Eine Einladung von Finanzminister Magnus Brunner zu einer Diskussion mit dem Schweizer Amtskollegen Ueli Maurer Anfang Mai geriet zu einem wohl nicht als solches geplanten Lehrstück über unterschiedliche Politik in der Schweiz und in Österreich. Brunner, innerhalb des ÖVP-Spektrums ohnehin noch eher auf wirtschaftsliberaler Seite, betonte, was der Staat alles unternimmt, um den Bürgern unter die Arme zu greifen, sprich: um öffentlichen Unmut so leise wie möglich zu halten. Von Maurer hingegen war mehr darüber zu hören, was der Staat trotz Krise nicht zu tun gedenkt.
So sieht der Eidgenosse keine Veranlassung, unterstützend einzugreifen, nur weil ein Liter Benzin jetzt über zwei Euro kostet, wie er sagte. Er will auch krisenbedingte Rekordgewinne der Energiekonzerne nicht absaugen, weil es effizienter sei, wenn Unternehmen möglichst viel investieren, statt das Geld beim Staat abzuliefern. Und er bedauert, dass die OECD sein Land gezwungen hat, die Mindeststeuer für Unternehmen auf 15 Prozent anzuheben, und möchte über zusätzliche öffentliche F&E-Leistungen die Mehreinnahmen wieder zurückzugeben. Die Abschaffung der kalten Progression, die Brunner bei dieser Gelegenheit immerhin sehr klar in Aussicht stellte, hat die Schweiz mit einem Automatismus schon 2011 umgesetzt.
Was Maurer noch anmerkt: Die meisten seiner Landsleute würden extensive Kriseninterventionen gar nicht goutieren, weil dann aufgrund der Schuldenbremse irgendwo anders eingespart werden müsste. Und damit ist ein entscheidender Punkt angesprochen: Der Anspruch an den Staat ist in der Schweiz ein anderer, weil sich Politik nicht ständig als Allzweckreiniger für alle Lebenslagen inszeniert.
Um Einwände gleich vorwegzunehmen: Ja, die Krise ist dort weniger ausgeprägt. Sie sind unabhängiger von russischem Gas, u. a. wegen ihrer Atomkraft. Die Inflation liegt aufgrund des starken Franken unter drei Prozent. Sie haben viel mehr internationale Konzerne und enorme Summen an ausländischem Kapital auf ihren Bankkonten.
Bei uns ist die aktuelle Lage um einiges schwieriger. Es liegt auf der Hand, dass es sozialpolitische Maßnahmen braucht, um gegenzusteuern. In der gefährlichsten wirtschaftlichen Bedrohung seit 70 Jahren ist verstärkter Einsatz von Instrumenten des Sozialstaates alternativlos. Das bestreitet niemand.
Der andere Teil der Wahrheit ist aber: In ständiger Aufregung, die eigene Relevanz zu behaupten, haben österreichische Politiker (aller Parteien) eine Art Vollkaskomentalität geschaffen, die unreflektierte Reflexe auslöst: Der Staat muss einspringen, ausgleichen, ersetzen. Das Ergebnis ist ein Klein-Klein an unkoordinierten Maßnahmen, je nachdem, ob gerade Pendler, Bauern oder Gastronomen am lautesten schreien. Ein schlüssiges Gesamtkonzept, das auch komplexere Zusammenhänge berücksichtigt, ist in so einem Biotop nahezu unmöglich zu entwickeln. Das macht die Sache ineffizient und teuer.
Die Schweiz hält ihre öffentliche Hand viel weniger weit auf, als es hierzulande der Fall ist. Sie lässt ihren Bürgern deutlich mehr vom verdienten Geld -erwartet aber auch mehr Selbstverantwortung. Finanzminister Brunner macht den Eindruck (nicht nur, weil er Vorarlberger ist), dass er für diese Mentalität gewisse Sympathien hegt. Aber auch in seinem Umfeld ist systembedingt nicht Sinn oder Unsinn von Fördermaßnahmen der Gradmesser, sondern das Niveau öffentlicher Erregung. "Das stehen wir politisch nicht durch!" ist ein häufig gebrauchtes Argument, wenn es um Abwehr übertriebener Begehrlichkeiten geht.
Vielleicht ist eine Phase, in der soziale Probleme anwachsen, nicht ganz ideal für diese Diskussion. Es kann aber auch sein, dass gerade Zeiten, in denen für unverrückbar gehaltene Sicherheiten plötzlich nicht mehr gelten, die Chance bieten, starre Muster wenigstens behutsam in Frage zu stellen. Die Kurz-ÖVP hat ihre wirtschaftspolitischen Überzeugungen zugunsten eines Umfragediktats über Bord geworfen. Und viel Geld in den Schulterschluss mit populistischen Medien investiert, der differenzierte Entscheidungen gar nicht mehr zuließ. Für Magnus Brunner und Wirtschaftsminister Martin Kocher liegt die Latte, es besser zu machen, nicht so hoch.
Die Faktenlage unterstreicht die Tragfähigkeit des Schweizer Weges. Das Land ist weit entfernt von sozialen Notständen, hat sehr viel Geld in erneuerbare Energien und öffentlichen Verkehr investiert, trotzdem liegt die Staatsverschuldung bei nur 27,5 Prozent. Die Staatsquote beträgt 34,5 Prozent (in Österreich: 55,9 Prozent) und ist auch während Corona deutlich weniger stark gestiegen als bei uns, obwohl die Eidgenossen mindestens genauso gut durch die Pandemie gekommen sind. Ähnlich wird es in der jetzigen Krise sein.
Der Kommentar ist als Leitartikel in der trend. PREMIUM Ausgabe vom 27.5.2022 erschienen