Europa in der Energieklemme: Die Preise für Gas und Benzin steigen und steigen. Und darüber schwebt auch noch die Unsicherheit, ob Russland trotz europäischer Wirtschaftssanktionen die Versorgung überhaupt aufrechterhalten wird. Diese Problematik trifft insbesondere Deutschland und Österreich: Rund 80 Prozent der österreichischen Gasimporte kommen aus Russland, bei Öl liegt der Anteil bei 24 Prozent. Deutschland bezieht rund 50 Prozent seines Gasbedarfs und 34 Prozent der Öleinfuhren aus Russland.
Deutschland könne „in einem gemeinsamen Kraftakt“ bis Sommer 2024 unabhängig von russischem Gas werden, hieß es kürzlich in einem veröffentlichten Papier des deutschen Wirtschaftsministeriums. Doch welche Perspektiven hat Österreich? An welchen Schrauben sollte nun gedreht werden, um diese Abhängigkeit zu reduzieren? Was kann rasch umgesetzt werden - und wofür benötigt man Jahre oder Jahrzehnte?
Was tun im „worst case“?
Eine Möglichkeit würde ein Energieträger bieten, von dem sich Europa aus Klimaschutzgründen eigentlich sukzessive verabschieden will: Kohle. Auch die kommt zwar zu einem großen Teil aus Russland, kann aber leichter als Gas durch andere Lieferanten wie z.B. die USA, Kolumbien oder Südafrika kompensiert werden. Allerdings wurde in Österreich 2020 das letzte Kohlekraftwerk abgedreht. Im selben Jahr hat Deutschland den Ausstieg aus Kohleverstromung per Gesetz beschlossen und das erste Kohlekraftwerk vom Netz genommen. Erreicht werden sollte der gänzliche Ausstieg 2035, spätestens 2038. Doch ob der angespannten Geschäftsbeziehungen mit Russland denkt sogar der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck über eine längere Laufzeit der deutschen Kohlekraftwerke nach, um das Land energiepolitisch unabhängiger von Russland zu machen.
Michael Strugl, Verbund
Einen Neubau von Kohlekraftwerken in Österreich hält Michael Strugl, CEO des österreichischen Elektrizitätsversorgungsunternehmen Verbund, für unwahrscheinlich. Für den Fall des „worst case“ – einem plötzlichen Gas-Lieferstopp – wäre die Reaktivierung des ehemaligen Verbund-Kohlekraftwerks in Mellach zwar „technisch machbar, aber mit hohen finanziellen und organisatorischen Aufwänden verbunden“, so Strugl auf Anfrage. Am Standort seien aktuell weder Kohle noch Personal vorhanden.
Für Österreich sieht Strugl mittel- bis langfristig den massiven und zügigen Ausbau der erneuerbaren Stromerzeugung und den Umbau des gesamten Stromsystems – inklusive Leitungen und Speicher – als „beste und wahrscheinlich die einzige Chance“, uns weniger abhängig von fossilen Importen zu machen und unsere Klimaziele zu erreichen. Strugl: „Ich bin überzeugt, dass es jetzt einen Kraftakt für den Erneuerbaren Ausbau braucht: Mit zügigeren Verfahren, lokalen Investitionen und mehr Akzeptanz in der Bevölkerung.“
Weichen für grünes Gas stellen
Erdgas wird in Österreich laut Daten von 2019 zu 62 Prozent von Endkunden (Industrie, Haushalte) verbraucht und geht zu 31 Prozent in den Umwandlungseinsatz, wird also z.B. für Gas-Kraft-Wärmekoppelungsanlagen verwendet, die sowohl elektrische Energie als auch Fernwärme erzeugen. Die Gaslieferungen aus Russland lassen sich jedenfalls nicht auf die Schnelle kompensieren. Weder durch andere Lieferanten noch durch eigene Produktion von Erdgas oder „grünem Gas“, also Gas aus erneuerbaren (biogenen) Stoffen wie Reststoffe aus der Lebensmittelindustrie, Kompost oder Grünschnitt.
Günter Pauritsch, Energieagentur
„Wir haben heute in Österreich ein Energieversorgungssystem, das zu zwei Drittel auf den Import von fossilen Energieträgern aufgebaut ist", fasst Günter Pauritsch von der Österreichischen Energieagentur die Problematik zusammen. Andere Gaslieferanten wie zum Beispiel Norwegen können die von Russland gelieferten Gasmengen für Europa nicht ersetzen. Für eine Kompensation mit verflüssigtem Erdgas (LNG) reicht die vorhandene Infrastruktur an Terminals und für den Weitertransport nicht aus und die Eigenproduktion von grünem Gas hat auch ihre Kapazitätsgrenzen. Pauritsch: „Für Österreich ist es daher wichtig, dass es rechtzeitig die Weichen für die Importe von erneuerbaren Gasen stellt.“ Sein Fazit: „Es wird ohne fossiles Erdgas gehen, aber nicht ohne Gas im Allgemeinen.“ Denn insbesondere in der Industrie gäbe es Prozesse, bei denen sehr hohe Temperaturen benötigt werden. Und um diese zu erreichen, sei ein gasförmiger Energieträger unerlässlich – in Zukunft müsse dieser aber erneuerbar sein.
Engpass Handwerker
Österreichs Energiesystem, das von fossiler Energie abhängig ist, „ist kurzfristig nicht gänzlich zu ändern“, fasst Franz Angerer, Geschäftsführer der Österreichischen Energieagentur, zusammen. Die Rahmenbedingungen hätten sich seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine völlig geändert. Alle Bemühungen, die ursprünglich aus dem Klimaschutz kamen, müssten komplett überdacht und intensiviert werden. Jetzt gelte es in erster Linie die Versorgung aufrecht zu erhalten. „Die Unsicherheiten am Markt und die enormen Preissprünge führen im Augenblick zu einer Flucht der Konsumentinnen und Konsumenten aus Öl und Gas und zu einem nie dagewesenen Boom beim Fotovoltaikausbau. Begrenzt wird der Umstieg nur durch Kapazitätsengpässe im Gewerbe.“
Alternative Atomstrom?
Während in Österreich bekannter Weise kein Atomstrom produziert wird und ein Schwenk in diese Richtung politisch nach wie vor undenkbar ist, setzen andere Länder wieder stärker auf diese umstrittene Form der Energiegewinnung. So werden in Frankreich, Finnland und der Slowakei Atomkraftwerke gebaut bzw. ausgebaut. Und auch die EU-Kommission hat zu Jahresbeginn Investitionen in Atomenergie als klimafreundlich eingestuft: Gas und Kernkraft würden einen Beitrag zum „schwierigen Übergang zur Klimaneutralität“ leisten, so EU-Finanzkommissarin Mairead McGuinness.
Bremst die aktuelle Situation also die Energiewende aus - oder beschleunigt sie sie sogar? „Kurzfristig geht es jetzt darum, die Energieversorgung zu sichern“, analysiert Hans Köck, Investment Stratege Amundi Austria, „mittelfristig wird die Energiewende durch die jetzige Situation aber beschleunigt. Weil jedem klar geworden ist, dass unsere fossilen Energieträger aus Regionen kommen, die geopolitisch problematisch sind.“ Köcks Fazit: „Wir werden Investitionen in Solar- und Windenergie massiv ausbauen müssen. Und auch Wasserstoff wird stärker ein Thema werden.“