trend: Die Energieversorger stehen in öffentlicher Kritik. Krisenbedingt gab und gibt es Anfeindungen gegenüber Energieversorgen, auch gegen Sie persönlich. Wie belastend ist das?
Michael Strugl: Die Mitarbeiter:innen haben großen Druck und müssen immer noch einiges aushalten. Das trifft sowohl Personen im direkten Kundenkontakt an den Telefonen, aber im privaten Umfeld auch alle anderen, die Vorstände ebenso. Die Hemmschwellen sind schon sehr niedrig geworden, die Aggressivität nimmt zu. In dieser Intensität gab es das bisher nicht. Wir müssen aufpassen, dass die Gesellschaft in dieser Krise nicht auseinanderbricht.
"Merit-Order" ist so etwas wie das Unwort des Jahres 2022. Diese Regel führt dazu, dass der sehr hohe Gaspreis direkt auf den Strompreis durchschlägt. Wie erklären Sie verständlich, warum man sie nicht ersatzlos streicht?
Es gibt Gründe dafür. Das Prinzip basiert auf den Grenzkosten und hat den Vorteil, dass es grundsätzlich zu möglichst günstigen Preisen führt. Es gewährleistet zweitens Versorgungssicherheit und begünstigt drittens die erneuerbaren Energien, weil sie die niedrigsten Grenzkosten haben. Diese Preisbildung hat 21 Jahre gut funktioniert
Das bestreitet niemand, aber in der jetzigen Ausnahmesituation funktioniert sie nicht mehr, oder?
Der Grund ist aber eine Gasmangellage. Deswegen ist die beste Lösung eine temporäre Entkoppelung von Gas- und Strompreis, ohne den gesamten Mechanismus der Merit-Order völlig zu beseitigen. Wir haben dazu einen Vorschlag gemacht, nämlich dass man das Prinzip beibehält - am Ende aber den Preis für Strom aus Gaskraftwerken politisch deckelt. Es ist enttäuschenderweise auf europäischer Ebene nicht gelungen, für die damit verbundenen Ausgleichszahlungen - da reden wir von einem dreistelligen Milliardenbetrag - einen Konsens zu finden. Das ist nötig, weil manche Länder wenige Gaskraftwerke haben, andere viele. Keine einfache, aber die beste Lösung. Die sogenannten Zufallsgewinne würden dadurch gar nicht anfallen.
Eine Einigung lässt sich wohl auch in Zukunft nicht erzielen. Also bleibt Strom schlicht teuer?
Es wird hin und her diskutiert. Ich habe mit den zuständigen Stellen in Brüssel geredet, die unser Modell als total sauber bezeichnen, nur fehlt der politische Konsens. Deswegen gibt es nun die Gewinnabschöpfung, was leider zu einer Fragmentierung in Europa führt, weil es jeder Staat ein bisschen anders löst. Das heißt, die Industrie muss mit den hohen Preisen weiter leben und kriegt halt dann wieder Geld zurück. Wie viel, kann aber sehr unterschiedlich sein, was den Wettbewerb verzerrt. Zwischen Österreich und Deutschland ist das zum Beispiel ein Thema. Für Verbund macht es wenig Unterschied, ob Gewinne gar nicht entstehen oder abgeschöpft werden. Aber wir verstehen, dass man was tun muss, um Haushalte und Unternehmen entlasten.
Eine dritte Alternative gibt es nicht?
Die Vision ist eine Strommarktreform. Ein sehr komplexes Unterfangen, das Jahre dauern würde. Zudem ist nicht klar, wie das überhaupt aussehen könnte: Diskutiert wird etwa über getrennte Märkte für erneuerbare und konventionelle Erzeugung. Fakt ist: Wenn man das jetzige marktnahe System zugunsten einer Regulierung abschafft, fällt der Investitionsanreiz für die Erneuerbaren weg. Dann müsste man wieder im großen Stil Fördersysteme aufbauen, wie in der Vergangenheit. Fragt sich, ob wir das wollen. Es wäre doch gescheiter, den Gasmarkt in Ordnung zu bringen und nicht etwas Funktionierendes aufzugeben.
Der Gaspreis hat sich im Vergleich zum Höhepunkt wieder fast halbiert. Warum geht der Strompreis trotzdem nicht runter?
Die Futures-Notierungen für die Jahre 2023 bis 2025 zeigen ein hohes Preisniveau. Da gibt es die Erwartung, dass Gas wieder knapp werden könnte. Außerdem besteht in diesem Winter auch bei Strom eine eher angespannte Situation. Die Märkte antizipieren solche Entwicklungen. Und generell kommen Preisänderungen bei den Konsumenten zeitverzögert an.
Halten Sie die österreichische Strompreisbremse für sinnvoll?
Absolut. Wir dürfen nicht zuschauen, wenn sich Haushalte Energie nicht mehr leisten können. Die Mechanik ist vernünftig aufgesetzt: Ein Grundbedarf wird subventioniert, aber es ist auch ein Anreiz da, weniger zu verbrauchen.
Kleine Stromanbieter haben vielen ihrer Kunden gekündigt. Ist auch bei Verbund das Geschäft mit Privatkunden ein ungeliebtes?
Nein. Für uns ist das schon ein wichtiges Segment, weil die Schnittstelle zu den Kunden. Wir sehen uns am Heimmarkt als integrierten Versorger, da gehören Haushalte dazu. Wir haben sogar einen ziemlich starken Zulauf. Wenn die Preise so hoch sind, machen sich die alternativen Anbieter vom Acker und mehr Leute gehen wieder zu den angestammten Versorgern. Das ändert sich wahrscheinlich wieder, wenn der Markt dreht.
Per 1. Dezember wurde ein Teil der Zufallsgewinne des Verbund abgeschöpft. Wie viel wird da im neuen Jahr ungefähr an den Finanzminister fließen?
Das bewegt sich zwischen einer und 1,5 Milliarden Euro. Für 2022 hat der Vorstand schon vor Monaten proaktiv 400 Millionen Sonderdividende vorgeschlagen, wodurch die Gesamtdividende rund 1,2 Milliarden betragen wird. Die Logik dahinter: Weil wir zu 80 Prozent öffentliche Eigentümer haben, ergibt sich zusätzlicher Spielraum der öffentlichen Hand für Hilfeleistungen. Wir haben, als klar war, welche sozialen Verwerfungen auf das Land zukommen, auch sofort überlegt, was wir tun können, um unsere Kunden zu entlasten. Jetzt bieten wir Bonusprogramme mit Gutschriften auch für Bestandskunden. Für vulnerable Gruppen sind bis zu vier Monate gratis. Der Mitbewerb hat das am Anfang sehr kritisiert, mittlerweile machen es auch andere. Zusätzlich haben wir den Verbund-Stromhilfefonds der Caritas auf fünf Millionen Euro aufgestockt und ein eigenes Programm für Verbund-Kunden dotiert. Wir verstehen, dass unsere Gewinne nicht unangetastet bleiben können, obwohl die Abschöpfung nicht die beste Lösung ist.
Wird sich diese Abschöpfung negativ auf die Investitionen von Verbund auswirken?
Sie ist ein Eingriff in Erlösströme des Unternehmens, also steht weniger für alles andere zur Verfügung. Das tut schon weh. Wir haben zum Beispiel den Ausbau von Limberg III beschleunigt, damit dieses Speicherkraftwerk früher ans Netz geht, was natürlich mehr kostet. Andererseits planen wir die meisten Investitionen langfristig und gehen einmal nicht davon aus, dass die Abschöpfung länger bleibt. Aber dass sie nicht egal ist, ist eine betriebliche Realität.
Wird das Ausbauprogramm für erneuerbare Energien reduziert?
Wir wollen jedenfalls die geplanten Investitionen umzusetzen, müssen uns aber gut überlegen, wie wir das managen. Herausfordernd wird das schon. Anerkennen muss man, dass die österreichische Regierung etwas Kluges gemacht hat, indem Investitionen in Erneuerbare bei der Abschöpfung anrechenbar sind. Das kenne ich aus anderen Ländern noch nicht. Unsere Perspektive sieht 15 Milliarden Euro bis 2030 für den Erneuerbaren-Ausbau vor. Das wären zusätzlich acht Terawattstunden Strom, die wir dann erzeugen.
Abgesehen vom Geld bestehen andere Hürden: Obwohl alle beschwören, dass Unabhängigkeit von fossilen Energien das Allerwichtigste ist, scheint sich bei politischen Voraussetzungen für einen beschleunigten Ausbau nicht viel zu tun.
Dieses Gefühl habe ich leider auch manchmal, obwohl der Leidensdruck so groß ist wie noch nie. Wir bei Verbund würden in Österreich noch viel mehr investieren, gäbe es die entsprechenden Opportunitäten, aber die sind spärlich. Vorrangig wären ausreichend Flächen für Projekte, die gibt es nicht. Das Land muss endlich in die Gänge kommen, damit der Ausbau schneller und in größeren Skalen stattfinden kann. Wenn wir so weitermachen, brauchen wir etwa für das Ausbauziel bei Windkraft 50 Jahre.
Ist das der Politik nicht bewusst oder verdrängt sie das Problem, um keine Bürgermeister aufzuregen?
Zum einen hemmt die Kompetenzzersplitterung über alle Gebietskörperschaften bei den Genehmigungen. Das beste Bundesgesetz hilft nicht, wenn es in den Ländern dann nicht umgesetzt wird. Die große Aufgabe ist, alle in ein Boot zu holen. Das funktioniert nur mit nationalem Schulterschluss sowohl zwischen den Parteien als auch zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. Wenn diese Krise nicht den Anstoß dazu gibt, weiß ich nicht mehr, was noch passieren muss. Wir können uns keine parteipolitischen Auseinandersetzungen in wesentlichen Fragen - wie der Versorgungssicherheit - leisten.
Gibt es überhaupt so etwas wie eine politische Gesamtstrategie für den Ausbau?
Die Regierung hat mit dem EAG festgelegt, dass wir die Erzeugung erneuerbarer Energie verdoppeln müssen. Wo das passiert, steht im Gesetz nicht drinnen. Man muss den Ausbau von Anlagen, Netzen und Speichern integriert planen. Diesen integrierten Ansatz sehe ich nicht.
Die Stromerzeugung in Europa ist momentan sowieso gestresst. Könnten die Konsequenzen bis hin zu Abschaltungen gehen?
Die Trockenheit des Sommers, etwa in Norwegen, lässt sich nicht leicht aufholen. Dazu kommen Verzögerungen bei einem finnischen Atomkraftwerk und die Probleme bei den französischen Atomkraftwerken. Ein Stresstest der deutschen und österreichischen Versorger zeigt: Im wahrscheinlichsten Szenario werden wird es schaffen - in den beiden anderen nicht. Also: Es darf nichts Außergewöhnliches passieren - ein extrem kalter Winter zum Beispiel oder ein Ausfall von Kapazitäten. Es wäre jedenfalls klug, mit Strom sorgsam umzugehen. Die Franzosen machen schon stundenweise Abschaltungen. Wir sind auf diesen Winter sehr gut vorbereitet. Wenn trotzdem was passiert, würde der Energielenkungsfall eintreten. Dann müssten die Bundesländer entscheiden, ob es zu Flächenabschaltungen kommt.
Um den Kreis zu schließen: Rechnen Sie im neuen Jahr mit fortgesetzter Aggressivität gegen die Energieversorger?
Ich kann nur grundsätzlich sagen: Wir müssen das Gemeinsame wieder in den Vordergrund stellen. Das wäre mein Neujahrswunsch - und das ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft, nicht nur der Politik. Verbund wird seinen Anteil leisten, indem wir das Sozialbudget massiv aufstocken, jährlich eine Milliarde in Versorgungssicherheit investieren und einen Großteil unserer Ergebnisse abliefern. Wenn wir zusammenhalten, werden wir die Krise bewältigen, wenn wir streiten, dann nicht.
ZUR PERSON
Michael Strugl, geboren 1963 in Steyr, ist Jurist und schloss außerdem ein Masterstudium an der Universität Toronto ab. Er war über 30 Jahre lang ÖVP-Politiker in Oberösterreich, ab 2017 als Landeshauptmann-Stellvertreter. Anfang 2022 wurde Michael Strugl zum Vorstandsvorsitzenden des Stromkonzerns Verbund bestellt. Strugl ist auch Vizepräsident der Industriellenvereinigung in Wien.
Das Interview ist der trend. EDITION Ausgabe vom Dezember 2022 entnommen.