Das neue Streaming-Portal des ORF, orf.on, wurde mit Jahresbeginn gestartet. Noch ist es im Testbetrieb.
©beigestelltHaushaltsabgabe, neue Streaming-Angebote, mehr Bewegtbild - 2024 wird im ORF umgesetzt, was 2023 medienpolitisch beschlossen wurde. Für Spannung und Spannungen ist dadurch gesorgt.
Mit Jahresbeginn 2024 ist das neue ORF-Gesetz in Kraft getreten, und damit kann sich der öffentlich-rechtliche Sender seither digital deutlich freier bewegen als zuvor. Eine Freiheit, die der ORF auch Schritt für Schritt zu nutzen weiß.
Am 1. Jänner wurden das neue Online-Portal on.orf.at mit einem digitalen Kinderangebot (kids.orf.at) gestartet. Auch die "blaue Seite", orf.at und die "gelbe Seite", sport.orf.at, die viel genutzten Erstanlaufstellen für Nachrichten und Sport im ORF-Webangebot werden neu gestaltet. Künftig wird es dort weniger Text und mehr Bewegtbild und Audioinhalte geben, ein Zugeständnis an die heimischen Zeitungsverleger, das im heftigen Ringen um ein neues Gesetz im Jahr 2023 gemacht wurde. Das geänderte Angebot spiegelt aber auch geänderte Nutzungsgewohnheiten der Medienkonsumenten wider.
Der große Sprung vorwärts besteht aber darin, dass TV-Inhalte schon vorab online gestreamt werden können und sie auch länger als nur sieben Tage zur Verfügung stehen – eigenproduzierte Serien wie "Biester" etwa ein halbes Jahr. Damit wird die Nutzung ähnlicher wie jene auf den großen Plattformen, die im letzten Jahrzehnt die Fernsehwelt revolutioniert haben.
"Es wird eine Art österreichisches Netflix", sagt ORF-Generaldirektor Roland Weißmann an, "mit dem großen Unterschied, dass wir auch Information, Kultur und Sport dabeihaben." (siehe Interview).
Späte TV-Zeitenwende
2024 ist im größten Medienunternehmen des Landes jenes Jahr, in dem operativ umgesetzt wird, was jahrelang diskutiert und letztlich erstritten wurde: zwischen Politik, Unternehmen und dem großen Rest der Medienwelt. Zu den Neuerungen gehört neben dem digitalen Paket auch die Finanzierung. Künftig hat jeder Haushalt eine Abgabe zu zahlen (siehe orf.beitrag.at), egal ob ORF-Angebote genutzt werden oder nicht.
Für die bisherigen 3,2 Millionen User, die auch GIS-Gebührenzahler waren, ist die neue Haushaltsabgabe günstiger. Für alle anderen, die bisher nur streamten oder den ORF verweigerten, ist die Haushaltsabgabe hingegen überwiegend ein Ärgernis.
25 Prozent der Bevölkerung sind selbst laut ORF-eigenen Umfragen nicht davon überzeugt, dass es den ORF braucht. Auf diese Mühlen träufelt Ferdinand Wegscheider, Chef des expansiven privaten Konkurrenten ServusTV, Wasser, wenn er rhetorisch fragt: "Wie ist es zu rechtfertigen, dass die Österreicher eine Abgabe für ein Programmangebot zahlen, das sie möglicherweise gar nicht konsumieren?"
Die FPÖ, wie fast alle rechtspopulistischen Parteien Europas auf einem Kreuzzug gegen öffentlich-rechtliches TV, wird exakt in diese Kerbe schlagen und die Abschaffung der Haushaltsabgabe zu einem zentralen Thema für die kommenden Nationalratswahlen machen, die voraussichtlich im Herbst abgehalten werden. Die Kickl-Partei liegt in den Umfragen derzeit bei rund 30 Prozent und damit klar auf Platz eins.
Am Küniglberg bereitete man sich auf heftige Wochen nach Einführung der Abgabe vor. Die Kampagne "Für alle" sollte Stimmung für die Umstellung machen, so gut es geht.
Generaldirektor Weißmann ahnte, was auf ihn zukommt - eine kommunikative Verteidigungsschlacht, aber auch viel digitales Lernen. "Zeig mir das, ich bin ja kein Digital Native", sagt er beim Interview zu einem Mitarbeiter, der ihm auf dem Bildschirm einen Entwurf der neuen "blauen Seite" hinhält – mit mehr Videoangebot, aber auch klarer Wiedererkennbarkeit.
Programmlich spielt ihm das Jahr 2024 in die Hände. Im Zuge von EU-, Nationalrats-und US-Präsidentenwahlen werden die Korrespondenten und Studioanalysten der ORF-Information ihre volle Stärke ausspielen. Eine Fußball-Europameisterschaft mit österreichischer Beteiligung und Olympische Sommerspiele sollten zur Jahresmitte hin die Aufmerksamkeit des Publikums weg von ORF-internen Themen kanalisieren. Und in den schwierigen Anfangsmonaten müssen eben die "Biester" ablenken.
Dass die Dinge nun in Bewegung kommen, stiftet aber auch Unsicherheit – allen voran im Unternehmen selbst. Im neuen multimedialen Newsroom läuft noch vieles unrund, sagen Mitarbeiter. Das frisch bestellte Chefredaktionstrio Johannes Bruckenberger (Sendungen und Sendungsteams), Gabriele Waldner-Pammesberger (multimediale Ressorts) und Sebastian Prokop (Breaking News, Kurznachrichten, Social Media) soll künftig dafür sorgen, dass die hochmoderne Maschine lautlos läuft.
Späte Offensive
Ist die mit Jahreswechsel gestartete Digitaloffensive nun der große Gamechanger in einem Markt, der in den letzten zehn Jahren durch Streamingangebote von Netflix bis Apple TV+ geprägt wurde? Sie kommt spät, denn wie die Daten der Bewegtbildstudie 2023 zeigen, hat sich das Wachstum der Plattformen beim jungen Publikum deutlich eingebremst, während Streaming bei den über 30-Jährigen noch immer Marktanteile gewinnt (siehe Grafik).
Weil die Antwort auf Netflix &Co. so lang gedauert hat, wirkt sie wie ein Erwachsener, der seinen Nachwuchs auf einer Party abholt und auch noch ein bisschen mitfeiern will. Immerhin ist der Tanzrhythmus nun bekannt - und die Chancen intakt, weiterhin eine Führungsrolle beanspruchen zu können. "Die Erweiterung auf die digitalen Plattformen führt dazu, dass das Angebot konstant gehalten werden kann", urteilt Thomas Prantner. Der frühere Online-Direktor des ORF hat 2009 die TVthek mitgegründet, die nun nach einem Parallelbetrieb bis April 2024 in ORF ON aufgehen soll.
Prantner ist seit seiner erfolglosen Bewerbung für den ORF-Generalsjob 2021 als Berater tätig, auch für Unternehmen der Branche. Den aktuellen Move bei seinem Ex-Arbeitgeber hält er für logisch und für "das Resultat einer Zeitenwende in der österreichischen TV-Branche, die vor zwei Jahren (mit dem Antritt von Roland Weißmann, Anm.) begonnen hat. Das Motto heißt jetzt Kooperation statt Konfrontation."
Damit spielt der Ex-ORF-Mann nicht nur auf diverse Kooperationen wie das alljährliche, von der österreichischen ProSiebenSat.1-Puls-4-Gruppe (P7S1P4) gegründete Digitalfestival "4Gamechangers" an, sondern auch auf Joyn, das als "Österreichs Superstreamer" gebrandete Angebot von P7S1P4.
Auf dieser Plattform, die bislang bereits über 70 Sender und fast 30 Mediatheken zugänglich macht, ist auch der ORF präsent. Verhandelt wird derzeit auch über das Andocken von CNN.
Während Weißmann erst im Verlauf des Jahres ernsthafte Gespräche mit Drittanbietern führen will, deren Inhalte er auf seiner Plattform mitpräsentieren könnte, ist Joyn, vormals Zappn, nach dem Launch im Mai 2023 in puncto Vielfalt und dank gestiegener Bekanntheit gut gerüstet, um das Duell mit dem ORF zu bestehen. "Joyn wurde 2023 gelauncht und ist daher schon viel weiterentwickelter als der neue ORF-ON-Player, der erst 2024 kommt", so Prantner. Nachsatz: "Den Startvorteil hat klar die Nummer eins."
Wer trifft besser?
Ein besonderer TV-Leckerbissen, völlig unabhängig von der fußballerischen Qualität, ist deshalb die Europameisterschaft, für die sich der Red-Bull-Sender ServusTV und der ORF die Rechte gesichert haben. Denn über den Umweg Joyn werden sie auch beim österreichischen Ableger des deutschen Medienkonzerns zu sehen sein. Den Zuliefersendern bringt das zusätzliche Reichweite und Werbeerlöse, Breitenecker einen Anteil an der Werbevermarktung. ServusTV-Intendant Wegscheider sieht jedenfalls einen Nutzen für seinen eigenen Player ebenso wie für Joyn: "Die Euro 2024 ist das nationale Sportereignis des Jahres und wird ein starker Treiber für unsere Plattform ServusTV On, aber auch für unsere Distributionspartner sein, die alle auf ServusTV einzahlen."
In Sachen Reichweite haben Sender mit älterem Publikum nun auch wieder die Chance, Jüngere zu erreichen. "Neben unserem Kerngeschäft TV ist ein großer Vorteil von Joyn, dass wir die inzwischen über lineares Fernsehen schwer bis gar nicht zu erreichenden Zielgruppen dort sehr gut adressieren können", merkt Privat-TV-Manager Breitenecker an. Berater Prantner ortet gleichfalls eine "Win-Win-Situation für alle TV-Sender, denn die Onlinezugriffe werden zu den linearen Reichweiten hinzugezählt, was in Zeiten sinkender linearer TV-Quoten, speziell bei den jungen Zielgruppen, ein echter Mehrwert ist".
Für die Werbewirtschaft beginnt es jetzt richtig spannend zu werden. "Wir erwarten den Durchbruch 2024", ist Bettina Schuckert, CEO der Mediaplanungsfirma dentsu Austria, hoffnungsfroh. Zwar sei nicht alles von dem, was Joyn beim Start versprochen hatte, eingelöst worden. Doch wenn nun tatsächlich eine vermarkterübergreifende Buchung und Werbeausspielung komme, hätte das "echten Mehrwert", so Schuckert: "Damit würde – im Rahmen des Möglichen – ein Gegengewicht zu den globalen Playern erschaffen werden."
Kooperation der Streamer?
Es gibt somit mit Jahreswechsel zwei in Österreich entwickelte Streamer mit dem langfristigen Anspruch, mehr als das eigene lineare Programm zu digitalisieren. Welcher von ihnen am Ende erfolgreicher ist und ob überhaupt Platz für beide ist, wird nun in erster Linie der Markt und nicht mehr die Medienpolitik entscheiden.
Gut möglich, dass das Konkurrenzgebrüll die Schalmeientöne der Kooperation dabei wieder übertönt. "The Power of Cooperation", das 2023er-Motto des von Puls 24 und ORF co-veranstalteten Digitalfestivals 4GameChangers im Mai, steht dieses Jahr auf dem Prüfstand. Dass auch die Inhalte seiner Gruppe auf dem ORF-Rivalen abrufbar sein sollen – dazu hält sich etwa Breitenecker auf trend-Nachfrage bedeckt. Auch Weißmann lässt sich dazu nicht in die Karten schauen.
Den Giganten aus dem Silicon Valley etwas großes Europäisches entgegenzusetzen – das ist jedoch nach wie vor weit entfernt. Auf Joyn Österreich, das auch in Deutschland als Modell der Zusammenarbeit diskutiert wird, ist noch nicht einmal der private Hauptkonkurrent von P7S1, die RTL-Gruppe, vertreten.
Ob P7S1-CEO Bert Habets die deutschen öffentlich-rechtlichen Sender an Bord holen kann wie Breitenecker den ORF, ist mehr als ungewiss. Der ORF diskutiert seinerseits seit Jahren eine bessere Vernetzung mit den anderen deutschsprachigen öffentlich-rechtlichen Sendern, neben ARD, ZDF auch der schweizerischen SRG. Doch seit Jahren ebenfalls ohne sichtbare Erfolge.
Weil das Neue immer Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist dennoch davon auszugehen, dass Bewegtbild 2024 trotz einer bescheidenen Werbekonjunktur in einer stagnierenden Wirtschaft erneut Marktanteile gewinnen wird – bei den Zuschauern ebenso wie in der Werbewirtschaft. Print, in absoluten Zahlen noch immer die Nummer eins bei den Werbeerlösen, wird dagegen weiter verlieren.
Das ist die Kehrseite des für den ORF so günstigen neuen Gesetzes: Durch die neuen digitalen Entfaltungsmöglichkeiten des ORF wird der Aufbau digitaler Geschäftsmodelle der früheren Printhäuser massiv gestört. Der Verband Österreichischer Zeitungen (VÖZ) hat sich deshalb unmittelbar nach Beschluss des Gesetzes mit einer Beschwerde an die Wettbewerbsbehörden in Brüssel gewandt.
Die nun zementierte Schieflage sehen übrigens nicht nur gestandene Zeitungsverleger so. Für Berater Prantner ist sonnenklar, dass "das neue ORF-ON-Angebot eine extreme Konkurrenz zu den Onlineaktivitäten der privaten Verleger ist". Der Schuldige liegt für ihn ebenso auf der Hand - der kleinere Regierungspartner hat sich in Gestalt der grünen Mediensprecherin durchgesetzt: "Das war eine politische Entscheidung - das ORF- Gesetz trägt die Handschrift von Frau Blimlinger." Ob der größere Koalitionspartner ÖVP schlicht weggeschaut hat, lässt er dabei offen.
Auf solche Ex-post-Betrachtungen will sich ORF-Generaldirektor Roland Weißmann, der als einer der großen Medien-Gewinner des Jahres 2023 gelten kann, erst gar nicht einlassen. "Es waren harte, aber faire Verhandlungen, jetzt schauen wir in die Zukunft."
Der Artikel ist der trend. edition+ vom Dezember 2023 entnommen.
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