Harald Mahrer, geb. 1973, ist Ex-ÖVP-Wirtschaftsminister, Unternehmer (früher u. a. in der Kärntner Privatklinik seiner Frau) und seit 2018 Präsident der WKO.
Siegfried Meryn, geb. 1954 in Wien, ist Internist mit ökonomischer Ausbildung und Gründer des Future Haelth Lab für Innovationen in der Gesundheitsversorgung.
©LUKAS ILGNERÖsterreich könnte sich im Gesundheitssektor global gut positionieren, sagen der Arzt SIEGFRIED MERYN und WKO-Boss HARALD MAHRER, aber auch schnell den Anschluss verlieren – siehe den Umgang mit KI.
Beginnen wir gleich mit einem zentralen Punkt zum Einsatz von KI im Gesundheitssektor. Dessen strenge Regulierung ist grundsätzlich gut und wichtig, kann aber medizinische Innovationen hemmen. Wie schafft man eine sinnvolle Balance?
Im Gesundheitswesen lässt sich extrem viel mit anonymisierten Daten
machen. Enorme Mengen davon liegen heute in den Sozialversicherungen, den Krankenanstalten und bei Ärzten brach. Leider haben wir in Österreich aber ein grundsätzliches Problem im Umgang mit Daten, sogar mit anonymen. Könnte man diese im ersten Schritt mit einem Big-Data-Ansatz für die Forschung nutzen, läge darin bereits gigantisches Potenzial. Denn KI-Software ist in der Lage, aus historischen Daten sehr viel zu lernen. Übrigens wissen wir aus Umfragen, dass viele Menschen der Verwendung ihrer Daten zustimmen würde, wenn sie sich davon einen konkreten Vorteil für sie als Patienten versprechen. Unser Vorschlag wäre, dass sie diese – anonymisiert – spenden können.
In Deutschland gibt es das schon, und 90 Prozent der Leute sind dafür. Das beweist ein völliges Umdenken, das mittlerweile Platz gegriffen hat. Österreich hat großartig begonnen und war mit ELGA (Elektronischer Gesundheitsakt, Anm.) in Europa führend. Mittlerweile laufen wir Gefahr, international den Anschluss zu verlieren. In Estland, Finnland oder Dänemark herrscht völlige Datentransparenz – eine Voraussetzung für den fruchtbaren intersektoralen Austausch. Die Diskussion bei uns führt dazu, dass Weltklasseforscher abwandern oder mit nicht-österreichischen
Daten arbeiten müssen. Mein Appell an Politik und Bevölkerung: Es ist nicht eins vor, sondern eins nach zwölf. Wir müssen nach vorne denken!
Kurze Zwischenfrage: Sie haben ELGA gelobt. Meine Erfahrung ist, dass ich immer noch die gleiche Untersuchung mehrfach innerhalb kurzer Zeit machen muss, weil der Datenaustausch oft nicht gegeben ist. Können wir über KI reden, wenn nicht einmal die Basics funktionieren?
Wie gesagt, die letzten zehn bis 15 Jahre haben wir völlig versäumt. Ihr Beispiel zeugt von Steinzeit. Wir müssen Gesundheit völlig neu denken. Es geht längst nicht mehr nur um ELGA und Digitalisierung. Wir erleben eine KI-Revolution in der Medizin durch die Konvergenz von IT und Biotechnologie.
Führt man sich vor Augen, was alles möglich ist, hätte Österreich als Life-Science-, Medizin- und Gesundheitsstandort supertolle Voraussetzungen. Wir haben fast 25.000 Forscher an über 50 Forschungseinrichtungen. Würden wir den Datenschatz heben, ergäben sich zum einen viele Marktchancen für neue Lösungen. Wir könnten zum anderen durch bessere Prävention, personalisierte Behandlungen usw. das Land auch fitter machen – was angesichts einer alternden Bevölkerung nötig sein wird. Wir müssten nur, wie es andere Länder schon getan haben, den Nutzen für jeden Einzelnen angstfrei kommunizieren. Und zwar alle gemeinsam: Gesundheitsministerium, Sozialversicherungen, Landeskrankenanstalten, Ärztekammer, Sozialpartner. Die WKÖ würde so einen Prozess wir gerne anstoßen.
Ich kann in unserer Welt nicht mehr in einem Silo denken. KI und Digitales durchziehen alle Bereiche. Manche Länder haben das begriffen, unsere Regierung wird nach zwei Jahren Vorbereitung demnächst den neuen Zielsteuerungsvertrag unterschreiben, der wieder nur der kleinste gemeinsame Nenner ist. Aber der Slogan müsste unmissverständlich lauten: digital vor ambulant vor stationär. Dieser Konsens muss hergestellt werden. Deutschland arbeitet schon mit sogenannten DiGAs, sprich digitalen Behandlungen, die von den Kassen bezahlt werden. Es braucht Ideen, damit die Leute solche Therapieformen annehmen. Es wird nämlich gar nicht anders gehen, weil weder in der Medizin noch in der Pflege genug Personal vorhanden ist.
Wie aufgeschlossen ist eigentlich die Ärzteschaft beim Thema Daten sammeln und vernetzen?
Lassen sie mich so formulieren: Es gibt noch viel Luft nach oben. Es braucht eine neue Generation, die anders denkt. Noch nicht alle haben verstanden, dass der Zug schon fährt und ich mir digitale Tools zum Fortschritt der Medizin und zum Wohle der Patienten zunutze machen muss – anstatt mich zu fürchten. Der Präsident der amerikanischen Gesellschaft für Radiologie beklagte einmal, dass man in fünf Jahren keine Radiologen mehr brauchen wird, weil KI alle Bilder selbst ausliest. Diese Zeitspanne ist schon vergangen, und es gibt eher mehr Radiologen. Ihnen eröffnet KI neue Aspekte, Diagnosemöglichkeiten und Fragestellungen.
Der zentrale Schlüssel für alles ist die Erkenntnis, dass Daten und der digitale Raum keine Grenzen kennen; keine nationalstaatlichen, keine Bundesländer- oder Bezirksgrenzen. Auch keine Silo-Grenzen. Es macht null Sinn, in den Kategorien einer einzelnen Organisation zu denken. Spitzenforschung funktioniert nur Grenzen überschreitend. Wir müssen endlich groß denken.
Ich darf als Arzt an Covid erinnern: Innerhalb eines Jahres standen eine Impfung und ein Medikament zur Verfügung. Früher hätte es 15 Jahre gedauert. Das verdeutlicht, was Vernetzung leistet.
Auch das Future Health Lab, das Herr Meryn gegründet hat und von der WKO mit vielen anderen Partnern unterstützt wird, ist ein Beispiel für Kooperation im Dienst von Innovation.
Welche Vorteile verspricht sich die Kammer von ihrem Fokus auf das Gesundheitswesen für heimische Unternehmen und den Standort?
Wir liegen in der Forschung über den gesamten Komplex, der mit Gesundheit zu tun hat, unter den Top 3 in Europa. Der Anteil von über zwölf Prozent aus den Forschungstöpfen dieses Landes ist gigantisch – und einer der Gründe, wieso neben nationalen Playern auch global aufgestellte Pharma-Konzerne hier Medikamente produzieren. Aus meiner Sicht müsste noch mehr Geld für Grundlagen- und angewandte Forschung ein Agenda-Punkt für die nächste Regierung sein. Das ist der erste Baustein, um sich dann gegenüber anderen im Wettbewerb durchzusetzen. Der positive Effekt auf die gesamte Gesundheitswirtschaft ergibt sich fast von selbst. Ich würde ebenfalls empfehlen, die Forschungsprämie (derzeit 14 Prozent, Anm.) noch zu erhöhen und auch für Klein- und Mittelbetriebe zugänglich machen. Warum nicht auch für den Medizintechnik- Betrieb mit 150 Leuten?
Wie halten wir mit, wenn wir zwar im traditionellen Pharma-Bereich und bei Life Sciences gut aufgestellt sind, aber im Digitalen hinterherhinken?
Es gibt in Österreich viele ausgezeichnete Start-ups, die dann aber oft nicht hierbleiben: weil sie zu wenig an Kapital, guten Leuten aus dem Ausland und Datenzugang bekommen. In der vorhersagenden Diagnostik, mit deren Hilfe sich etwa aus der Bildgebung ableiten lässt, wie sich ein Tumor entwickeln wird, haben wir zum Beispiel einige exzellente Start-ups. Mir würde das Herz brechen, wenn wir die verlieren.
Ich weise auf zwei weitere Probleme hin. Zum einen ist unser Markt klein. Zum anderen brauchen Innovationen den Anschluss an das öffentliche Gesundheitssystem. Sonst bleiben sie im privaten Markt, der ist begrenzt. Um sie international ausrollen zu können, müssen neue Produkte und Verfahren im öffentlichen System akzeptiert und implementiert sein. Wenn mir das in einem kleinen Land nicht gelingt, weil es an Regulatorik oder Bezahlung scheitert, dann muss ich als Start-up gehen.
Es bräuchte wie für Fintechs regulatorische Sandkisten und außerdem eine klar benannte Schnittstelle, die sich darum kümmert, dass ich eine Innovation leicht, schnell und fair bezahlt ins Gesundheitssystem bringe. Es darf nicht sein, dass bei uns entwickelte Produkte vielleicht zuerst woanders eingesetzt werden.
Wie hoch wäre die zusätzliche Wertschöpfung für den Standort, würde umgesetzt, was wir hier besprechen?
Wir reden jedenfalls innerhalb von zehn Jahren von ein paar Prozentpunkten zusätzlich für das BIP.
Nehmen Sie den Pharmakonzern Novo Nordisk in Dänemark, der die Abnehmspritze auf den Markt gebracht hat. Nur dieses Unternehmen hat die heurige Wachstumsprognose für ein ganzes Land von 1,8 auf 2,1 Prozent gepusht.
In Österreich steht der Sektor für ein Umsatzvolumen von 25 Milliarden Euro und könnte sich für die nächsten 15 bis 20 Jahre global super positionieren. Er könnte seinen aktuell sehr guten Ruf aber auch schnell verlieren. Weltweit haben alle die Relevanz der Branche für die Zukunft erkannt. Es herrscht ein Wettlauf, auch um die besten Talente. Und die bekomme ich nur mit kurzen Genehmigungszeiten, mit der Möglichkeit, sie sehr gut zu bezahlen, und mit toll ausgestatteten Einrichtungen.
Dass wir alle älter werden, lässt die Gesundheitskosten explodieren. Wie genau kann ich sie durch Technologie eindämmen?
6.000 Euro betragen die Kosten pro Fall im Krankenhaus, 480 Euro. in der Ambulanz und 100 Euro in der österreichischen Arztpraxis; das sind die Fakten. Schon jetzt betragen die Kosten für die Spitäler 18 bis 20 Milliarden pro Jahr. Schon jetzt zahlen wir hohe Sozialversicherungsbeiträge
und brauchen trotzdem hohe Zuschüsse aus dem Staatsbudget. Wenn das nicht weiter ausufern soll, bleibt uns gar kein anderer Ausweg, als so viele Leute wie möglich – durch Patientenlenkung unter Einsatz von KI und anderer digitaler Techniken – aus den Krankenhäusern zu leiten.
Wie ich schon sagte: digital vor ambulant vor stationär. Ich kenne Kliniken in Kanada, die haben gar keine Betten über Nacht mehr. Und in den USA wurde während der Pandemie der Begriff „Homespital“ geprägt: digitale Überwachung zu Hause nach einem Eingriff, sofern es medizinisch möglich ist. In Österreich fehlt oft Mut, Initiative und Erneuerungslust.
Ein Politiker, der „Homespital“ in Österreich fordert, müsste mit einem Mega- Shitstorm rechnen …
Bei uns redet man derzeit mviel über Wirtschaftsbildung in Schulen. Ich glaube, dass auch mehr Gesundheitsbildung in der Bevölkerung notwendig wäre. Einerseits natürlich in Richtung
Prävention, um gar nicht krank zu werden. Andererseits aber auch, um mehr Verständnis dafür zu wecken, welche oft qualitativ besseren und gleichzeitig kostengünstigeren Alternativen heute schon möglich sind oder bald sein werden.
Du sprichst die Health Literacy an, bei der Österreich tatsächlich im untersten Drittel der EU liegt. Niemand nimmt das Thema bislang ernsthaft in die Hand, weil die Kompetenzen im System so aufgesplittert sind. Eine verwandte Problematik stellt die Forschungsskepsis dar. Es ist nicht gelungen, der Bevölkerung ausreichend verständlich zu machen, warum wir 3,2 Prozent des BIP für Forschung ausgeben. Dem entgegenzuwirken sehen wir im Future Health Lab u. a. als unsere Aufgabe.
Sind die volkswirtschaftlichen Kosten der entscheidende Treiber für den Ruf nach Erneuerung im Gesundheitswesen?
Klar geht es am Ende des Tages auch um die Kostentangente. Die Sache hat aber vielschichtige Aspekte, nicht bloß die Behandlungskosten. Im Unterschied dazu, was uns manche weismachen wollen, werden wir bei einer schrumpfenden Arbeitsbevölkerung nicht weniger, sondern ein bisschen mehr leisten müssen. Anreize, in der Pension noch weiterzuarbeiten, setzen aber voraus, dass die Leute auch fit und gesund bleiben. Dazu kommt, dass die Gesundheitskosten umso höher sind, je älter jemand ist. Japan, ein Land mit einer sehr überalterten Bevölkerung, ist schon gezwungen, gnadenlos das Gesundheitssystem zurückzufahren. Ich will kein Land, dass älter, kränker – und damit auch ärmer wird. Verhindern wird sich das nur durch einen großen Paradigmenwechsel lassen.
Wir haben zehn gesunde Lebensjahre weniger als die Skandinavier. Das bedrückt mich nicht nur als Arzt, es hat auch große ökonomische Folgen. Die Leute gehen für den Arbeitsmarkt verloren. Diese Tatsache ist seit Langem allen bekannt – bis dato mit wenig Konsequenzen.
KI spielt in der früheren Erkennung von Krankheiten eine wichtige Rolle. Laut einer PwC-Studie ließen sich so weltweit Hunderte Milliarden Dollar einsparen. Gibt es bei uns diesbezügliche Ansätze?
KI wird dazu beitragen, dass etwa Demenz oder Krebserkrankungen früher erkannt und gezielter behandelt werden. Sie ist damit ein sehr wesentliches Werkzeug im gesamten Baukasten, das zu insgesamt gesünderen Gesellschaften beitragenwird. Bevor wir darüber reden, sollten wir uns aber einmal bewusst machen, dass in unseren Spitälern das Personal noch mit Bergen an Zetteln und Ordnern herumläuft, während Spitzenkliniken in den USA Kooperationen mit Google, Apple oder Microsoft abschließen. Es ließe sich schon viel einsparen, wenn sich Digitalisierung nicht darauf beschränkt, ein W-Lan zu haben.
Und oft ist nicht einmal das sichergestellt. Ich habe schon mehrmals gehört, dass im Arbeitsbereich von Krankenhäusern wichtige Applikationen nicht laufen, weil die Netzinfrastruktur zu schlecht ist.