Der Erschöpfung trotzen: Zeit nach eigenen Wünschen nutzen.
©midjourney/Elke MayrZu allen Zeiten gab es vom Leben ermattete Menschen. Die große Erschöpfung breiter Bevölkerungsteile ist aber wohl ein Phänomen unserer Zeit. Die äußeren Bedrohungen durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine haben die tief in unserem Inneren verdrängten Ängste und Zweifel an die Oberfläche gespült. Gerade deshalb ist die Frage "Arbeiten wir, um zu leben, oder leben wir, um zu arbeiten?" falsch.
Bereits vor der Corona-Pandemie traf der deutsche Sänger Max Giesinger mit seinem Musikvideo "Und wenn sie tanzt ", das von über 70 Millionen Menschen angesehen wurde, den Nerv der widersprüchlichen Gefühle vieler alleinerziehender Mütter. Doch selbst wenn sich die Träume von der idealen Familie und dem Haus im Grünen in einem hohen Ausmaß verwirklicht haben, bringt das Konsequenzen mit sich, die sich die Betroffenen nicht vorstellen konnten. Sie finden sich in einem Leben wieder, das aus einer Vielzahl von Verpflichtungen, großem Stress und lähmenden Alltagsproblemen besteht. Die Reaktion darauf sind Wut gegen sich selbst, spontane Weinkrämpfe ohne Anlass, Streit über Nebensächlichkeiten, Flucht in die Arbeit und Erschöpfung.
Das liegt aber nicht darin, dass sich oft Träume, die sie einst hatten, nach ihrer Erfüllung als Illusionen erweisen. Es ist vielmehr die Tatsache, dass sich die Vorstellungen davon, was für uns erstrebenswert ist, im Laufe der Jahre sehr verändert haben - ohne dass uns das bewusst wird. Die Ziele, die Menschen noch vor einiger Zeit klar gesehen haben, verschwinden im Nebel. Sie verzetteln sich mit einer Unzahl von Kleinigkeiten und verlieren die Kontrolle über das Steuerrad, mit dem sie bisher ihr Leben in die richtige Richtung bewegen konnten. Je mehr Energie sie aufwenden, desto kraftloser fühlen sie sich. Erschöpfte tauchen die Kelle in den Brunnen mit ihren Energiereserven und sie finden kein Tröpfchen mehr. Im Gegensatz zum Flow-Prinzip, bei dem durch Anstrengung Sinn und Motivation entstehen, fließt gar nichts mehr, nicht einmal die Freude an den eigenen Kindern, wie im Lied von Max Giesinger.
Im März erschien im "Spiegel" eine große Reportage über eine Mütterkurklinik in Bad Wurzach, in der total erschöpfte Frauen mit viel Zeit für Reflexion und Gespräche therapiert werden. Das Müttergenesungswerk - das heißt wirklich so - betreibt 73 derartige Kurkliniken mit Platz für 50.000 Frauen. Der Bedarf ist um ein Vielfaches höher. Die kurzfristigen Effekte derartiger Kuren sind größer als die langfristigen, denn an den äußeren Lebensumständen lässt sich meist wenig ändern.
Männer sprechen nicht, sie leiden
Männer scheuen sich eher, das Wort "Erschöpfung" auszusprechen, sie leiden aber ebenfalls darunter: Arbeit, Familie, eine Flut an sonstigen Verpflichtungen und zusätzlich unerwartete Krisen werfen jeden Plan über den Haufen. Die "To-do-Listen" werden ständig länger statt kürzer. Wenn Männer mit ihren Kindern spielen, quält sie der Gedanke an die unerfüllten Aufgaben im Job. Sie wachen jeden Tag mit dem Gefühl auf, allein in einem Bergwerk Steine abbauen zu müssen, und selbst die Wochenenden sind fix mit Dingen verplant, die wenig Euphorie auslösen. Was tun, wenn man feststellen muss, dass man auf der Erfolgsleiter zwar schon weit hinaufgekommen ist, beim Hinunterblicken jedoch realisiert: "Verdammt, die Leiter lehnt an der falschen Mauer"? Anders formuliert: Kann man aus dem eigenen Leben aussteigen und komplett neu anfangen? Diese Sehnsucht erweist sich meist als Illusion. Wenn man glaubt, dem eigenen Leben fluchtartig entkommen zu können, übersieht man leider, dass alle selbstgemachten Probleme als treue Gefährten im Gepäck mitreisen.
Es ist oft nicht die Vielzahl von Aufgaben, die Menschen so erschöpft, sondern der Verlust an Orientierung, sobald das Wertegerüst, das sie sich im Laufe der Jahre zurechtgezimmert haben, ins Wanken gerät. Es darf daher wenig wundern, dass sich junge Menschen, die eher unter zu vielen als zu wenigen Wahlmöglichkeiten bezüglich ihrer Lebenspläne leiden, zumindest über eines sicher sind: So wie ihre Eltern wollen sie auf keinen Fall leben. Das macht den Berufseinstieg in eine Leistungsgesellschaft nicht einfacher, wie eine wahre Geschichte zeigt:
Der CEO eines Unternehmens entschied sich, als stiller Beobachter am Erstgespräch eines Bewerbers teilzunehmen. Nach der freundlichen Begrüßung durch die Personalchefin wollte diese mit der üblichen Einstiegsfrage "Warum wollen Sie bei uns arbeiten?" beginnen, worauf sie der junge WU-Absolvent unterbrach: "Bevor wir über die konkrete Position reden, möchte ich einige Fragen abklären, damit ich entscheiden kann, ob ich Ihr Unternehmen auf meine Shortlist aufnehmen kann." Die wesentlichen Kriterien des jungen Mannes zielten auf eine Work-Life-Balance mit einer 30-Stunden-Woche und die Möglichkeit, mindestens drei Tage pro Woche im Homeoffice arbeiten zu können, ab. Die Personalchefin nahm das mit stoischer Gelassenheit zur Kenntnis, während der nicht zu Gewalt neigende CEO den Raum schnell verließ, um nicht von Zweifeln geplagt zu werden, ob eine Watsche unter bestimmten Umständen nicht doch gesund sein könnte.
Als über 45-jähriger Manager werden Sie wahrscheinlich viel Mitgefühl für den CEO und wenig Verständnis für den Bewerber aufbringen, als unter 30-Jähriger könnte es umgekehrt sein.
Die große Resignation
In den USA haben innerhalb eines Jahres mehr als 30 Millionen Beschäftigte ihren Job von sich aus gekündigt. "The Great Resignation" ist in vielen Industriestaaten ein nicht zu leugnendes Faktum. Laut dem SORA-Institut steigt auch in Österreich die Zahl der Menschen, die ihren Job wechseln wollen, kontinuierlich an. Waren es im Jahr 2015 noch durchschnittlich 16 Prozent und kurz vor der Corona-Pandemie 20 Prozent, so sagen derzeit 26 Prozent der Beschäftigten in Österreich, dass sie in eine andere Firma wechseln oder einen ganz anderen Beruf ausüben wollen. Besonders hoch ist der Anteil der Wechselwilligen unter jungen Akademikern sowie, wenig überraschend, bei Beschäftigten in Gastronomie und Tourismus. Entgegen vielen Prophezeiungen geht uns offenbar nicht die Arbeit aus, sondern es fehlen die Menschen, die bereit sind, die angebotenen Jobs auszuüben.
Arbeiten wir, um zu leben, oder leben wir, um zu arbeiten? Ich halte diese Frage für gefährlich falsch. Will man ein erfülltes Leben führen, ist die strikte Trennung zwischen Arbeits- und Freizeit völlig unbrauchbar. Wir brauchen eher mehr Muße, die Möglichkeit, Zeit nach eigenem Wunsch zu nutzen, weil auch die Freizeit ständig von fremden Interessen bestimmt wird. Wenn man Arbeit nur als notwendiges Übel sieht, wird man alles tun, um diese so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Doch wenn wir die Stunden zusammenzählen, die wir in unserem Leben damit verbracht haben, etwas hinter uns zu bringen, machen die wohl bald die Hälfte unserer Lebenszeit aus. Wer Montage hasst, sollte bedenken, dass ein Siebentel seines Lebens aus Montagen besteht. Ein Siebentel seines Lebens einfach wegzuwerfen, ist wohl keine so gute Idee.
Ein lautes Nein gegen die Erschöpfung
Für viele Menschen ist ihr Beruf etwas, das ihnen Freude macht und ihrem Leben Sinn verleiht. Nicht Anstrengung führt zur Erschöpfung, sondern gefühlte Sinnlosigkeit des eigenen Tuns. Wir sollten nur aufhören, noch mehr von den falschen Dingen zu tun. Ein wirkmächtiges Wort gegen Erschöpfung lautet NEIN. Es erfordert Mut, Nein zu den vielen Dingen zu sagen, die wir weder tun wollen noch tun müssen. Noch mehr Mut ist nötig, bei den entscheidenden Weichenstellungen Nein zu Lebensentwürfen zu sagen, die gut für andere, aber nicht für uns selbst sind. Wer Freiheit liebt, sollte sich ernsthaft prüfen, ob die Gründung einer großen Familie ihn langfristig erfüllen wird. Wem Selbstbestimmung viel und Status wenig bedeutet, der muss sich nicht zu einer Karriere in einem Konzern drängen lassen. Lebensfreude ist das Ergebnis von guten Entscheidungen.
Sinnvolle Arbeit müsste kein knappes Gut sein: Der Kampf gegen Umweltbedrohungen, Krankheiten und Unwissenheit genauso wie das Suchen nach sozialen, künstlerischen und technischen Innovationen - es gibt wahrlich genug zu tun.
"Das schlimmste Übel, an dem die Welt leidet, ist nicht die Stärke der Bösen, sondern die Schwäche der Guten", sagt schon der französische Literaturnobelpreisträger Romain Rolland.
Buchtipp
Der Essay von Andreas Salcher ist der trend. EDITION vom 10. Juni 2022 entnommen.