ZUR PERSON. MICHAEL WAGENHOFER ist seit 2005 Geschäftsführer und Sprecher der ORS Group, die damals aus der ORF-Sendetechnik hervorging. Der Jurist verantwortete die Umgestaltung der ORS zum marktorientierten Dienstleistungsunternehmen mit den Geschäftsbereichen Terrestrik, Satellit und Content via IP sowie die Einführung des digitalen Antennenfernsehens. 2013 erfolgte mit simpliTV der Einstieg ins B2C-Geschäft.
©ORF/Thomas RamstorferMICHAEL WAGENHOFER, Geschäftsführer der ORS, über Informationssicherheit, die Herausforderung durch Streaming, neue hybride Angebote mit simpliTV und dem neuen 5G Broadcast-Standard, der TV direkt auf das Handy bringt und künftig auch der Raumfahrtbehörde ESA dienen könnte.
trend.: Das Jahr 2022 war für viele Unternehmen sehr herausfordernd. Wie ist es bei der ORS gelaufen?
Michael Wagenhofer: Das lineare Fernsehen behielt weiterhin seine starke Rolle im Konzert verschiedener audiovisueller Dienste, auch wenn sich der Trend in Richtung nichtlinearer Konsum, also in Richtung Streaming fortgesetzt hat. Die Herausforderung ist, sich in diesem immer stärker durch IP-Technologie geprägten Umfeld zu positionieren und den Zugang zum Kunden zu erhalten. In der IP-Welt drängen aus allen Ecken und Enden Plattformen über die App-Stores, über die Smart-TVs oder über die Internet Service Provider herein. Da wird es für den Rundfunk immer schwieriger, den direkten Kundenkontakt zu halten. Genau hier sehen wir unsere Rolle als zentraler Partner der Broadcaster, der den Kundenzugang in der klassischen Rundfunkwelt, aber auch in der IP-Welt bietet.
War die ORS auch von der Energiekrise betroffen?
Die betrifft uns natürlich auch. Aber wie die meisten Unternehmen kaufen wir den Strom über die Future-Märkte im Vorhinein. Die große Herausforderung steht deshalb erst im nächsten Jahr bevor. Da sind wir mit viel, viel höheren Energiekosten konfrontiert als in der Vergangenheit.
Wie ist das Geschäftsjahr gelaufen?
Wir werden unsere Budgetzahlen aller Voraussicht nach erreichen. Das wird sich im Wesentlichen in den Dimensionen bewegen wie in den Jahren zuvor. Die Herausforderungen kommen erst im nächsten Jahr.
Der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise und Cyberangriffe auf die Infrastruktur haben auch gezeigt, wie wichtig die Rundfunk- und Informationssicherheit in Österreich ist. Welchen Beitrag kann hier die Terrestrik leisten?
In der Ukraine gab es gleich zu Beginn der Kriegshandlungen das Bombardement des großen Fernsehturms in Kiew. Das war ein großer Schlag für die Kommunikationsinfrastruktur und hatte auch eine große psychologische Wirkung. Die Desinformation, die mit diesem Krieg einherging, hat man dadurch beschleunigt, denn es war für die Ukrainer schwer möglich, irgendwo noch zu Informationen zu kommen. Was sich auch in den ersten Kriegstagen gezeigt hat, war, dass das Internet und der Mobilfunk sehr, sehr schnell unterbrochen wurden, aber der Rundfunk doch noch mehrere Stunden verfügbar war. Hier vor allem das Radio, das die verbliebene Kommunikationsader am Beginn des Krieges war.
Informiert wurde auch über die Kurzwelle?
Der Westen hat die gute alte Kurzwelle genutzt, um in das Kriegsgebiet, aber auch nach Russland objektive Informationen zu liefern. Da sieht man, dass all diese Technologien nicht abgelöst werden, sondern parallel bestehen. Und dass der Rundfunk gegenüber dem Internet die deutlich resilientere Infrastruktur ist. In Österreich gibt es über 400 Sender, die mit Notstromaggregaten ausgestattet sind, die mindestens 72 Stunden den Betrieb sicherstellen.
Die Terrestrik bietet hier viele Vorteile. Wie sieht es aber mit der Zukunft der klassischen Funkübertragung aus? Schließlich nutzen immer mehr Leute heute Streamingdienste.
Wir steuern sicher auf eine IP-basierte Kommunikationszukunft zu. Der Satellitenrundfunk und der terrestrische Rundfunk werden aber sicher bis in die 2030er-Jahre relevant bleiben. Woran wir gerade arbeiten, ist, die Rundfunkinfrastruktur nun ebenfalls mit der IP-Sprache sprechen zu lassen. Dazu gibt es einige wichtige Initiativen. Eine der für uns wichtigsten ist 5G Broadcast. Dabei handelt es sich nicht um einen digitalen Video-Broadcast-Standard, also klassischen Rundfunk, sondern einen Standard, der im Internetprotokoll sendet. Man kann das mit einem Livestream vergleichen, der etwa vom Sender Kahlenberg in Wien gesendet wird und direkt vom Handy empfangen werden kann. Damit machen wir einen Schritt hinein in das neue Internetprotokoll-Breitband-Ecosystem und stärken damit auch die zuvor angesprochene Resilienz, da mit 5G Broadcast auch ohne Mobilfunk per Handy empfangen werden kann. Für unsere Kunden, die Broadcaster, schaffen wir damit auch einen direkteren Zugang zu ihren Kunden.
Wie stark wird lineares Fernsehen noch genutzt?
Dazu gibt es eine aktuelle Bewegtbildstudie der Rundfunk-Regulierungsbehörde und der Arbeitsgemeinschaft Teletest, die versucht, die klassische Fernseh- und Streamingnutzung vergleichbar zu machen. Sie zeigt, dass noch immer 70 Prozent des gesamten audiovisuellen Bereiches in Österreich aus dem linearen Fernsehen stammen. Natürlich ist der Anteil bei Jüngeren geringer, aber auch hier wird noch vieles wie Sportübertragungen gerne linear konsumiert. Die große Herausforderung für uns ist, jüngeren Zielgruppen es wieder leichter zu machen, an das lineare Fernsehen heranzukommen. Nämlich auf den Geräten, die sie hauptsächlich nutzen. Das sind Smartphones und Tablets, und hier spielt künftig 5GBroadcast eine wichtige Rolle.
Welche Bedeutung hat der terrestrische Rundfunk für den Standort Österreich und Europa?
Der Rundfunk und die bestehenden Netze bieten hohe Marktanteile und Reichweiten für die bestehenden Player. Würde man alles nur über das Internet verbreiten und ein Level-Playing-Field mit Netflix und Co. haben, dann würden genau diese Wettbewerbsvorteile, die sich die europäische audiovisuelle Wirtschaft aufgebaut hat, schlagartig weg sein. Man müsste dann mit einem noch größeren Bedeutungs- und Marktanteilverlust rechnen, als es ohnehin schon der Fall ist. On-Demand-Video in Europa ist heute vor allem in der Hand von Netflix und Amazon Prime. Andere Anbieter wie Sky haben hier nur kleine Anteile. Die Kabel-, Satelliten- und terrestrischen Netze sind noch die Domäne der europäischen Fernsehlandschaft.
Ein weiterer Rückgang würde hier die europäischen Fernsehproduktionen und die Filmwirtschaft weiter marginalisieren?
Genau. Es ist ja heute schon so, dass der Online-Werbemarkt großteils von den amerikanischen Medien aufgesaugt wird. Dieser Effekt würde sich noch verstärken, die europäischen Produktionsbudgets reduzieren. Die europäische Identität in Filmen und Fernsehen wäre dann nicht mehr so stark vertreten.
An welchen Lösungen für die Fernsehzukunft arbeitet die ORS?
Wir glauben sehr stark an eine hybride Struktur, und dass das lineare Fernsehen – „one-to-many“ – weiterhin eine wichtige Rolle spielt. Es bietet unabhängig davon, wie viele zuschauen, eine gleich hohe Qualität, also den gleichen Servicelevel. Hier hat das Streaming noch immer Schwächen. Noch dazu benötigt das Streaming rund neunmal mehr Energie als die Terrestrik, wie Studien zeigen. Für wirkliche Großevents ist das Fernsehen das Mittel, um sicher und energieeffizient zum Kunden zu kommen. Aber man muss heute natürlich noch mehr als nur die Übertragung bieten. Deshalb glauben wir an eine hybride Welt. Diesen Ansatz haben wir mit unserer letzten Entwicklung bei simpliTV vorangetrieben und eine App auf den Markt gebracht, die sowohl das klassische Fernsehen als auch die Onlinewelt vereint.
Was ist bei simpliTV noch alles geplant?
Es findet laufend ein Ausbau der Programmvielfalt statt. Die nächsten Schritte sind, dass wir mit entsprechenden Algorithmen auch sehr gute Empfehlungen liefern können. Damit lassen sich aus dem großen Universum des Fernsehangebots, das aus sieben Tagen Programm und rund 100 Kanälen besteht, die Schätze einfach auffinden. Das ist bislang eines der großen Probleme des Fernsehens.
Die wirklich große Neuerung bringt 5G Broadcast, eine sehr spannende Technologie, über die Handys und mobile Geräte ohne Mobilfunknetz direkt über terrestrische Sendestationen versorgt werden. Welche Vorteile bringt der neue Standard noch?
Mit 5G Broadcast besteht auch erstmals in der Geschichte des Fernsehens die Chance, dass man einen globalen Standard etabliert. Die großen Consumer-Electronics-Hersteller müssten dann auch nicht mehr unterschiedliche Standards für die unterschiedlichen Weltregionen integrieren. Und er hätte den Vorteil, dass er „one-to-many“ die qualitätsvolle Versorgung eines Massenpublikums erlaubt sowie sich gleichzeitig nahtlos in IP-basierte Applikationen integrieren lässt. Mit 5G Broadcast würden wir auch schlagartig alle mobilen Konsumenten erreichen. Ende der 2020er- Jahre könnten dann die selbstfahrenden Autos Realität werden. Die Passagiere werden dann die gewonnene Zeit auch zum Medienkonsum nutzen. 5G Broadcast kann hier direkt in die Car-Entertainment-Systeme reinkommunizieren und steht auch bei einer Mobilfunküberlastung etwa im Stau zur Verfügung.
Es gab schon großflächige Tests mit 5G Broadcast wie im Mai beim Eurovision Song Contest in Turin. Welche Erfahrungen hat man hier sammeln können?
Europaweit laufen in verschiedenen Ländern 5G-BroadcastTests. Rund um den Eurovision Song Contest hat man erstmals mehrere Tests zu einem europaweiten Livestream zusammengeschaltet. Ein Ziel ist, rund um die olympischen Sommerspiele 2024 eine europaweite 5G-Broadcast-Übertragung zu bieten. Das setzt natürlich voraus, dass es schon eine große Anzahl an 5G-Broadcast-fähigen Endgeräten gibt. Aktuell gibt es bereits Prototypen. Qualcomm, der größte Hersteller von Mobilfunkchips, hat großes Interesse an diesem Standard und arbeitet aktiv an der Entwicklung mit. Auch beim Mobile World Congress in Barcelona 2023 werden wir 5G Broadcast nochmals groß präsentieren.
Die ORS ist ja auch maßgeblich an der Entwicklung von 5G Broadcast beteiligt. In Wien haben wir den am weitesten entwickelten Testbetrieb in Europa. Wir haben drei Standorte in Wien mit 5G Broadcast laufen. Am Kahlenberg in Wien, bei einem Sender in Liesing im Süden Wiens und seit Kurzem auf der Spitze des DC-Towers. Wir schauen uns hier verschiedenste Use-Cases an wie etwa für Fernsehen oder das nahtlose Umschalten zwischen Streaming- und Broadcast-Modus. Und wir prüfen mit der ESA derzeit auch, ob man die Signale ebenfalls zur Positionsbestimmung als Ersatz oder Backup für das GPS-System nutzen kann. Das funktioniert über die Signallaufzeiten ohne Satelliten. Wir sind auch mit dem Innenministerium in Kontakt, welchen Nutzen 5G Broadcast etwa in der regionalen Krisenkommunikation bieten kann.
Welche weiteren Ziele haben Sie im Jahr 2023 für die ORS?
2023 wird sicher eine Herausforderung, um die Auswirkungen der Energiekrise betriebswirtschaftlich zu bewältigen. Da wirkt die ORS quasi als Inflationsbremse, da wir die Kosten an unsere Kunden nicht weitergeben können, weil wir langfristige Verträge haben, die keine Preisöffnung bei steigenden Energiekosten vorsehen. Mittelfristig geht es darum, für das wachsende Ecosystem IP, Streaming und Broadcast ein End-to-End-Service-Leistungen anbieten zu können, so wie wir das beim klassischen Rundfunk haben. Sie muss energieeffizient sein und einen dezidierten Servicelevel bieten. Dazu werden wir unsere Softwarekompetenz und digitale Kompetenz weiter ausbauen.