Zwischen Bahnchaos zu Spitzenzeiten und Geisterzügen in den Randzonen: Wie Sabine Stock, die neue Chefin des ÖBB-Personenverkehrs, das unlösbare Basisdilemma der Bahn neu bewertet.
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Die parlamentarische Anfrage klingt brandaktuell: "Es ist unverständlich, dass bei den ÖBB hinreichende Planung offenbar nicht möglich ist", echauffieren sich grüne Parlamentarier. "Jedes Jahr zu Ferienbeginnzeiten treten dieselben Probleme mit Überfüllung auf." Eine Railjet-Garnitur am Wiener Westbahnhof sei sogar wegen Überlastung von der Polizei geräumt worden.
Freilich, das Schriftstück stammt aus dem Jahr 2011. Die Grünen waren in Opposition, das Klimaticket weit weg, und der ÖBB-Chef hieß Christian Kern. Und doch darf sich die ÖBB nach dem einen oder anderen überfüllten Zug rund um die Feiertage elf Jahre später exakt die gleichen Vorwürfe anhören.
Ihre Antworten könnten freilich diesmal ein bisschen anders ausfallen. Denn mit Sabine Stock ist seit Kurzem eine unkonventionelle Quereinsteigerin für den ÖBB-Personenverkehr verantwortlich. Stock, die neue Vorständin der ÖBB-Personenverkehr AG, ist Physikerin (Abschlüsse in Paris und Berlin), war lange Managing Director bei der Boston Consulting Group (BCG) in Österreich. Und sie versteht die Aufregung um phasenweise überfüllte Züge nicht. Das werde die ÖBB nie ganz wegbekommen, selbst mit massiven Investitionen nicht: "Einen endlosen Kapazitätsaufbau, der zu geringen durchschnittlichen Auslastungen führt, verträgt ein Verkehrssystem ganz schlecht. Wir bauen auch nicht die Westautobahn achtspurig aus, nur damit alle gleichzeitig in den Sommerurlaub fahren können."
Holpriger Start
Tatsächlich war der Start der 46-jährigen Deutschen bei den Bundesbahnen einigermaßen herausfordernd. Alleine schon das neue Klimaticket ließ viele auf die Bahn umsteigen. Gleichzeitig trieb das Wiener Parkpickerl die Pendler im Osten in die Bahnhöfe. Auch die Treibstoffpreise ließen die Bahn als Alternative glänzen. Gleichzeitig fielen die Corona-Beschränkungen, und viele holten bei Sommerwetter ihre Reisevorhaben nach.
Und dementsprechend versuchte man, auch auf die Entwicklung zu reagieren. So gut wie alles, was Räder hat, sei in die Schlacht geworfen und Routineservices für Züge ausgesetzt worden - immerhin ein Plus von 13.000 Sitzplätzen. Auch mit verstärkter Kundeninformation versuchte man, des Ansturms Herr zu werden. Stock: "Es war jedenfalls bemerkenswert, wie steil die Kurve nach oben gegangen ist. Ich habe noch im Februar einen Beschwerdebrief bekommen, weil jemand in der zweiten Klasse im Vierer-Sitz nicht mehr alleine war."
Doch - so Stocks Botschaft - der fallweise Kollaps des Systems Bahn täuscht. Wenn selbst zu Spitzenzeiten gerade einmal nur elf von 1.500 Zügen wegen Überlastung eine Weiterfahrt unterbrechen müssen, ist das zwar durchaus ärgerlich für die rund 700 betroffenen Fahrgäste. Doch wie jedes Bahnunternehmen der Welt kämpft die ÖBB eigentlich die meiste Zeit damit, die vorgehaltenen Zugkapazitäten großflächig auch zu füllen.
Das Grunddilemma ist kaum auflösbar. Infrastruktur, die groß genug ist, um die Spitzennachfrage zu befriedigen, steht 90 Prozent der restlichen Zeit ungenutzt herum - ein Vorwurf, den man sonst dem Pkw zuschreibt. Das Dilemma verschärfte sich zuletzt sogar, weil wegen Corona die Nachfrage zurückging und gleichzeitig das Mobilitätsangebot ausgebaut wurde.
Großer Finanzierungsbedarf
Dabei steigt schon jetzt der Finanzierungsbedarf des Staates für die Schiene deutlich. Die ÖBB verschuldet sich auf über 31 Milliarden Euro, der Bund bürgt für die Rückzahlungen und vergibt dafür und für den Betrieb steigende Zuschüsse. 2021 waren es für Personenverkehrs AG und Infrastruktur AG gemeinsam 3,45 Milliarden Euro, nach 3,1 Milliarden im Jahr zuvor.
Schon jetzt liegt die fixierte Budgetbelastung (inklusive Zinsen) für die Jahre bis 2027 bei 46,581 Milliarden Euro. Nicht alles, was verkehrspolitisch gewünscht wird, ließe sich mit Schienenangeboten auch sinnvoll umsetzen, warnt daher auch Stefan Weiss, Vorstand der Kontrollgesellschaft SCHIG, die die Förderungen rund um die ÖBB abwickelt: "Man muss sich gut überlegen, wo man das Geld investiert. Es sind öffentliche Mittel."
Die Kundeneinnahmen hingegen werden immer kleiner. So stammten zuletzt nur 25 Prozent der Kosten der ÖBB Infrastrukturgesellschaft, die für die Schienen, Bahnhöfe und Tunnels verantwortlich ist, aus Entgelten der Bahnunternehmen. Und diese lukrieren nur einen kleinen Teil ihrer Einnahmen aus Ticketerlösen; bei der Personenverkehr AG etwa ist es nur rund ein gutes Drittel.
Damit werden durchgerechnet nicht einmal zehn Prozent der Kosten des Gesamtsystems ÖBB durch die Fahrgäste selbst finanziert. Ein wenig steuert der Güterverkehr bei, der große Hauptteil kommt aus staatlichen Zuschüssen, geregelt über so genannte Verkehrsdienstverträge. Mit diesen wird eine bestimmte Anzahl von Zugkilometern nach politischer Vorgabe von Bund und Ländern schlicht bestellt. Jede weitere Verbilligung der Tickets (Klimaticket) oder die Ausweitung des Angebots reduziert den individuell finanzierten Anteil.
Stocks Schlussfolgerungen, ein Verkehrsunternehmen wie die ÖBB kann aus finanziellen Gründen grundsätzlich nicht genug Zugmaterial bereitstellen, um auch Spitzennachfrage zu 100 Prozent abdecken zu können, ist dennoch provokant im Bahnland Österreich, das stolz ist auf die pro Kopf zweithöchsten Schienennutzungszahlen in Europa. Doch sie zieht Analogien zu ihrem engsten Fachgebiet als frühere Unternehmensberaterin, der Energiewirtschaft: Auch Kraftwerksbetreiber überlegen sich lange, wie viel an Anlagenkapazität sie in Reserve halten, um die Spitzennachfrage nach Strom abdecken zu können.
Die Verdrängung des Autos
Daher, so ihre zweite unkonventionelle Botschaft, solle sich die Effizienz der Bahn nicht nur an Über- oder Auslastungszahlen orientieren, sondern auch an der Verdrängung des Individualverkehrs. Doch wer der 160.000 Klimaticketbesitzer nun sein Auto tatsächlich verkauft oder wer nur eine ohnehin genutzte Jahreskarte durch die günstigere Alternative ersetzt hat, ist schwer messbar, gibt sie zu.
Tatsache ist: Die Nachfrage nach Bahnreisen steigt ungebrochen weiter. Im April 2022 lagen die Fahrgastzahlen der ÖBB auf der Schiene um zehn Prozent über jenen aus dem Jahr 2019, ebenfalls ein Rekordjahr. Im Mai rollte der Wert sogar auf plus 15 Prozent. Auf diesem Niveau sollte sich der Bedarf vorerst stabilisieren, schätzt Stock und hofft, dass das durch Corona in weite Ferne gerückte Ziel von 500 Millionen Passagieren (inklusive Postbus) doch wieder in Reichweite kommt (2021: 322 Millionen).
Über die kommenden Jahre gesehen rechnet die ÖBB jedenfalls mit einem durchschnittlichen Fahrgastplus von vier Prozent pro Jahr und will dafür über vier Milliarden Euro investieren. Das wird allerdings nicht ausreichen, um immer wieder mal überfüllte Züge zu verhindern.
Der Artikel ist der trend. PREMIUM Ausgabe vom 24. Juni 2022 entnommen.