Hohe Kosten, wenig Effizienz: Österreichs Gesundheitssystem kommt an seine Grenzen. Abhilfe könnte die Digitalisierung bringen. Und ein neues Denken im Vergaberecht.
Zu wenig Pflegepersonal, überlastete Ärztinnen und Ärzte, viele niedergelassene Mediziner kurz vor der Pension, gleichzeitig eine alternde Bevölkerung mit zunehmendem medizinischem Betreuungsbedarf und ein Gesundheitssystem, das durch Doppelgleisigkeiten und eine Vielzahl von Stakeholdern und Interessen geprägt ist – das klingt nicht gerade nach einer entspannten Zukunft.
Ein mögliches Rezept, um diese Systemschmerzen zu reduzieren: Digitalisierung. Deren Chancen liegen einerseits in der verbesserten Patientenversorgung. Digitale Lösungen wie elektronische Patientenakten ermöglichen den sicheren Austausch von medizinischen Informationen zwischen verschiedenen Gesundheitseinrichtungen, Stichwort ELGA. Dadurch können Ärzte und medizinisches Personal besser auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten eingehen und Behandlungsentscheidungen auf Basis fundierter Informationen treffen. Also keine Doppelbefundungen mehr und weniger Risiken bei Unverträglichkeiten von Medikamenten – das System würde automatisch Alarm schlagen. Darüber hinaus ermöglichen Telemedizin und Fernüberwachung den Patienten den Zugang zu medizinischer Versorgung von jedem Ort aus, was besonders in ländlichen Gebieten oder bei mobilitätseingeschränkten Personen von Vorteil ist.
Vorsorge per App
Doch die Anwendungsmöglichkeiten digitaler Lösungen sind noch viel umfangreicher. So können digitale Gesundheits-Apps, sogenannte DIGAS, bei Früherkennung, Prävention und Nachsorge wertvolle Dienste leisten. Beispiele sind mobile Gesundheitsanwendungen und Fitness-Tracker, mit denen Menschen ihren Gesundheitszustand selbst überwachen können und personalisierte Empfehlungen erhalten. Oder auch Medizinprodukte wie Tinnitus-Apps, die schon jetzt als Therapie und zur Linderung der Beschwerden eingesetzt werden – in Ländern wie Deutschland, Frankreich und Belgien sogar per Rezept verordnet und von den Krankenkassen bezahlt.
Während Österreich mit der Elektronischen Gesundheitsakte (ELGA) auch im internationalen Vergleich einen großen Schritt nach vorne getan hat, hinkt man beim Einsatz von Gesundheits-Apps noch deutlich hinterher. Dabei würde sich mehr Engagement lohnen: Studien von McKinsey und Accenture kommen unabhängig voneinander auf ein Einsparungspotenzial im Gesundheitssystem von vier bis sechs Milliarden Euro – pro Jahr.
Verschenkte Milliarden
Was die Digitalisierung im Gesundheitswesen bringen kann.
Telemedizin per Video statt teure Ordinations- und Ambulanzbesuche, Fernüberwachung chronisch Kranker, elektronische Patientenakten auf dem aktuellen Stand, verbesserte Arbeitsabläufe, mehr Patientenselbstmanagement: Diese und andere Digitalisierungsschritte bringen dem österreichischen Gesundheitssystem Einsparungen von bis zu 4,7 Milliarden Euro jährlich. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey. Die Beraterkollegen von Accenture kommen sogar auf jährliche Einsparungen von sechs Milliarden Euro. Voraussetzung: Die Einrichtung einer digitalen Gesundheitsplattform, über die sämtliche Gesundheitsleistungen auf einen Klick abgerufen werden können und die die Basis für Effizienzsteigerungen bildet. Konkretes Beispiel: Allein durch digitale Terminvergaben und Rezeptausstellungen sowie Videokonsultationen ließen sich über eine Million Arbeitsstunden in Ordinationen einsparen.
Vergaberecht als Türöffner
Turbo und Türöffner für diese Digitalisierung kann das Vergaberecht sein. Davon ist der Vergaberechtsspezialist Martin Schiefer überzeugt, der seit zwei Jahrzehnten Auftraggeber aus dem Gesundheitssektor unterstützt: „Das Vergaberecht kann und muss ein Innovationstreiber in diesem Bereich sein“, sagt er. Voraussetzung dafür sei allerdings, dass das Vergaberecht neu gedacht wird: Weg vom Aufstellen seitenlanger Leistungsverzeichnisse auf Basis fixer, vorgegebener Lösungen, hin zu agilen, funktionalen Ausschreibungen. „Das Ziel und der Rahmen müssen definiert werden“, so Schiefer, „und dann gilt es, gemeinsam mit Unternehmen die ideale Lösung zu entwickeln.“ Um bei diesem Ideenwettbewerb auch Start-ups eine realistische Chance zu bieten, ist es notwendig, diese in den Erstattungsprozess hineinzunehmen und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr Produkt auch abzusetzen. „Das ist ja auch eine Funktion des Vergaberechts, Partnern über entsprechende Verträge Sicherheit zu geben“, betont Schiefer (siehe auch Interview).
Bleibt das heikle Problem des Datenschutzes im Gesundheitsbereich mit seinen sensiblen Daten. Allerdings: „Oft ist der Verweis auf den Datenschutz nur eine Schutzbehauptung“, sagt Martin Schiefer, „man muss das Thema ernst nehmen, aber auch neu denken.“ Eine Idee ist, dass Patientinnen und Patienten ihre Daten „spenden“ können, also freiwillig für Forschungszwecke zur Verfügung stellen. „Das lässt sich auch juristisch sauber argumentieren“, erläutert der Anwalt, „denn der Datenschutz kann ja nicht einschränken, dass Menschen frei über ihre persönlichen Daten verfügen können.“
Die verstärkte Nutzung von Daten ist für den medizinischen Fortschritt unumgänglich. „Eine wirklich gute Versorgung ist ohne Zugriff auf digitale Patientendaten nicht mehr gut darstellbar“, hat der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach bei der Präsentation der deutschen Digitalstrategie in der Medizin formuliert.
Viele Daten, wenig Nutzen
Zwar gibt es in Österreich seit zwei Jahren das „Forschungs-Organisationsgesetz“, das in Verbindung mit dem bei der Statistik Austria eingerichteten Austrian Micro Data Center den Zugriff auf gewisse Daten zu wissenschaftlichen Zwecken erlaubt – nur wird es viel zu wenig genutzt. „Dabei hätten wir in Österreich so viele Daten, die man gut kombinieren und anonymisiert weitergeben könnte“, kritisiert auch Alexander Biach, Wiener Standortanwalt und stellvertretender Direktor der Wirtschaftskammer Wien, „aber wir trauen uns nicht, den nächsten Schritt zu gehen.“
Dabei wären die Vorteile groß: Patientinnen und Patienten könnte ein langer Leidensweg erspart bleiben sowie den Sozialversicherungen und der Wirtschaft Kosten, weil Krankheiten früher erkannt und behandelt werden und lange Krankenhausaufenthalte unter Umständen vermieden werden könnten. Die Wirtschaftskammer Wien hat errechnet, dass durch den flächendeckenden Einsatz digitaler Gesundheitsanwendungen die Belegtage in Krankenhäusern von durchschnittlich 8,3 auf 7,6 Tage sinken könnten. Klingt nicht nach besonders viel, würde dem Gesundheitssystem aber eine Ersparnis von 1,5 Milliarden Euro bringen.
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Keine Frage: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens bietet enorme Möglichkeiten zur Verbesserung der Patientenversorgung, Prävention von Krankheiten und Effizienzsteigerung. Trotzdem ist der Weg dorthin ein langer und mühsamer. Mit Projekten wie Community Nursing, einem One-Stop-Shop für Altenpflege, oder Visite, einem Videokommunikationstool für Onlineordinationsbesuche, gibt es zwar eine Reihe vielversprechender Initiativen. Ein die Digitalisierung nutzendes, auf bestimmte Krankheitsbilder spezialisiertes Spital und mobile Ersthelfer, die gut ausgestattet vor Ort erste Untersuchungen und Behandlungen durchführen, sind noch in weiter Ferne. Der Gesundheitssektor gilt als besonders veränderungsresistent, zu viele Stakeholder mit unterschiedlichen Interessen mischen mit. „An einer weiteren Digitalisierung und dem Einsatz medizinischer Apps führt aber kein Weg vorbei“, ist Vergabespezialist Schiefer überzeugt, „sonst werden wir uns das Gesundheitssystem bald nicht mehr leisten können.“
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