Nach jahrelanger Entfremdung von der liberalen Unternehmerschaft stellt sich die FPÖ fürs Wahljahr nun mit einem neuen Wirtschaftsprogramm und möglichen Ministerkandidaten auf. Kann der Philosoph HERBERT KICKL praktische Wirtschaft?
Das wirtschaftliche Rätsel
Herbert Kickls Lieblingsphilosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel formulierte vor über 200 Jahren: "Wo die Zirkulation des Geldes am größten ist, da ist der Reichtum am größten." Daraus lässt sich, wenn man Wohlstandsvermehrung als politisches Ziel verfolgt, mit wenig Fantasie die Forderung nach möglichst barrierefreier Wirtschaft schlussfolgern, ebenso das Bekenntnis zum Freihandel.
Niemand weiß, welche Schlussfolgerung FPÖ-Chef Kickl aus seiner Lektüre zieht - wie er wirtschaftlich tickt, ist selbst seinem engeren Umfeld oft ein Rätsel. Ökonomie spiele in seinem Denken eine untergeordnete Rolle, sagen jene, die behaupten, ihn zu kennen. Freihandelsabkommen wie EU-Mercosur lehnt er jedenfalls vehement ab. Er sei "ein Sozialist", hört man mehrfach von jenen, die mit dem Kärntner Arbeiterkind am Verhandlungstisch saßen, etwa bei den ÖVP-FPÖ- Regierungsverhandlungen im Jahr 2017.
Dabei spielen bei den Freiheitlichen, historisch die Partei der Freiberufler und Gewerbetreibenden, Wirtschaftsliberale seit jeher eine große Rolle. Unter Jörg Haider saß mit Thomas Prinzhorn zehn Jahre lang - bis 2006 - sogar einer der führenden Industriellen des Landes für die FPÖ im Parlament.
Doch insbesondere zur Industrie und zu ihrer Interessenvertretung, der Industriellenvereinigung (IV), hat sich das Verhältnis in den letzten Jahren dramatisch abgekühlt, in der IV-Bundeszentrale am Wiener Schwarzenbergplatz wird von einer "Führerpartei" gesprochen, zu der die Freiheitlichen unter Kickl geworden seien. Und in der Programmatik haben erst die Neos, dann die Kurz-ÖVP große Teile der Unternehmerschaft besser ansprechen können.
Das "Standortprogramm"
Je länger die Partei in den Umfragen in 30-Prozent-Flughöhe bleibt - so wie derzeit -, umso größer wird der Druck, sich für Koalitionsverhandlungen nach der Nationalratswahl 2024 auch im Wirtschaftsbereich aufzustellen. Programmatisch und personell.
Eine Gruppe führender Blauer hat daher in den letzten Monaten ein neues Wirtschaftsprogramm - intern "Standortprogramm" genannt - ausgearbeitet, das derzeit zur Approbierung bei der Parteispitze liegt. Zu den Autoren zählen Arnold Schiefer, früherer ÖBB-Finanzvorstand, der oberösterreichische Landesparteichef Manfred Haimbuchner, der Kärntner Hotelier Matthias Krenn, Bürgermeister von Bad Kleinkirchheim, der frühere Staatssekretär und jetzige finanzpolitische Sprecher Hubert Fuchs und der Welser Bürgermeister Andreas Rabl. Dass mit Schiefer, Haimbuchner und Rabl gleich drei Oberösterreicher zu den Autoren des Papiers gehören, ist ein Hinweis darauf, dass man sich um die liberale Note bemüht - die Landespartei ob der Enns gilt als besonders industrie- und wirtschaftsnah.
Über die Inhalte soll erst nach der Freigabe durch Kickl gesprochen werden, doch einige Kernaussagen stehen schon jetzt fest:
ein Nein zur Vermögens- und Erbschaftssteuer
eine Senkung der Steuern- und Abgabenquote unter 40 Prozent
eine steuerliche Entlastung von Überstunden und von Stunden, die in der Pension gearbeitet werden.
eine Arbeitszeitverkürzung "ist ein No-Go", so Krenn.
Das bietet jede Menge Abgrenzungsmöglichkeiten zur Babler-SPÖ, aber kaum zur ÖVP und schon gar nicht zu den rundum liberalen Neos. Die pinke Partei hat mit dem Salzburger Gastronomen Sepp Schellhorn zudem nun wieder einen glaubwürdigen und lauten Anti-Bürokratie-Fighter an Bord, während die Unternehmer in der FPÖ-Nationalratsfraktion leise und in der Minderheit sind.
Was soll also das Unterscheidungsmerkmal vom bürgerlichen Politmitbewerb sein? "Wir verknüpfen unsere Positionen nicht mit Sozialabbau wie die Neos", liefert Rabl (siehe "Andreas Rabl: Der "letzte Liberale" in der Partei der Freiheit") einen Hinweis. Denn klar ist, dass die FPÖ nun einen neuen Ansatz wählt: Sie will mit ihrem Wirtschaftsprogramm Unternehmer gleichermaßen wie Angestellte und Arbeiter ansprechen. "Wir wollen keine Prolongierung des Kammersystems, sondern in allen Kapiteln die Interessen beider Seiten zusammen denken", erklärt Schiefer.
Marxistisch gesprochen: Klassengegensätze gibt es in diesem Konzept nicht mehr. Ob das in letzter Konsequenz heißt, dass auch das Kammerwesen überflüssig ist, beantwortet Krenn, Wirtschaftskammer-Vize, ausweichend: "Wir sollten natürlich immer über Reform und Verschlankung der Kammern nachdenken."
Sozial mit Ablaufdatum
Der Mittelweg ist strategisch begründet, sagt der Politikforscher Peter Filzmaier. Der Anteil der Selbstständigen an der gesamtösterreichischen Wählerschaft ist einstellig, und insbesondere Ein-Personen-Unternehmen tendierten in den letzten Jahren eher zu den Neos oder sogar zu den Grünen. Quantitativ ist dieses Segment nicht spielentscheidend, wenn man gewinnen will. Filzmaier: "Wenn ich 30 Prozent anpeile, sind sozialstaatliche Unterstützungsprogramme wichtiger."
Daher wurden auf dem Altar der Stimmenmaximierung in den letzten Jahren sukzessive liberale Positionen geopfert. Die Kickl-FPÖ befürwortet etwa staatliche Eingriffe in die Mieten und eine Übergewinnsteuer für Banken. Freiheit im internationalen Handel ist nur dann gut, wenn sie den eigenen Leuten - im Fall von EU-Mercosur den heimischen Bauern - nicht schadet.
So ist es denn ein Spagat, den die FPÖ hinkriegen will, um sowohl im Match um die ehemalige SPÖ-Wählerschaft zu punkten als auch das Leistung-lohnt-sich-Lied von ÖVP und Neos zu singen. "Wir propagieren keinen Vollkasko-Staat. Das Wort Leistung steht bei uns in fetten Lettern im Programm", sagt Schiefer. Zugleich soll den von Corona und Inflation gebeutelten Schichten der Bevölkerung maximal geholfen werden - allerdings mit Ablaufdatum. Schiefer: "Im Gegensatz zu Babler wollen wir in der jetzigen Lage Unterstützungen temporär auf zwei Jahre, aber nicht langfristig mehr Umverteilung."
Doppelversprechen
Der Haken daran ist, so Filzmaier, dass ein solcher Spagat womöglich in der Opposition bewerkstelligbar sein mag, in einer Regierung aber keinesfalls: "Das vollmundige Doppelversprechen 'weniger Steuern, mehr Sozialstaat' ist immer dann geplatzt, sobald die FPÖ in der Regierung war." Filzmaier verweist auf den legendären Knittelfelder Parteitag 2002, aber auch auf das Ibiza-Video im Jahr 2019.
Die Wirtschaftsrealos in der Partei hoffen bei diesem Thema auf die normative Kraft des Faktischen, die mit Regierungseintritt zu wirken beginnen muss. Angesichts der schlechten Wirtschaftsaussichten und einer Rezession, die womöglich bis ins Jahr 2025 hinein dauert, werde es ohnehin "nicht möglich sein, dauerhaft Geld zu verteilen", glaubt Christian Ebner, von 2003 bis 2005 Kabinettschef des FPÖ-Verkehrsministers und Vizekanzlers Hubert Gorbach.
Manche meinen sogar Anzeichen zu erkennen, dass Kickl den Wirtschaftseinflüsterern unter dem Eindruck der günstigen Umfragen bereits jetzt zuzuhören beginnt. In der Zuwanderungsfrage ist er den Interessen der Unternehmer, die händeringend nach Personal suchen, ein Stück weit entgegengekommen. Qualifizierte Zuwanderung ist nun kein Teufelswerk mehr, sondern ein Mittel zur Überbrückung von Engpässen - solange die Migranten "Gastarbeiter" bleiben, also eine zeitliche Begrenzung vereinbart wird. Ob der Parteichef auch andere nicht in die bisherige Ideologie passende Wahrheiten des Wirtschaftslebens anzunehmen bereit ist, bleibt dabei offen.
Minister in Spe
Ebenso offen ist die Frage, mit wem die FPÖ die wirtschaftsrelevanten Spitzenämter in einer Regierung überhaupt besetzen könnte. Den Eindruck, dass viele Wirtschaftsvertreter den Freiheitlichen in den letzten Jahren wegen zu rabiater Parolen den Rücken gekehrt haben, versuchen die Blauen beharrlich zu zerstreuen. Es seien genügend Sympathisanten in Wartestellung, nur traue sich derzeit noch niemand, sich zu deklarieren - aus Angst vor den Folgen fürs Geschäft. "Wenn es so weit ist, wird es sicher eine Reihe von Persönlichkeiten geben, die sich anbieten werden", hofft ein ranghoher FPÖler auf einen Wendeeffekt.
Als geeigneter Kandidat fürs Finanzministerium wird Programmautor Schiefer selbst eingestuft, der eine lange berufliche Laufbahn in der praktischen, wenngleich staatsnahen Wirtschaft vorzuweisen hat und von vielen Liberalen unterstützt wird. Schiefer lässt sich aber, so ist zu hören, noch bitten.
Auch der Name des Welser Bürgermeisters fällt wiederholt: Rabl gilt als Querverbinder zur ÖVP und deklariert sich als Wirtschaftsliberaler: "Wir tragen doch die Freiheit im Namen", pocht er auf die Wurzeln. Die Freiheit, in Wels zu bleiben, will er sich jedoch behalten. "Ich habe nicht vor, nach Wien zu gehen", sagt Rabl, der dementiert, für einen solchen Fall überhaupt gefragt worden zu sein. Wer den gelernten Rechtsanwalt kennt, sagt, dass er extrem machtbewusst und strategisch denkt - und ein solcher Karrieresprung durchaus zu ihm passen würde. "Allerdings würde er sich dann nicht mit dem Wirtschaftsministerium begnügen, sondern wäre eher Finanz- oder Justizminister", so ein Rabl-Bekannter.
Rückkehrgelüste werden zudem zwei früheren Regierungsmitgliedern nachgesagt: Andreas Reichhardt, dem Kurzzeit-Infrastrukturminister unter der Regierung von Brigitte Bierlein, und Fuchs, der vor diesem Intermezzo bis 2019 unter der Kurz-Strache-Regierung Staatssekretär war. Als mögliche Personalreserve wird außerdem noch Achim Kaspar genannt, Vorstand in der Verbund AG.
Präsentiert werden soll das neue Programm wahlkampftaktisch dann, wenn die Botschaften noch lang und laut genug getrommelt werden können. Sollte das Echo dann negativ sein, kann sich Kickl ja wieder einmal an seinem Lieblingsphilosophen Hegel orientieren:"Wer die öffentliche Meinung nicht zu verachten versteht, wird es nie zu Großem bringen."
Der Artikel ist in der trend. PREMIUM Ausgabe vom 10.11. 2023 erschienen.