Putin und den Neoimperialisten Trump. Russlands Angriff gilt nicht „nur“ dem Nachbarstaat Ukraine, sondern der gesamten europäischen Sicherheitsarchitektur, ja dem europäischen Lebensmodell. Nicht umsonst ist ein schwaches Europa ohne transatlantischen Sicherheitsschirm, also ohne USA, seit Jahrzehnten das am hartnäckigsten verfolgte Ziel russischer Außenpolitik. Diese Bedrohung Europas ist real und gegenwärtig, auch wenn viele Europäer sie noch immer nicht auf der eigenen Haut spüren – und unterschwellig weiter glauben, mit der Zerstückelung der Ukraine würden die Kriegsgötter schon zu beschwichtigen sein. Hat Putin einmal die Krim und den Donbass geschluckt, würde er schon wieder aufhören mit seinen Gewalttaten, den Bomben, der Zerstörung, den Annexionen, dem Hybridkrieg gegen die EU.

Wird er nicht.

Denn Putin hat bereits gewonnen. Ohne auch nur in die Nähe eines Verhandlungstisches zu kommen. Der neue Sheriff in Washington und der alte Geheimdienstler in Moskau mit seinen mafios-oligarchischen Handlangern machen sich die Zukunft der Ukraine aus, über die Köpfe der Ukrainer hinweg, hinter dem Rücken der Europäer. Beide fordern Gebietsverzichte, stellen Ultimaten, verlangen Bodenschätze und delegitimieren den demokratischen Präsidenten der Ukraine in aller Öffentlichkeit. Und damit nicht genug: Gemeinsam mit den Autokraten aus Nordkorea und Belarus „legitimieren“ sie die neue geschichtsleugnende Realität in den Vereinten Nationen: Gewalt lohnt sich. Recht ist für Schwächlinge. Imperialismus okay. Rohstoff-Kolonialismus normal.

Als drehten sie die Weltgeschichte zurück in Richtung Mittelalter, als machten sie das 20. und das 21. Jahrhundert ungeschehen. Frieden durch Zusammenarbeit – eine 1980er-Jahre-Illusion?

Wir Europäer bekamen die amerikanische Eisdusche samt Vorwurfshagel und sicherheitspolitischer Kündigungserklärung schon zwei Wochen vor dem Washingtoner Eklat verpasst, am Valentinstag, ausgerechnet in München, bei der traditionsreichen Sicherheitskonferenz. Die Botschaft der neuen US-Geschäftemacher: „Kümmert euch selbst um eure Verteidigung, rechnet nicht mehr automatisch mit uns, übernehmt aber unsere Vorstellung von zügelloser Freiheit. Die EU ist für uns Machthaber ein Fall unakzeptabler Geschäftsstörung. Ab sofort setzen wir in euren Ländern auf die rechtsnationalistischen, EU-kritischen Kräfte. Wir greifen dazu auch direkt in eure Wahlen ein. Bestenfalls sind wir bereit zu separaten Deals wie mit der Ukraine. Und am Ende des Tages – schaut einfach allein, wie ihr mit Putin zurechtkommt.“

Für die Europäer ist die Zeit der Halbherzigkeit vorbei. Unser Traum von der Sicherheit zum Diskontpreis ist endgültig geplatzt. Auf die USA können wir bestenfalls noch eingeschränkt zählen. Die bittere Erkenntnis: Die Feinde des geeinten Europas haben Hochkonjunktur, im Außenverhältnis wie im Inneren. Vier Hauptangriffslinien werden in einer Art kombiniertem Ost-West-„Zangenangriff“ sichtbar: aus dem Osten Russlands militärischer Überfall und sein hybrider Krieg zur Unterminierung unserer Freiheit durch algorithmusgetriebene Propaganda im Netz, Sabotage, Bestechung, Wahlmanipulation, Unterwanderung und Cyberattacken. Hinzu kommen die EU-zerstörungsfreudigen Trojaner Ungarn und Slowakei. Und zu guter Letzt die aus dem Westen angedrohte Kündigung der transatlantischen Werte- und Sicherheitspartnerschaft, die Umkehr der Allianzen zur neuen Achse Washington-Moskau samt dem Willen zur schamlosen innenpolitischen Einmischung.

Europa braucht in dieser „neuen Welt“ mit aller Dringlichkeit eine kohärente gesamteuropäische Verteidigung statt 27 unvereinbarer Puzzlestücke.

Heute, nicht morgen.

Wer es gut meint mit Europa, der muss sofort Klartext reden. Zunächst mit der eigenen Bevölkerung. Wir brauchen einen tiefgreifenden Bewusstseinswandel – jetzt. Es kommen harte Zeiten zu auf uns, nur gemeinsam können wir bestehen. Auf nationaler wie europäischer Ebene müssen wir schnellstmöglich wieder elementares sicherheitspolitisches Denken lernen, Selbstverteidigung, Bevölkerungsschutz, militärische Analysen, Ausrüstung kaufen, selbst Waffen produzieren, Luftraum schützen, Desinformation und Cyberangriffe abwehren, Wahlmanipulation bekämpfen.

Unsere Wirtschaft muss sich umstellen, die Investitionsprioritäten gehören neu geordnet, Finanzierungen geplant, die verteidigungsrelevante Forschung angekurbelt, Rohstoffe gesichert, Lieferketten überprüft und angepasst. Wir brauchen schleunigst ein nüchternes Inventar unserer Verletzlichkeiten, um bösen Überraschungen bei der eigenen Infrastruktur und Versorgung vorzubeugen. Das ist keine Panikmache und kein Alarmismus, das ist Realitätskunde. Wir haben durch Zögern und Zaudern schon viel zu viel Zeit vertan, das ist jetzt vorbei.

Ja, die Entgleisung von Washington ist eine erschütternde Nachricht an alle Europäer, nicht nur an die tapferen Ukrainer: Ohne die USA sind wir auf Sicht nicht einmal fähig zur Selbstverteidigung. Nach dieser Decke müssen wir uns strecken und zähneknirschend auch weiterhin den Dialog mit Washington suchen.

Gleichzeitig müssen wir Europäer aber rasch weitreichende politische Fragen klären, die auch unsere eigene Organisiertheit betreffen: Können wir die vor uns liegenden Aufgaben tatsächlich in der erforderlichen Geschwindigkeit in den bestehenden Formaten erfüllen? Sind die komplexen Verfahren der EU geeignet oder brauchen wir neue Gruppierungen? Etwa Koalitionen der Willigen oder Fähigen. Wie bindet man Großbritannien wieder ein? Wie geht es weiter mit der NATO? Wie kann die immer noch unentbehrliche amerikanische Präsenz in Europa sichergestellt werden? Wie ist die internationale Aufgabenverteilung der Zukunft? Mit welchem akzeptablen Plan kann die Ukraine geschützt und stabilisiert werden? Wer überwacht eine Waffenstillstandslinie mit Russland? Was geschieht mit dem Balkan, mit Moldau und Georgien?

Europa wird weiterhin ein Leuchtturm der Demokratie, von Recht und Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität bleiben. Wir wollen und werden unser Schicksal selbst bestimmen. Jalta gehört ins Geschichtsbuch. Unsere Voraussetzungen in der EU sind weit besser, als sie von einigen lautstarken Apokalyptikern beschrieben werden. Beides ist machbar, sogar gleichzeitig – Selbstverteidigung und Wachstum. Aber es braucht Mut und politische Handwerkskunst, gepaart mit Überzeugungskraft und europäischer Geschlossenheit.

Und Österreich? Wir müssen ein sehr kleines Zeitfenster nützen, um uns außen- und europapolitisch zweifelsfrei zu positionieren. Wir haben gegenüber unseren europäischen Partnern dringenden Erklärungsbedarf: Um ein Haar hätte ein Kanzler Kickl unser Land als Teil der unseligen Mitteleuropa-Allianz „Patrioten für Europa“ in die Arme Putins getrieben.

Die Regierungsbildung hat Zeit und Aufmerksamkeit gekostet. Haben wir verabsäumt, an den momentan vor unseren Augen neu entstehenden Formaten aktiv und selbstbewusst teilzunehmen? Österreich darf nicht abtauchen oder sich gar abhängen lassen. Wir müssen den unerschütterlichen Willen zur Mitgestaltung und Mitverantwortung glaubhaft erkennen lassen. Gerade jetzt, in der magmatischen Phase der Neuorientierung, gilt es, überall dabei zu sein, notfalls als Beobachter oder nicht stimmberechtigter Gast, im Nebenraum oder unter dem Tisch.

Wer ernst genommen werden will, muss sich auch ernst zu nehmend verhalten. Wunschdenken, Beschwichtigen, Verdrängen, Zaudern, Zögern – geht gar nicht. Eigenbrötler und Trittbrettfahrer haben im Europa von morgen keine Chance. Die neue österreichische Bundesregierung ist von Tag eins an massiv gefordert. Das Regierungsprogramm bildet im sicherheitspolitischen Teil eine brauchbare Grundlage. Österreich bekennt sich auch hier zur europäischen Solidarität. Den Worten müssen endlich Taten folgen.

Wer in der jetzigen kritischen Lage Beihilfe leistet zum Weiterschlafen – sei es aus Mutlosigkeit, Inkompetenz oder Kalkül –, der begeht eine politische Straftat.

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