DER KANZLER UND SEIN KANDIDAT. Für Karl Nehammer und seinen EU-Frontmann Reinhold Lopatka steht wohl am meisten auf dem Spiel. Verliert die OVP am 9. Juni überproportional, wird mutmaßlich auch die Position des amtierenden OVP-Chefs hinterfragt werden.
©PICTUREDESK.COM/REUTERS/LEONHARD FOEGERParteien, Programme, Pleiten, Pech und Pannen: Die große TREND-ANALYSE zur EU-WAHL am 9. Juni. Wie die Strategen der Parteien den Urnengang zum Kampf um den Ballhausplatz ummünzen und wer am meisten vor dem Wahlausgang zittern muss.
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Am Wiener Rathausplatz gingen gerade die letzten Soundchecks für das Hochamt der SPÖ über die Bühne. Die Sozialistische Jugend begann sich unweit davon für den traditionellen Fackelzug am Vorabend des 1. Mai zu sammeln.
Vis-à-vis dem Rathausplatz füllte sich an diesem frühen Abend trotz Kaiserwetters derweil im Café Landtmann der prächtige große Innenraum parallel zur Ringstraße bis auf den letzten Platz. Cafetier Berndt Querfeld hatte sein Traditionscafé gratis für die Gäste eines Diskussionsabends zur Verfügung gestellt, der landläufig nicht gerade als Kassenschlager gilt.
An fünf Abenden treffen hier bis Anfang Juni jeweils ein prominenter Wirtschaftsrepräsentant und eine:n der fünf Spitzenkandidat:innen der im Europaparlament vertretenen Parteien zum Gedankenaustausch, moderiert von einem Medienprofi, aufeinander. Querfeld, umtriebiger Gastro-Unternehmer, Ex-Wirtschaftskammer-Funktionär und ÖVP-Wirtschaftsbund-Mitglied, sieht die fünf Gastgeberabende als seinen Beitrag zu einem Europa-Wahlkampf abseits des innenpolitischen Parteien-Hickhacks.
Das vom „BürgerInnen Forum Europa" organisierte Get-together von Wirtschaftskapazundern und prominenten EU-Parlamentsanwärtern vor einem interessierten Publikum soll mehr als die bekannten Parolen garantieren. Die Premiere bestritten am Vorabend des 1. Mai Erste-Group-Chef Willibald Cernko und die grüne Spitzenkandidatin Lena Schilling.
Wirtschaftsbosse testen EU-Kandidaten
Zwei Tage danach gaben sich ÖBB-Managerin Silvia Angelo und ÖVP-Frontman Reinhold Lopatka ein Stelldichein. In den kommenden vier Wochen bis zum österreichischen Europawahl-Sonntag am 9. Juni werden im altehrwürdigen Landtmann" noch folgende Wirtschaft-und-Politik-Paare aufeinandertreffen: Uniqa-Group Vorstandsvorsitzender Andreas Brandstetter und FPÖ-EU-Delegationsleiter Harald Vilimsky, Wirtschaftskammer-Generalsekretärin Mariana Kühnel und SPO-EU-Delegationsleiter Andreas Schieder sowie Industriellenvereinigung-Generalsekretär Christoph Neumayer und Neos-Spitzenkandidat Helmut Brandstätter (mehr Infos unter: www.buergerforum-europa.at/event).
Vor allem europafreundliche Vereine, die Österreich-Ableger der EU-Institutionen, einige Medien sowie da und dort auch Parteiorganisationen mühen sich, mit ähnlichen Diskussionsforen wie diesen anstelle der üblichen rot-weiß-roten Nabelschau die blaue Europaflagge breit sichtbar zu hissen. Sprich: wenigstens in den paar Wochen vor dem europaweiten EU-Wahlgang (je nach EU-Mitgliedsland von 6. bis 9. Juni) die brennenden Zukunftsfragen des ganzen Kontinents auf die Agenda zu setzen.
Ein Vorhaben, das bei Zielgruppenveranstaltungen wie den ersten Meetings zwischen Spitzenmanagern und Spitzenkandidaten durchaus erfolgversprechend scheint. Ein Vorhaben, bei dem die Parteistrategen auf den Hauptbühnen in diesem Stimmenkampf freilich weniger denn je mitspielen. Schon die ersten Slogans und Plakate signalisierten: Vor allem die drei größeren Parteien sehen die EU-Wahl als Probebühne für den bundesweiten Wahlgang im Herbst. Die FPÖ gab sich von Anfang an nicht einmal den Anschein, dass es ihr auch nur eine Sekunde um eine sachliche Auseinandersetzung um Europathemen ginge. „Egal ob Asylkrise, Kriegstreiberei, Öko-Kommunismus oder Corona-Chaos: Es reicht“, gab der blaue EU-Listenführer Harald Vilimsky als Motto seiner Partei für den 9. Juni aus.
Auch wer am meisten bei der EU-Wahl 2024 zu verlieren fürchtet, wurde schon in den ersten Tagen nach Wahlkampfstart schlagartig sichtbar. Die EU-Wahlen endeten bisher immer mit einem Stimmenbonus für die Schwarzen im Vergleich zu nationalen Wahlen im gleichen zeitlichen Umfeld. Seit Beginn der Ara von Alois Mock als Außenminister hatte sich die OVP als die Europapartei positioniert und lag auch in schlechten schwarzen Zeiten bei EU-Wahlen Kopf an Kopf mit der SPÖ. Mit Beginn der Kanzlerära Faymann schwangen sich die Schwarzen 2009 erstmals mit einem Respektabstand von sieben Prozentpunkten zur heimischen Nummer eins im Brüsseler Parlament auf.
Bei ihrer ersten Europawahl 2019 bauten die von Skandalen noch unversehrten Türkisen den ÖVP-Vorsprung auf zehn Prozentpunkte aus. Auch dank Glück im Unglück: 14 Tage vor dem Wahltag platzte der Ibiza- Skandal. Sebastian Kurz sprengte binnen 24 Stunden Türkis-Blau. Als erster Kanzler der Republik wird er, angeführt von den rachedurstigen Blauen und Morgenluft witternden Roten, in der Folge per Misstrauensantrag über Nacht vom Ballhausplatz delogiert. Die türkise Flüsterpropaganda münzt die Europawahl am 26. Mai 2019 postwendend zu einem Misstrauensvotum der Wähler gegen den Kanzlersturz und einer Aufwärmrunde für die Neuwahl im Herbst 2019 um. Türkise Parole: „Das Parlament hat bestimmt, das Volk wird entscheiden."
Die fragwürdige Volte geht auf. Mit 34 Prozent fährt die ÖVP ihr historisch bestes Ergebnis bei Europawahlen ein (und legt auch gegenüber der ersten Kurz-Wahl 2017 noch einmal zu). Die SPO konnte ihre rund 24 Prozent bei der letzten EU-Wahl verteidigen. Die FPÖ kam mit einem Verlust von drei Prozentpunkten in der ersten Ibiza-Schockstarre noch glimpflich davon.
EU-Wahl-Muffel machen FPÖ zur Nummer eins
Die Blauen waren bei EU-Wahlen selbst zu ihren besten Zeiten in der Ara Haider nie über den dritten Platz (mit knapp 20 Prozent) hinausgekommen. Unter Demoskopen und Politikforschern galt daher bislang als eherne Regel: Die seit der erfolglosen FPÖ-Nein-Kampagne zum EU-Beitritt 1995 geschürte Paranoia vor Brüssel wurde zum Bumerang. Blaue Wähler waren bislang am schwersten zu motivieren, sich angesichts der Vorsilbe EU auch nur ins Wahllokal zu bewegen.
Alle Anzeichen. sprechen dafür, dass es der FPÖ diesmal gelingen könnte, die blauen EU-Wahl-Muffel stärker als bisher zu mobilisieren. Die ÖVP, die ein Vierteljahrhundert den EU-Kommissar ausnahmslos aus ihren Reihen. stellte, droht nun auch bei der EU-Wahl erstmals von der FPÖ auf den zweiten oder gar schmählichen dritten Platz verwiesen zu werden.
„Platz eins ist der FPO auch. bei den EU-Wahlen nicht mehr zu nehmen. Die Blauen scheinen diesmal besser mobilisierbar als früher zu sein", sagt Christoph Haselmayer, Chef des IFDD (Institut für Demoskopie und Datenanalyse). Umfragen für die Nationalratswahl weisen die Blauen zuletzt meist mit einem Abstand von fünf und mehr Prozent vor Rot und Schwarz aus. Im Gegensatz zu diesen Bundesumfragen liegen sie für die EU-Wahlen näher zusammen. "Die FPÖ hat bessere Karten, wenn sie ihre bisherigen Mobilisierungserfolge auch hier ins Ziel bringt", bestätigt Peter Hajek, Co-Chef des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Unique Research.
"Ein besonders hoher Sieg bei der EU-Wahl könnte aber die Aussichten der FPO für die Herbstwahl bremsen, weil er auch die Gegner noch mehr mobilisieren würde", gibt OGM-Chef Wolfgang Rachmayer zu bedenken: „Das könnte Wähler veranlassen, dann doch noch ihrer früheren Partei einen Rettungsring vor deren Ersaufen zuzuwerfen."
Schwarzes Brüssel-Bashing
In einem stimmen alle Demoskopen ohne Wenn und Aber überein: Der Wahlausgang am 9. Juni wird die Startaufstellung für die Nationalratswahl (voraussichtlich am 29. September) entscheidend bestimmen. Dieser Befund prägt auch die Strategiepläne in den Wahlkampfzentralen. Vor allem jene Partei, die am meisten zu verlieren, und jene, die am meisten zu gewinnen hat, sind daher seit Wochen aufeinander scharf gestellt. In der ÖVP geht bei manchen Funktionären als Horror-Benchmark gar ein Absturz auf 20 Prozent der Stimmen um.
Die ÖVP-Zentrale legte das Superwahljahr 2024 von Anfang an so an: Der EU-Wahlkampf ist der Sparring-Fight für den Showdown mit den Blauen im Herbst. Die längst brüchige Parole von der „Europapartei OVP wurde von den Schwarz-Türkisen in den Parteikeller verräumt. Um am 9. Juni gegen die Blauen nicht total unterzugehen, sucht die OVP ihr Heil darin: Sie mutiert endgültig zur "Europa-ja-aber-Partei".
ÖVP-Spitzenmann Reinhold Lopatka, ein mit allen Wassern gewaschener Strippenzieher im Hintergrund, liefert einen halsbrecherischen Spagat zwischen bald tagtäglich neuer scharfer Brüssel-Kritik und Abgrenzung zu blauen "Roter-Knopf-Fantasien" (wie zuletzt etwa Harald Vilimskys Sager: Green Deal? Weg damit!"). Lopatka sucht so zuletzt auch ein Thema neuerlich zu zünden, mit dem Karl Nehammer schon vor mehr als einem Jahr bei seiner Kanzlerrede neu durchstarten wollte - bislang ohne nachhaltigen Terraingewinn. Die ÖVP macht das "Njet" von Nehammer zum EU-Verbrenner-Verbot bei Neuwagen ab 2035 unverdrossen nun auch zu einem zentralen EU-Wahlkampfthema. Die ob des freien Falls am Wählermarkt panischen Schwarz-Türkisen hoffen, so wankelmütige Wähler vor allem am Land von der Fahrt ins Blaue abzuhalten.
Ein schwieriges Unterfangen: Denn am leichtesten tun sich bei dieser Wahl die FPÖ sowie die kleineren Oppositionsparteien Grün und Neos in Sachen EU. Im Gegensatz zu Schwarz-Türkis und Rot haben sie in Sachen Brüssel - wenn auch mit gegensätzlichen Vorzeichen - ein klares und kantiges Profil, sagen Politikanalysten übereinstimmend.
Die SPÖ schickt mit dem ehemaligen Klubchef und Außenpolitik-Experten Andreas Schieder zwar einen erfahrenen Politiker neuerlich als Spitzenkandidatenins Rennen. "Schieder hat mit Lopatka aber gemeinsam, dass er als "Ja-eh-Kandidat" gilt. Beide sind Vollprofis, aber keine Vote-Getter", sagt der Meinungsforscher Peter Hajek.
Die SPÖ legt ihre Kampagne klassisch sozialdemokratisch an. Parole: für ein faires und soziales Europa und gegen einen Rechtsruck. Mit dieser Stoßrichtung wärmen die SPÖ-Kampagnenmacher ihre Wähler auch schon für das Match-Finale im Herbst auf: "Was ein Rechtsruck bedeutet, hat Österreich ja jüngst unter Schwarz-Blau sehen müssen." Andreas Babler wird wie allen anderen Parteichefs zwar auf keinen Plakaten auftauchen, sein politisches Schicksal hängt aber ähnlich folgenschwer wie das von Karl Nehammer am Wahlausgang vom 9. Juni.
Wer immer von den beiden Polit-Buddies aus gemeinsamen Klubcheftagen in Große-Koalition-Zeiten auf Platz zwei oder drei landet: Andreas Schieder und Reinhold Lopatka ist der Sessel als nächster Delegationsleiter ihrer Fraktion im kommenden EU-Parlament schon jetzt sicher. Für Karl Nehammer und Andreas Babler ist aber spielentscheidend, welcher der beiden hinter der FPÖ landet. Nur jene Partei, die als Nummer zwei durchs Ziel geht, löst damit auch das Ticket für das Kanzlerduell. Am 9. Juni entscheidet sich, ob Karl Nehammer oder Andreas Babler mit neuem Rückenwind den Anspruch auf die finale Auseinandersetzung mit Herbert Kickl um die politische Vorherrschaft im Land stellen kann.
Poker mit Schilling, pinkes Potenzial
Bereits mit dem Rückenwind guter Umfragen gehen sowohl die jüngste Newcomerin als auch der späteste Quereinsteiger im EU-Spitzenkandidat:innen-Feld an den Start. Da diesmal 20 statt 19 EU-Mandate vergeben werden, hat Neos-Mandatar Helmut Brandstätter die Chance, nicht wie seine Vorgängerin Claudia Gamon als einziger Pinker in Brüssel zu sitzen. "Es darf in jedem Fall nach Salzburg und Innsbruck nicht der nächste Stimmenverlust werden. Wenn die Umfragen zutreffen, ist aber das zweite Mandat bereits mit einem leichten Zuwachs gesichert", sagt ein Neos-Insider.
Lena Schilling startet mit dem Handicap, aber auch den Vorteilen eines Politneuling. Mangelnde Erfahrung kompensiert die 23-Jährige mit schneller Auffassungsgabe und Lernfähigkeit. Die grünen Strategen EU-Kompetenz, sondern setzen freilich bewusst nicht auf auf maximale Wählermobilisierung. Mit der jungen Klimaaktivistin wollen die Ökos nicht nur ihre starke Basis bei Jungwäldern ausbauen, sondern das Erfolgsrezept der Nationalratswahl 2019 - ein offensiver Klimawahlkampf - reanimieren. Mit der Parole Herz statt Hetze" suchen die Grün-Strategen zudem, ähnlich wie die Sozialdemokraten, die FPÖ als Vorbote der Gefahr eines Rechtsrucks in ganz Europa ins Visier zu nehmen. Parteichef Werner Kogler gab schon frühzeitig eine Wahlparole aus, von der er glaubt, dass sie für das ganze Superwahljahr taugt: „Kommt Kickl, kommt Orbanistan."