Israel gilt als enorm starker Technologie-Standort. Ami Appelbaum, Chef-Wissenschaftlicher von Israels Innovationsagentur, über Erfolgsstrategien, Zukunftsfelder und Geografie als prägender Faktor.
trend: Israel gilt als eines der innovativsten Länder der Welt. Wie strategisch geht Israels Innovationsagentur vor?
Ami Appelbaum: Keine Regierung der Welt kann vorhersagen, welche Technologien sich wirklich durchsetzen werden und wie die Welt sich entwickelt. Innovationen entstehen in der Privatwirtschaft, bei den Unternehmen und Start-ups, bei einzelnen Personen, die gute Ideen haben. Von staatlicher Seite soll man da nicht zu viel vorgeben und schon gar nichts diktieren.
Über die Innovationsagentur investiert aber auch der Staat Israel sehr viel. Wie entscheidet sie darüber, in welche Bereiche Förderungen gehen?
Wir investieren zum Beispiel dort, wo es früh eine gute, neue Infrastruktur braucht, damit Unternehmen innovativ sein können. Quantencomputer sind ein solcher Bereich. Jeder weiß, dass es ewig dauern wird, bis diese Projekte Geld abwerfen werden. Außer Techriesen wie Google, Apple oder Microsoft hat fast niemand die Mittel, das zu riskieren. Es ist also sinnvoll, das öffentlich zu tun. Das Gleiche gilt für die künstliche Intelligenz.
Inwiefern ist da die Innovationsagentur aktiv?
Künstliche Intelligenz ist der am schnellsten wachsende Wirtschaftsbereich in Israel, und natürlich kann man da fragen, warum der Staat da überhaupt noch aktiv wird. Aber auch um diese riesigen Mengen an Daten zu bewältigen, braucht es Infrastruktur, und es braucht eine gute Regulierung, damit Unternehmen wissen, was geht und was nicht. Strategisch ist auch das Feld der Biokonvergenz wichtig, also alles, was zu einem besseren Verständnis unserer Körperfunktionen beiträgt, und natürlich Climate Tech. In diesem Bereich ist Israel noch nicht so weit wie Europa, aber es gibt auch hier viele gute Ideen, von alternativen Energielösungen bis hin zur Cybersecurity, die nötig ist, um die neue Energie-Infrastruktur zu schützen.
Wie entscheidet die Innovationsagentur, in welche Unternehmen und Projekte sie investiert?
Wir schreiben sie aus, sodass sich Unternehmen oder Konsortien um die Förderungen bewerben können. Meist fördern wir rund 50 Prozent.
Haben die vergangenen Jahre die Herangehensweise an Innovationsförderung geändert?
Das nicht, aber die Welt hat sich massiv geändert, und damit auch wir. Alles, was mit Gesundheit zu tun hat, hat auch bei uns durch die Pandemie ein neues Gewicht bekommen.
Auch außerhalb Israels hat man mitbekommen, wie digitalisiert das
israelische Gesundheitssystem bereits ist.
Israel hat ein öffentliches Gesundheitssystem und früh damit begonnen, gut mit den Daten umzugehen. Über nur zwei Organisationen lassen sich 80 Prozent der Bevölkerung sehr schnell erreichen. Man kann sie mit Leistungen wie der Impfung versorgen und eben ihre Daten sammeln und auswerten. Wir haben gesehen, dass hier so viel Potenzial besteht. Meine Enkelkinder zum Beispiel gehen sehr selten zum Arzt, vieles passiert von zuhause aus.
Was zum Beispiel?
Mit einem Gadget, das man ans Handy anschließt, kann der Arzt, mit dem man nur telefoniert, das Herz abhören. Ein anderes Gadget ermöglicht es den Medizinern, über Video ins Ohr zu schauen. Und wenn es dann Medikamente braucht, können die schnell von Lieferdiensten nach Hause gebracht werden. Das ist ein Bereich, wo Innovation das Leben der Menschen eindeutig besser macht, gerade abseits der großen Städte. Wir glauben stark daran, dass personalisierte Gesundheitsleistungen eine große Zukunft haben.
Sie haben Jahrzehnte lang in der Halbleiterindustrie gearbeitet. Die Pandemie hat gezeigt, wie abhängig Industrien von wenigen Produzenten sind. Hat man diese Gefahr unterschätzt?
Es gibt generell ein großes Umdenken, weil die vergangenen Monate zeigten, wie strategisch wichtig für jedes Land die Bereiche Energie, Nahrungsmittel, Rohstoffe und Impfungen sind, aber eben auch Halbleiter. Ich glaube, dass der Westen diese Abhängigkeit noch immer unterschätzt. Sie sind einer der wichtigsten Bestandteile der heutigen Wirtschaft. Es ist enorm wichtig, dass Europa und die USA jetzt Strategien haben, um wieder Produktion zurückzugewinnen. Es gibt keinen Grund mehr, warum sie nur in Taiwan und Korea stattfinden soll.
Allein die Kosten, eine Chipfabrik aufzubauen, sind doch enorm.
Das stimmt, aber die modernsten Fertigungen laufen heute voll automatisch ab. Billigere Produktionsstandorte haben da einfach keinen Vorteil mehr. Intel hat seine modernste Halbleiterproduktion in Israel.
Wenn wir in Österreich über die Attraktivität des Standorts sprechen, werden immer die hohen Lohnkosten angeführt. Gibt es diese Diskussion auch in Israel?
Israel hat für sich die Strategie entschieden, dass es besser als alle anderen möglichen Standorte sein muss. Wir wissen, dass internationale Unternehmen es sich aussuchen können, wohin sie gehen. Wir definieren die Qualität des Standorts über seine Innovationsfähigkeit, über Forschung und Entwicklung, über die Qualität der Universitäten und unserer Fachkräfte. Uns fehlen aktuell über 30.000 Fachkräfte im Technologiesektor. Die Nachfrage ist gigantisch groß. Es gibt kein größeres Unternehmen aus dem Silicon Valley, das nicht auch in Israel eine Niederlassung hat.
Wie kommt Israel zu mehr Fachkräften?
Der Hightech-Bereich ist nicht sehr divers, er wird von weißen Juden dominiert, Frauen und arabische Israelis sind sehr stark in der Minderheit. Das ist ein Potenzial, das wir unbedingt nützen müssen. Nur ein Viertel der Hightech-Beschäftigten sind Frauen, im Topmanagement liegt ihr Anteil sogar nur bei neun Prozent. Wir investieren deshalb in Programme, um Karrieren hier zu fördern, und wir investieren in die Universitäten, aber auch in nichtakademische Weiterbildung.
Der Fokus liegt dabei auf technischen und naturwissenschaftlichen Berufen?
Der Hightech-Sektor produziert 56 Prozent der Exporte Israels und steht für 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Er beschäftigt aber nur 10,4 Prozent der arbeitenden Bevölkerung. Die Frage ist also, wie wir 90 Prozent der Bevölkerung in produktivere Jobs bringen. Das geht nur über Innovation.
In den vergangenen Jahren wurden global oft auch Start-ups finanziert, bei denen die Innovation in einem neuen Inhaltsstoff für einen Energydrink bestand. Jetzt sieht man ebenfalls global, dass auch Venture-Capital-Firmen zurückhaltender und wählerischer sind. Gilt das auch für Israel?
Es ist weniger Geld da, aber die Bewertungen der Unternehmen sind auch wieder realistischer geworden. Wenn wir breiten Wohlstand schaffen wollen, ist der Fokus auf Hightech und Start-ups sowieso zu eng. Dann geht nichts weiter in der Landwirtschaft, in der Medizin, also dort, wo Innovationen dringend nötig sind, weil sie Menschen unmittelbar helfen. Die Investments waren viel zu konzentriert.
Auf welche Bereiche?
Rund 65 Prozent der Investitionen von privaten Unternehmen gingen zuletzt in Israel in nur drei Bereiche, die im Prinzip alle unter den Begriff Software fallen: Cyber, Fintech und Enterprise Software, also Prozesssoftware für die Unternehmen. Als Innovationsagentur wollen wir aber neue Ideen und Wettbewerbsfähigkeit viel breiter fördern. Wir brauchen Jobs für viel mehr Menschen als nur in diesem engen Bereich. Der Fokus nur auf Software ist falsch, aber nachvollziehbar.
Inwiefern?
Ein Fintech kann in wenigen Jahren Geld abwerfen, andere Software noch viel schneller. Wenn ich aber die Idee habe, Fleisch im Labor zu züchten, um damit Menschen zu versorgen, Tierleid zu verringern und den Planeten zu schützen, muss ich mit zehn bis 15 Jahren rechnen, bis sich das rentieren kann. Wenn überhaupt. Das sind ganz andere Businessmodelle. Als Innovationsagentur sagen wir, dass wir bei Software wirklich nur dort einsteigen, wo der Innovationssprung wirklich disruptiv ist.
Noch vor ein paar Jahren galt es als innovativ, eine smarte Zahnbürste zu produzieren, die das Zähneputzen ins Internet überträgt. Jetzt müssen wir zumindest in Europa innerhalb kürzester Zeit ein Energiesystem umstellen. Werden die Aufgaben gerade subtanzieller?
Meine Sorge ist es, dass wir aktuell so viel Geld ausgeben müssen, um Krisen zu bekämpfen, dass für die wirklich großen Herausforderungen der Zukunft zu wenig übrig bleibt, also für alles, was die Dekarbonisierung betrifft. Die Energieunternehmen, die ich treffe, beruhigen mich aber: Sie sagen, es werde jetzt radikal in erneuerbare Energien investiert.
Womit dann wieder neue Abhängigkeiten auftreten, wenn etwa Solarzellen zu 100 Prozent nur aus China kommen.
Auch Solarzellen werden heute in vollautomatisierten Fabriken hergestellt. Das ginge in Europa heute zu demselben Preis wie in China. In Italien hat nun wieder eine Produktion eröffnet. Man darf den Status quo einfach nicht akzeptieren und muss in Bewegung kommen.
Was kann Europa dabei von Israel lernen?
Kein Land kann das andere kopieren, aber ich bin überzeugt davon, dass jedes Land auf seine Art und aus seiner Kultur heraus innovativ sein kann.
Das ist sehr diplomatisch, aber dennoch ist Israel ein Vorbild, wenn es um Innovation geht. Woran liegt das?
Das hat natürlich viele Gründe. Was die Innovationsagentur angeht, ist es zum Beispiel sicher sinnvoll, dass sie zwar vom Staat
finanziert wird, aber unabhängig von der Regierung wie ein Unternehmen gemanagt ist. Das erlaubt uns, wirklich langfristig zu denken, zu planen und zu investieren. Die Regierung ist von der Verteilung der finanziellen Mittel getrennt und das ist wichtig.
Aber das ist nicht alles, was Israel offensichtlich richtig macht?
Die israelischen Universitäten sind ausgezeichnet, ich würde das gleiche gerne auch für das Schulsystem sagen, aber da gibt es auch in Israel Verbesserungsbedarf. Sehr gut funktioniert dafür, wie wir Venture Capital und andere Risikoinvestments mit öffentlichen Förderungen verbinden. Wir zielen dabei auf ganz kleine Startups in einem ganz frühen Stadium genauso ab wie auf große Unternehmen, die wirklich Riesen werden können. Wir wollen das ganze Spektrum. Das zieht auch viel Kapital aus dem Ausland an.
Und auch Unternehmen.
Rund 400 internationale Unternehmen sind in Israel, weil sie ideale Bedingungen vorfinden. Diese Unternehmen sind da, obwohl sie wissen, wie politisch angespannt die Lage in Israel sein kann. Aber das Unternehmen, für das ich arbeitete, hat trotz alldem niemals einen Liefertermin nicht einhalten können. Intel hat 20 Prozent seiner F&E-Tätigkeiten in Israel, seine modernste Produktionsstätte ist ebenfalls hier. In 30 Jahren in Israel hat Intel noch keinen Arbeitstag aufgrund der Umstände verloren. Diese ständige Bedrohungslage selbst ist auch ein Grund dafür, warum Israel so innovativ ist.
Weil das Land sich verteidigen muss?
Weil du als Land weißt, dass du unter diesen Umständen Weltklasse bieten musst, um attraktiv zu sein. Hinzu kommt, dass Israel anders als viele Nachbarländer keine natürlichen Ressourcen besitzt - das Gasfeld vor der Küste wurde erst vor wenigen Jahren entdeckt. Das Land hatte einfach seit seiner Gründung keine andere Chance, als innovativ zu sein, um sich zu versorgen und seinen Lebensstandard zu heben. Hinzu kommt, dass hier noch die zweite und dritte Generation von Überlebenden des Holocaust leben, auch das prägt uns als Nation. Auch das Militär ist wichtig.
Weil das Militär Innovation antreibt?
Auch das, es ist ein Hightech-Militär. Die jungen Menschen, die mit 18 zum Militär müssen, kommen hier mit der modernsten Technologie in Berührung. Es macht sie aber auch schnell erwachsen und zu Teamplayern. Wenn Israelis auf die Uni kommen, haben sie andere Erfahrung hinter sich als etwa Amerikaner. In Israel wird auch anders studiert.
Ist auch die große Diversität des Landes ein Erfolgsfaktor?
Wir haben gutes Wetter und viele Migranten, das sind unsere Rohstoffe. Integration ist keine einfache Aufgabe, aber wenn sie gelingt, entsteht daraus eine sehr stimulierende Gesellschaft. Sie ist sehr heterogen und sehr kreativ. Das ist enorm wertvoll.
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Das Interview ist der trend. PREMIUM Ausgabe vom 28.10.2022 entnommen.