BioNTech-Co-Gründer Christoph Huber räsoniert mit dem Industriellen und Ex-Politiker Hannes Androsch über die Kühnheit der Amerikaner, den Umgang mit Impfgegnern - und wie Europa in der Forschung wieder aufholen kann. Ein Altausseer Sommergespräch zweier Wissenschaftsmenschen und Unternehmer.
Herr Professor Huber, die von Ihnen mitgegründete Firma BioNTech ist beim Covid-Impfstoff gemeinsam mit dem US-Partner Pfizer eine gewaltige Wette eingegangen. Das Role Model einer transatlantischen Innovations-Allianz?
Mit den mRNA-basierten Technologien kann man binnen Tagen oder Wochen erreichen, wofür man früher Monate bis Jahre gebraucht hat. Wenn man dazu aus der Tumorforschung weiß, dass diese Technologie Abwehrreaktionen besser induziert, dann ist es eine Wette, die man eingehen kann. Pfizer ist ein großer Medikamentenhersteller, der die terminale Medikamentenentwicklung perfekt beherrscht und über Armeen verfügt, die Großstudien mit 50.000 Probanden durchzuführen. Das kann ein kleines Unternehmen wie BioNTech nicht. Wir haben deshalb unsere Stärken in einen Topf geworfen und gesagt: Wir machen beim Reingewinn 50-50.
Conclusio daraus ist: Wir haben planetarische Gefahren, die wir nur bannen können, wenn wir die nationalstaatlichen Schrebergärten verlassen. Die geopolitischen Rivalitäten - USA versus China, die expansive, revisionistische Attitüde von Putin -laufen dem zwar zuwider. Doch aus dem Beispiel BioNTech-Pfizer lernen wir, dass internationale Kooperationen oft Unglaubliches hervorbringen können. Manchmal braucht es dazu jahrzehntelange Vorleistungen, die im Fall von BioNTech auch zu Gewinnen führen können. Diese Gewinne können dann wiederum in die Entwicklung neuer Medikamente gesteckt werden.
Ganz ohne Lenkung des Staats geht es aber wohl nicht?
Am wichtigsten ist privates Engagement. Die Entwicklung von biologischen Medikamenten - das sind in der Regel die innovativen Medikamente - kostet heute eine bis drei Milliarden Euro. Die hoheitliche Seite kann da maximal mit einem dreistelligen Millionenbetrag mitziehen. Der Rest kommt von Großkonzernen oder vom Privatkapital. Risikokapital kann in der Regel in den europäischen Ländern aber nicht steuerlich begünstigt werden. Daher versuche ich eben, in Gesprächen mit hochrangigen europäischen Politikern darauf hinzuarbeiten, dass man - wieder einmal - versucht, einen Fördermechanismus für gesellschaftsrelevante Innovationsvorhaben in Gang zu setzen und zu begünstigen. Wenn das gelingt, ist Europa Nase an Nase mit den USA.
Der Staat hat die Verpflichtung, den Drang des Menschen zu forschen und zu erfinden, zu fördern und die Rahmenbedingungen festzulegen. Weil es dabei um enorm hohe Risiken geht, braucht es finanzielle Unterstützung. Einem Forscher kann man jedoch nicht sagen, dass er bis morgen dieses oder jenes Produkt zu entwickeln hat - die Wissenschaft braucht ihre Freiheit. Es geht um Wissenschaftsakzeptanz und Technologieoffenheit - wenn eine Gesellschaft diese Haltung nicht hat, fällt sie zurück. Das haben wir in der Geschichte schon oft gesehen: In der arabischen Welt seit dem frühen Mittelalter, in der osmanischen, in der chinesischen bis zum Opiumkrieg.
Sind es nur die fehlenden Förderungen, oder ist es auch die fehlende Kühnheit?
Ich habe da eine simple Theorie. Ab dem 17. Jahrhundert haben sich, verfolgt wegen ihrer Glaubensprinzipien, Menschen in Schiffen in Bewegung gesetzt und neue Kontinente erobert. Deren Nachfahren sind jetzt die auf der anderen Seite: Nachfahren von Menschen, die gewagt haben, die für ihre Prinzipien eingestanden sind, die den Staat nicht geliebt haben, weil er sie verfolgt hat. Die europäische Kultur hat dagegen viel mit Staatsgläubigkeit zu tun. Erziehung, Gesundheit, Lebensvorsorge - all das vertrauen wir dem Staat an. Die Stärke der Europäer ist ihre Humanität, die amerikanische Kultur hat den großen Nachteil der Herzlosigkeit für die Schwachen. Das sind zwei Kulturen, und das macht es oft so schwierig.
Die europäische Stärke der Humanität und sozialen Verantwortung müssen wir uns auf jeden Fall erhalten. Das kann jedoch nicht heißen, dass man eine Anspruchsgesellschaft der Selbstgefälligkeit und Bequemlichkeit hat, in der man meint, alles zum Nulltarif zu bekommen.
Sollten wir also nicht besser gleich Allianzen wie jene von BioNTech-Pfizer planen? Die Stärken in einen Topf, der Gewinn wird geteilt?
Wissenschaft ist global. Beim Versuch der Lösung von großen Problemen muss es zweitrangig sein, wo jemand sitzt. Ein Abbau von Hürden, ob gesetzlich, emotional oder kulturell, ist deshalb wünschenswert. Da ist viel passiert, sowohl transatlantisch als auch intraeuropäisch. Aber es ist noch immer mühsam, man braucht stets unglaubliche Heerscharen von Rechtsexperten. Das andere ist der europäische Aspekt: Dieser Erdteil hat so viel Geist hervor gebracht, Innovationen ohne Ende. Es spricht nichts dagegen, eine gewisse Souveränität im Auge zu haben. So etwas müsste man hoheitlich koordinieren. Wir haben Instrumente wie den Europäischen Investmentfonds, die großkalibrig denken könnten, aber noch nicht die Dimension eines Staatsfonds wie etwa von totalitären Staaten haben.
Sollten nicht auch die Privaten, die ja auch die Gewinne machen wollen, verstärkt die Risiken übernehmen?
Der US-Risikokapitalmarkt ist rund sieben Mal so groß wie jener Europas. Die Asiaten setzen von Japan über Korea bis China auf den Staat. Welches Modell größeren Erfolg hat? Vermutlich das, das die größere Freiheit bietet. Europa sitzt zwischen den Stühlen, wir sind in Teilen digitales Entwicklungsland.
Exzellenz und Leistung zu unterstützen, fällt den Europäern schwer. Vielmehr wird genau das oft in Frage gestellt. Ich besuche derzeit Institute der Humanwissenschaften. Und ich entdecke, dass dort Technologie, Innovation und noch mehr das Kapital problematisiert werden. Verstaatlichung und die Patentfreigabe der mRNA-Covid-19- Impfung zur Lösung des initialen Lieferproblems werden besonders nachdrücklich gefordert. In diesen Kreisen gibt es schlicht zu wenig Wissen über die Zusammenhänge und die Schlüsselrolle von Privatkapital zur Förderung der Innovation.
Wir haben in Europa zwei Hemmschuhe. Wir sind sozial neidig, im Unterschied dazu bewundern die amerikanische und die asiatische Gesellschaft den Erfolg. Und wir sind kapitalfeindlich und damit risikoavers. Das äußert sich bei Schlüsseltechnologien. Taiwan hat bei der hochwertigen Halbleiterproduktion mit TSMC fast eine Monopolposition - ein Beispiel, wie man mit bescheidenen Voraussetzungen eine weltführende Rolle erreichen kann. BioNTech-Pfizer ist im Bereich Biotech-Pharma ein Beispiel dafür, der Mikroelektronikcluster Graz-Leoben-Villach geht ebenfalls in die richtige Richtung. Trotz der widrigen Umstände sind also auch in Europa Erfolge möglich. Um wie viel größer wären sie aber, wenn die Umstände unterstützend wären?
Die EU hat in letzter Zeit doch einiges auf den Weg gebracht: Sie will Batterieproduktionen in Europa aufbauen, die Halbleiterindustrie voranbringen usw. Geht das in die richtige Richtung?
Es ist der richtige Ansatz, jedoch fehlt noch die Großzügigkeit in der Umsetzung. In Europa gilt es, viel enger zusammenzuarbeiten. Europa war ja in seiner langen Geschichte nie vereint. Es hat nie ein europäisches Imperium gegeben - Kolonialimperien ja, aber kein europäisches. Die EU ist der erste Ansatz, aber diesbezüglich noch in den Kinderschuhen. Wenn wir strategische Autonomie als ein Mindestmaß an Selbstständigkeit erlangen müssen, dann müssen wir historische Schrebergartenbegrenzungen überwinden.
Ich habe in den 70er-Jahren in Schweden gearbeitet und dort den Olof-Palme-Traum einer schönen, neuen Welt miterlebt. Dort habe ich gesehen, wie Frauen den Spielraum bekommen haben, den sie benötigen - die bessere Nutzung des Kapitals weiblicher Wissenschaftlerinnen ist ein Muss. Übrigens haben die Schweden von Staats wegen angeordnet, dass man das soziale Interaktionen erschwerende "Sie" abschafft. Fortan war man per du, und das hat Hierarchie abgebaut und die Gesellschaft vorangebracht.
Schrebergärten und Hierarchien abschaffen - das hört sich ja einfach an.
Es ist mühsam. Nehmen Sie in Österreich die Künstliche-Intelligenz-Forschung - eine Technologie übrigens, die laut Putins Einschätzung darüber entscheiden wird, wer künftig die Weltmacht hat. Es müsste ein Schwerpunkt zwischen Wien, Linz und Graz geschaffen werden - das ist mit den Onlinemöglichkeiten heute ja kein Problem mehr. Stattdessen haben wir eine lächerliche Konkurrenz zwischen Wien, der Steiermark und Oberösterreich.
Es kommt aber auch ein anderes Problem hinzu. Die rein grundlagenorientierte Forschung, oft auch als Elfenbeinturmforschung bezeichnet, sieht die Umsetzung, die kommerzielle Nutzung skeptisch, ja sogar als einen Verrat an der Wahrheitsfindung. Das spielt immer noch eine bedeutende Rolle in den Entscheidungsgremien. Das hat eine fundamentalistische Wurzel - das Denken, die Wissenschaft sei rein, jungfräulich, unschuldig -, und es hat eine existenzielle Bedrohungsseite. Die Elfenbeintürmler befürchten, dass die sehr kostspielige Translation - die Umsetzung - zu ihren Lasten geht. Das spielt in Kontinentaleuropa eine negative Rolle, denn es erschwert das Herausarbeiten eines gesellschaftlichen Auftrags.
Sie beide halten Anteile an Unternehmen, die enorm wissensintensive Produkte herstellen. Hatten Sie jemals Angst, dass sich diese Produkte gegen den Menschen richten?
Das Messer kann nützlich sein, ist bei Missbrauch aber zugleich eine Mordwaffe. Das gilt für die Digitalisierung ebenso, Stichwort Überwachungsstaat bzw. -kapitalismus. Es ist eine staatliche Aufgabe, hier Spielregeln zu schaffen wie die Straßenverkehrsordnung seinerzeit für den Straßenverkehr.
Bei Medikamenten sind vor allem die Nebenwirkungen die größte Gefahr. In den letzten Jahrzehnten ist hier ein bedeutsames Regularium geschaffen worden, das medizinisch und ethisch Standards setzt. Das ist ein klarer Unterschied zu einer Zeit, als neue Wirkstoffe weitgehend ohne unabhängige ethische, medizinisch und technologische Kontrolle am Menschen erprobt werden konnten.
Hätten Sie gern da und dort zu Forschungszwecken niedrigere Hürden?
Es gibt viele Krebspatienten, die nur noch einige Monate zu leben haben und die Wissenschaft gerne unterstützen würden. Die Amerikaner haben hier weniger hohe Auflagen für die frühe Prüfung von Medikamenten als die Europäer. Wie wir bei Covid gesehen haben, erteilen die US-Behörden im Bedarfsfall auch Notfallzulassungen und kommen bei Haftungen entgegen. Daher sind sie oft schneller. Es wäre naheliegend, einer Krankheit wie den Krebs, an der jeder vierte Mensch stirbt, eine höhere Priorität zu geben. Wir verstehen heute die Mechanismen besser und sollten dieses Wissen vermehrt nutzen, um dieser schrecklichen Krankheit ihren Schrecken zu nehmen. Die USA haben da dieser Priorität bereits unter Richard Nixon vor fünfzig Jahren mit dem Cancer Act Rechnung getragen.
Wir reden über die Fortschritte der Wissenschaft, gleichzeitig ist in den letzten Jahren ein fast unglaubliches Misstrauen gegenüber der Wissenschaft sichtbar geworden, Stichwort Impfgegner. Könnte das auch den Stellenwert von Forschung in der Politik beeinträchtigen?
Jeder von uns wurde überrollt von diesen völlig wissenschaftsfernen Diskussionen. Wir waren vorbereitet auf medizinisch-wissenschaftliche Debatten, wir haben aber nicht damit gerechnet, dass es gesellschaftspolitisch wird. Dazu kommt, dass jene, die die Entwicklung technologisch-wissenschaftlich vorangetrieben haben, weitgehend wortlos waren, weil man ihnen Interessenkonflikte unterstellt hat. Viele Expertenmeinungen, überhöht in den Medien dargestellt, waren zudem nicht unbedingt hilfreich. Zu viel, was Prognoseforscher und Mutationsforscher in der Pandemie gesagt haben, war verwirrend und nicht zutreffend. Was klar geworden ist: Die Wissenschaft muss lernen, gesäte Zweifel rasch auszuräumen, Vertrauen zu schaffen und Menschenherzen zu gewinnen.
Das ist aber auch nicht ihre Aufgabe, das ist eine Aufgabe der Politik. Aus Ignoranz und Populismus hat die Politik aber die Tore gegenüber allen verschwörungstheoretischen Fehlentwicklungen geöffnet. Dem wurde nicht entschieden entgegengetreten. Das geht so weit, dass bei uns der für die Gesundheit verantwortliche Minister die Fachleute - die Gecko-Kommission - ignoriert und sie dafür maßregelt, dass sie öffentlich ihre Meinung sagen.
Ich finde hingegen nicht, dass Mitglieder von Beratungskommissionen einer Regierung vertrauliche Informationen an die Medien spielen soll. Aber zum Zusammenspiel Politik-Wissenschaft gibt es auch positive Gegenbeispiele. Als Horst Seehofer CSU-Gesundheitsminister unter Helmut Kohl war, ging es um Creuzfeldt-Jakob - die mögliche Übertragung von BSE vom Rind auf den Menschen. Seehofer musste die Frage beantworten, ob nun alle Rinder in den betroffenen Herden gekeult werden müssen. Er hat 20 Wissenschaftler versammelt, unter denen auch ich war. Seehofer stellte jedem einzelnen die Frage: Ist eine Übertragung von der Kuh auf den Menschen möglich? Alle 20 sagten Ja. Darauf wurde gekeult. Das war politische Verantwortung.
Politik ist das eine. Aber wie kann man die Wissenschaftsfeindlichkeit grundsätzlicher bekämpfen?
Wir müssen wieder mehr Heldengeschichten über Innovation erzählen, über all jene Errungenschaften, die das Leben von Menschen verbessert haben. Wie zum Beispiel die Heldengeschichte der großen Impfer!
Die Einsicht in die Methodik wissenschaftlicher Beweisführung sollte schon in der frühen Kindheit erfolgen. Dazu ist 50-Minuten-Wissensdrill-Unterricht in Halbtagsschulen denkbar ungeeignet.
Absolut! Klar ist aber auch, dass die Intervalle von die Gesellschaft verändernden Innovationen immer kürzer werden. Die Verarbeitung wird zunehmend schwieriger, es bleibt immer weniger Zeit, das politisch, aufklärerisch, gesellschaftlich zu bewältigen.
Noch einmal Europa: Die Amerikaner haben seit fast hundert Jahren ihren American Dream, der chinesische Staatspräsident Xi Jinping hat den chinesischen Traum ausgerufen. Was ist eigentlich der europäische Traum?
Man kann, wenn es tausend Jahre alte nationale ethnische Identitäten gibt, nicht schnell eine europäische Identität schaffen. Es gibt auch kein befriedigendes europäisches Management. Die Kommissionspräsidentin kann zwar beeindruckend viele Sprachen, aber sie ist keine Chefin.
Es ist insgesamt zu wenig Gemeinsames sichtbar. Dazu müsste man die nationalstaatlichen Partikularinteressen ja einer gemeinsamen Anstrengung, die Welt anzuführen, unterordnen. Leider überdeckt die Polemik wie jene über die EU-Norm zur Krümmung der Bananen das Gute: Wenn mir etwa vor 30 Jahren jemand gesagt hätte, es werde die tiefe nationale Abneigung zwischen Frankreich und Deutschland einmal nicht mehr geben oder junge Briten würden einmal sagen, dass ihre bevorzugte kontinentaleuropäische Stadt Berlin ist - ich hätte es für undenkbar gehalten. Und das ist doch wunderbar!
ZU DEN PERSONEN
Hannes Androsch, geb. 1938 in Wien, ist ehemaliger Politiker und Unternehmer. Als Politiker war er von 1967 bis 1981 SPÖ-Abgeordneter zum Nationalrat und von 1970 bis 1981 Finanzminister, von 1976 bis 1981 auch Vizekanzler unter Bruno Kreisky. Von 1981 bis 1988 war Androsch Generaldirektor der damals staatlichen Creditanstalt. Seit 1989 ist er als Unternehmer Geschäftsführender Gesellschafter der AIC Androsch International Consulting, seit 1994 Miteigentümer des Leiterplattenherstellers AT & S mit Sitz in Leoben und seit 1997 Miteigentümmer der Salinen Beteiligungs GmbH. Androsch ist zudem Vorsitzender des Universitätsrates der Montanuniversität Leoben, Aufsichtsratsvorsitzender der Finanzmarktbeteiligung Aktiengesellschaft sowie Aufsichtsratsvorsitzender des AIT (Austrian Institute of Technology).
Christoph Huber, geb. 1944 in Wien, ist Hämatologe, Onkologe und Immunologe mit den Forschungsschwerpunkten Tumor-Abwehr und Stammzelltransplantation. Von 1990 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2009 war er Direktor der III. Medizinischen Klinik und Poliklinik an der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Christoph Huber war zudem langjähriger Präsident der Association for Cancer Immunotherapy (CIMT). Huber ist einer der Gründer und Mitglied des Aufsichtsrats von BioNTech.
Das Gespräch ist der trend. EDITION vom 12.8.2022 entnommen.