Die Startschüsse für das 1,5-Milliarden-Euro-Megaprojekt greentec steel der voestalpine sind gefallen. In Donawitz und Linz wird mit Volldampf gebaggert, demontiert, konstruiert. Ein Blick hinter die Kulissen.
Stellen Sie sich vor, Sie müssten während eines Langstreckenlaufs Ihre Schuhe wechseln und die Atemtechnik von Grund auf ändern, ohne dabei Halt machen zu dürfen. Gleichzeitig müssen Sie die Konkurrenz, die vor denselben Herausforderungen steht, und etwaige neue Teilnehmer:innen am Lauffeld im Auge behalten – das alles, ohne ins Stolpern zu geraten.
So ähnlich verhält es sich bei der großen Transformation der voestalpine mit dem greentec-steel-Plan. „Die größte Herausforderung ist die Umstellung auf eine grüne Stahlproduktion während des laufenden Betriebs“, sagt CEO Herbert Eibensteiner über das Projekt, das den Stahl- und Technologiekonzern bis 2027 in Atem halten wird.
Denn die Kunden wollen natürlich weiterhin ohne Unterbrechung mit Stahl höchster Qualität beliefert werden, nur eben zunehmend auch mit grünem, also CO2-reduziertem Stahl. Ab 2027 sollen dank greentec steel die voestalpine-Emissionen plangemäß um 30 Prozent gesenkt werden, was eine Reduktion des gesamtösterreichischen CO2-Ausstoßes um fünf Prozent bedeutet (siehe „Klimaschutz in Zahlen“). Investitionshöhe: stolze 1,5 Milliarden Euro. Das Net-Zero-Zieldatum der voestalpine ist 2050.
In Umsetzung.
Diese Zahlen sind längst nicht mehr nur Überschriften, die Investoren, Politik und Öffentlichkeit leiten sollen. Wer sich dieser Tage an den voestalpine-Standorten Donawitz oder Linz umschaut, sieht jede Menge Bagger, Kräne und Baupersonal. Die offiziellen Spatenstiche für die Großbaustellen sind am 13. September beziehungsweise 10. Oktober erfolgt. Es waren mehr als nur symbolische Akte: Für CEO Eibensteiner sind sie „der sichtbare Grundstein für die grüne Zukunft der voestalpine und ein wichtiger Meilenstein für den Klimaschutz in Österreich.“
Aber auch bei den Lieferanten wird mit Volldampf getüftelt: In Buttrio nahe Udine etwa rauchen Dutzende Köpfe, um den ersten Elektrolichtbogenofen für die voestalpine zu konstruieren. Diese im Fachjargon EAF – Electric Arc Furnace – genannten Öfen sind das technologische Herzstück der Transformation, Nachfolger der bisherigen Hochöfen. 60 voestalpine-Mitarbeiter:innen bereiten sich allein in Donawitz darauf vor, dass alles wie am Schnürchen läuft, wenn die Teile des 200 Tonnen schweren Ofens dann aus Norditalien zugestellt werden. „Mit der Bestellung über die Lieferung des Hauptaggregates haben wir die technologische Basis für die Stahlerzeugung der Zukunft gelegt“, sagt Vorstandsmitglied Franz Kainersdorfer, Leiter der Metal Engineering Division mit Sitz in Donawitz.
Die Zukunft hat also schon begonnen. Alt weicht in den kommenden Monaten stufenweise Neu. Noch nie gab es bei der voestalpine ein so komplexes Investitionsprojekt wie greentec steel, vor allem weil die Bestandsanlagen mehr oder weniger nahtlos von den neuen Anlagen abgelöst werden sollen.
Wo in Donawitz etwa der imposante EAF sowie die künftige, schallisolierte Schrotthalle mit einer Lagerkapazität von 27.000 Tonnen stehen werden, werden dieser Tage die alte Stranggussanlage und die Gleisschleife demontiert. In Linz ist allein die Freimachung des Baufelds ein Manöver der Sonderklasse: Straßen werden neu errichtet, Lagergebäude verlegt, die Rohstoffversorgung wird umorganisiert. Eine buchstäblich gewichtige Angelegenheit: Jedes Einzelne der ersten vier Bauteile für die 750 Meter lange Förderbandbrücke wiegt inklusive Ausrüstung rund 192 Tonnen.
Danach geht es ab Ende 2024 tief hinunter: Rund 25 Meter unter der Oberfläche wird ein Minitunnel mit rund zwei Metern Durchmesser gebohrt, in den die neue 220-kV-Stromleitung verlegt wird. Sie ist die Nabelschnur ins neue Zeitalter: Durch sie wird der Grünstrom vom Umspannwerk zum EAF fließen. Bemerkenswertes Detail: Der Tunnel muss zur Kühlung mit Grundwasser geflutet werden, sonst würde er sich auf rund 280 Grad erwärmen.
Natürlich braucht der EAF aber nicht nur Strom. Um das Schmelzaggregat mit Rohstoffen wie Eisenschwamm (Hot Briquetted Iron, HBI), Kalk und Schrott per Bahn versorgen zu können, ist eine neue Gleisanbindung, „Westumfahrung“ genannt, am Werksgelände notwendig. Sie wird bereits gebaut.
Green Jobs.
Die Baustellenaktivitäten sind in dieser Phase der sichtbarste Teil der Transformation. Spektakulär ist aber auch der umfassende Wandel, den der Umstieg für das Unternehmen selbst mit sich bringt. Der Weg von der integrierten Hochofenroute zur neuen, grünstrombasierten Stahlherstellung mit EAFs ist nicht nur mit Baumaschinen flankiert. Auch die Berufsbilder ändern sich. Anlagen- und Elektrotechniker:in gehört nun zu den heiß begehrten „Green Jobs“, von denen allein 200 in Linz entstehen. Am Sitz des Stahl- und Technologiekonzerns werden 60 Fachkräfte im Bereich Mechanik, 15 Fachkräfte für die Elektrik und 125 Fachkräfte für die Produktion gesucht.
Zehn zusätzliche Lehrlinge, darunter zwei Mädchen, werden als Elektrobetriebstechniker:innen für die Anlagentechnik ausgebildet. Ausbildungspläne und Modulinhalte des konzerneigenen Lehrlingsausbildungszentrums am Standort Linz werden an greentec steel angepasst. Genauso verhält es sich logischer Weise auch am Standort Donawitz.
Das Ziel des Langstreckenlaufs, dessen erste Etappe greentec steel ist, ist klar kommuniziert: Klimaneutralität. Wie schnell die einzelnen Abschnitte genommen werden müssen, ist jedoch abhängig von externen Faktoren in der Infrastruktur. „Eine Grundvoraussetzung für den Betrieb der Anlagen ist die ausreichende Verfügbarkeit von Strom aus erneuerbaren Quellen zu wirtschaftlich darstellbaren Preisen“, merkt voestalpine-Vorstand Hubert Zajicek, Leiter der Steel Division mit Sitz in Linz, dazu an, und er fügt in Richtung der politischen Entscheidungsträger hinzu: „Noch wichtiger ist die Bereitstellung einer leistungsfähigen und integrierten Netzinfrastruktur.“
Weil der Markt sich in der Transformationszeit erst einmal herausbilden muss, ist trotz ausgeklügeltster Planung auch Flexibilität Pflicht. Ab dem Jahr 2026 und bis 2034 laufen die der voestalpine zugeteilten CO2-Zertifikate aus. Die Auswirkungen sind ebenso offen wie jene des 2023 in Kraft getretenen europäischen CO2-Grenzausgleichsmechanismus CBAM (Cross-Border Adjustment Mechanism).
Welche Sorten grünen Stahl es geben wird und was sie kosten werden, ist gleichfalls noch unklar. Auto- und Haushaltsgerätehersteller, Windkraft-, Bahn- oder Flugzeugindustrie haben ihre je eigenen Geschwindigkeiten, um CO2 in ihren Produkten, in denen Stahl eine Rolle spielt, zu minimieren. Dazu kommen schwer kalkulierbare wirtschaftliche Variablen, die das Nachfrageverhalten beeinflussen – in rezessiven Zeiten liegt der Fokus fast aller Industrien auf den Kosten.
Kurzum: Die Feinheiten des greentec-steel-Plans werden sich am Tempo orientieren, in dem CO2-reduzierter Stahl nachgefragt wird.
Klimaschutz in Zahlen
greentec steel ist nicht nur das größte Investitionsprojekt in der Geschichte des Stahl- und Technologiekonzerns voestalpine, sondern auch eine Megaleistung in Sachen Baustellenmanagement, Flexibilität und umfassender Kulturwandel.
» 1,5 Mrd. Euro Investitionsvolumen
» 2,5 Mio. Tonnen beträgt die jährliche Menge des von der voestalpine produzierten CO2-reduzierten Stahls ab 2027. 1,6 Mio. Tonnen davon entfallen auf den Standort in Linz
» 4 Mio. Tonnen CO2, also fünf Prozent der gesamtösterreichischen Emissionen, sollen ab 2027 eingespart werden
» 767 Mio. Euro beträgt die erwartete Wertschöpfung für die Investitionen in Linz und Donawitz in Österreich
» 9.000 Arbeitsplätze werden gesichert
» 200 Green Jobs entstehen allein in Linz
» 18.900 Tonnen Stahlbaumasse werden in Donawitz im Zusammenhang mit der Errichtung des EAF verarbeitet
» 25 Meter unter der Erde liegt der Tunnel mit einem Durchmesser von rund zwei Metern, durch den die 220-kV-Leitung in Linz gelegt wird
» 200.000 Tonnen umfassen allein die Erdbewegungen in Donawitz
» 750 Meter lang ist in Linz die neue Förderbandbrücke zur Rohstoffversorgung, die im Rahmen der Baufeldfreimachung errichtet wird
» 8.375 Lkw-Fuhren Beton werden in Linz für greentec steel zugeordnete Bauarbeiten nötig sein
» 1.400 Grad wird die Temperatur im neuen E-Ofen beim Schmelzprozess betragen
Im Kreislauf.
Die voestalpine geht jedenfalls schon einmal mit gutem Beispiel voran. Wer, wenn nicht der Grünstahlerzeuger, könnte besser demonstrieren, worum es geht? Für die monumentale Förderbandbrücke wurden 190 Tonnen mit reduziertem CO2-Fußabdruck aus der „greentec steel Edition“ verbaut. CO2-Ersparnis im Vergleich zur Produktion nach altem Muster: 9,5 Tonnen.
Eine sehr spezielle Variante von Kreislaufwirtschaft stellt die Wärmerückgewinnung aus dem neuen EAF dar, in dem eine Temperatur von rund 1.400 Grad herrschen wird. Das Abgas mit einer Temperatur von dann noch immer 1.200 Grad muss erst einmal heruntergekühlt werden. Durch den Einbau eines Dampferzeugers kann ein Großteil der im Dampf enthaltenen Wärmeenergie in Form von Wasserdampf nutzbar gemacht werden. Im Kraftwerk wird damit Strom erzeugt. Sowohl in Donawitz als auch in Linz werden parallel zum großen EAF-Manöver neue Wärmerückgewinnungsanlagen gebaut.
Die Route für den Langstreckenlauf der voestalpine ist somit klar definiert, der Plan ausgereift, die Motivation hoch. Nach und nach in die neuen Schuhe zu schlüpfen, wird das Kunststück der kommenden Jahre.
Flexibel ins E-Zeitalter
Stahl klimafreundlicher herzustellen als bisher, benötigt auch neue Skills. Adaptierte Lehrpläne bereiten den voestalpine-Nachwuchs auf EAF & Co. vor.
Lukas Frühwirth aus Schwertberg ist einer von 940 Lehrlingen der voestalpine in Österreich. Weltweit sind es sogar 1.400, und dass der Konzernnachwuchs auch weltweit mithalten kann, zeigte sich eindrucksvoll bei den Berufs-Europameisterschaften Anfang September im polnischen Danzig: Der Anlagenelektrikerlehrling Frühwirth heimste die Silbermedaille ein. Innerhalb von drei Tagen war dabei eine komplette Produktionsanlage von Grund auf aufzubauen, in Betrieb zu nehmen und die dafür benötigte Software zu programmieren – quasi greentec steel im Trockendock.
Lehrlingsausbildung hat bei der voestalpine traditionell einen besonders großen Stellenwert. Mehr als 90.000 Euro fließen in die Ausbildung jedes Lehrlings. Neben den fachlichen und sozialen Qualifikationen ist auch das Bewusstsein wichtig, zu einem größeren Ganzen zu gehören. Während Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft und Medien am 10. Oktober in Linz den Spatenstich für den Beginn der Transformation feierten, trafen sich ein paar Hundert Meter von der Baustelle entfernt jene Mitarbeiter:innen, die diesen Wandel in den nächsten Jahrzehnten mit Leben erfüllen müssen: 400 Lehrlinge aus 40 voestalpine-Standorten in Österreich, Deutschland und der Schweiz.
Noch vor den offiziellen Presseterminen stand der voestalpine-Vorstand dem versammelten Fachkräftenachwuchs Rede und Antwort. greentec steel und das neue Edelstahlwerk in Kapfenberg waren dabei im Zentrum des Interesses, auch individuelle Karrieremöglichkeiten wurden besprochen. CEO Herbert Eibensteiner betrachtet den Event, der 2023 erstmals seit Beginn der Coronapandemie wieder vor Ort möglich war, auch als „Wertschätzung für den täglichen Einsatz“ der Lehrlinge. Ein besonderes Highlight für die Jugendlichen war ein Auftritt des charismatischen EU-Jugendbotschafters und whatchado-Gründers Ali Mahlodji, der mit Botschaften wie „Wir brauchen eine Arbeitswelt, in der du alles sein kannst was du sein willst“ dazu auffordert, das Arbeitsleben fundamental neu zu denken.
50 unterschiedliche Lehrberufe kann man an den voestalpine-Standorten in Oberösterreich, Niederösterreich und in der Steiermark lernen, das Spektrum reicht von Metalltechnik bis Mechatronik, von kaufmännischen Fächern bis App-Entwicklung, von Vermessungstechnik bis Gastronomie. 400 haben dieses Jahr allein in Österreich ihren Ausbildungsweg im Stahl- und Technologiekonzern begonnen. Bei den „Neuen“ steht natürlich schon die neue Elektrolichtbogenofentechnologie im Ausbildungsplan. Auch das Weiterbildungsangebot wird an die greentec steel-Erfordernisse angepasst.
Traditionell männerlastig, wächst der Anteil an Frauen in den technischen Lehrberufen beständig. Er hat sich in den letzten zehn Jahren auf 17 Prozent verdoppelt, in den Werkshallen und Büros wird der „Female Factor“ sichtbarer. Und dass mit Carola Richter als Leiterin der Metal Forming Division im April 2024 die erste Frau in den Konzernvorstand einzieht, sollte auch jene Frauen ermutigen, die nach den Sternen greifen wollen.