Trend Logo

Neue "Baumeister" in schwierigen Zeiten

Subressort
Aktualisiert
Lesezeit
10 min

Siegfried Meryn (links) und Harald Katzmair

©beigestellt / Jeff Mangione
  1. home
  2. Business
  3. Karriere

Eine neue Initiative vernetzt mehr als 50 CEOs und Entscheider aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, um konstruktive Lösungen für die großen Fragen der Zeit zu erarbeiten. Mittels KI-basierter Software werden systemische Lagebilder erstellt, die Grenzen aufbrechen sollen. Die beiden Autoren stellen das Projekt an dieser Stelle vor.

von

Friedrich Nietzsche unterscheidet in seinem Werk "Die fröhliche Wissenschaft" zwischen dem Zeitalter der Baumeister und dem der Schauspieler. Unser Zeitalter (seines also) sei eines der Schauspieler – der Leute, denen der Beruf, die Lebensrolle zum Charakter geworden sei, die aber nichts herstellten. Oder eigentlich: mit denen sich nichts Relevantes herstellen lasse:"Wir Alle sind kein Material mehr für eine Gesellschaft: das ist eine Wahrheit, die an der Zeit ist!" In seinem Werk vermittelte Nietzsche die Bedeutung von Leadership und Kollaboration und davon, etwas Neues zu wagen.

Was Nietzsche bereits 1882 kritisierte, sollten wir uns heute wieder in Erinnerung rufen. Es ist die vielversprechendste Anleitung, um in Zeiten ständiger Veränderung und Ungewissheit zu bestehen. Laut Nietzsche ist in der Zeit der Schauspieler die Gattung der Baumeister unmöglich. Aber das muss nicht so sein! Was zeichnet den Baumeister aus? "Der Muth, auf lange Fernen hin Pläne zu machen."

Wir durchleben derzeit eine Zeit beispiellosen Wandels, systemischer Krisen, Herausforderungen und Chancen. Die Klimakrise, die globale Gesundheitskrise, die Veränderungen der sozialen Normen und Werte, der rasche technologische Wandel, der sich über künstliche Intelligenz und Big Data den Weg bis in die kleinsten Ecken unseres Alltags ebnet – sie alle stellen unsere individuellen Prioritäten auf den Kopf. Gleichzeitig verschieben die Globalisierung sowie geopolitische Krisen und Kriege die tektonischen Platten des Weltgeschehens. Damit sind wir permanent gefordert, die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, neu zu erfinden.

Wir sind permanent gefordert, die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, neu zu erfinden.

Siegfried MerynInternist, Mitgründer Future Health Lab

Vor diesem Hintergrund haben das Future Health Lab, FAS Research und Arthur D. Little zusammen einen neuartigen Dialogprozess ins Leben gerufen. Mehr als 50 CEOs und Entscheider aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft kamen zusammen, um die Frage zu diskutieren: "Was müssen wir tun, um auf die großen Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren und dafür gerüstet zu sein?" Dieser Austausch fand im Rahmen des Health Innovation Circuit an drei Abenden zwischen November 2022 und Juni 2023 statt, einer Plattform, die Methoden und Strategien zur Stärkung der Resilienz unserer Gesellschaft in Zeiten systemischer Krisen diskutiert. Zusammenarbeit steht im Zentrum dieser Initiative. In einer Zeit, in der Krisen keine Grenzen kennen, ist Kollaboration essenziell. FAS Research hat hierfür eine neuartige KI-basierte Software zum Einsatz gebracht, die die Erstellung systemischer Lagebilder unter den Teilnehmer:innen in Echtzeit ermöglichte.

Als Baumeister zu agieren bedeutet, den Entscheider:innen folgend Visionen zu haben und allen Widrigkeiten zum Trotz das Durchhaltevermögen aufzubringen, diese konsequent zu verfolgen. Es bedeutet, den Mut zu haben, langfristige Pläne zu entwickeln und umzusetzen. Und es bedeutet vor allem, bereit zu sein, über den eigenen Schatten zu springen und mit anderen, jenseits der eigenen "Echokammer" zusammenzuarbeiten, auch wenn dies manchmal unangenehm sein kann

In einer Zeit, in der Krisen keine Grenzen kennen, ist Kollaboration essenziell.

Harald KatzmairFAS Research

Es zeigt sich eindeutig, dass die Baumeister: innen von heute starke, aber gleichzeitig eine völlig neue Leadership beweisen müssen. Sie träumen von einem visionären Bauwerk und entwerfen einen Plan, um es zu errichten. Sie sind mutig genug, sich den Herausforderungen zu stellen, innovative Lösungen zu entwerfen und eine klare Richtung für die Gesellschaft zu setzen. Visionäre Leadership geht dabei über das bloße Management hinaus. Sie zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, Menschen zu inspirieren und zu motivieren, gemeinsame Ziele zu verfolgen. In systemischen Krisen ist es von entscheidender Bedeutung, dass Führungspersönlichkeiten ihre Visionen vermitteln und den Weg zur Bewältigung der Krise aufzeigen, um Vertrauen aufzubauen und den Zusammenhalt zu stärken.

Die Erstellung einer systemischen Lagebildanalyse im Rahmen unserer Dialogreihe definierte dabei drei erfolgskritische Hebelpunkte:

  1. Systemische Grenzen aufbrechen und über die eigenen Peer Groups blicken.

  2. Radikalen Pragmatismus, der Mut zur Lücke und Umsetzungsorientierung fördert, stärken.

  3. Spielräume, die Innovation und Vertrauensbildung zulassen, ermöglichen.

Übereinstimmend kamen die Vertreter der unterschiedlichsten Wirtschaftssparten zu der Erkenntnis, dass wir in der Erreichung dieser Indikatoren in Österreich schlecht performen und uns auf gesellschaftlicher Ebene die Instrumente, Orientierungshilfen und der nötige Mut fehlen, um unsere Resilienz zu steigern und neue Wege zu beschreiten. Trotz Vision, Charisma und Umsetzungsplan brauchen Baumeister:innen Kollaborateure, die ihnen helfen, ihr Haus der Zukunft vom Fundament auf zu errichten. Systemische Krisen kennen weder Ländergrenzen noch einzelne Zuständigkeitsbereiche. Deshalb müssen Regierungen, Unternehmen, gemeinnützige Organisationen und die Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, um gemeinsam neue Lösungen zu entwickeln. Aus den breiten Diskussionen des Innovation Circuit kristallisierte sich heraus, dass zwei Elemente dabei entscheidend sind: erstens Priorisierung, Risikobereitschaft und Informationsaustausch, um von gemeinsamen Lagebildern loszustarten. Zweitens sollten die Baupläne nicht nur kurzfristige Ziele verfolgen, sondern langfristige und nachhaltige Lösungen anstreben.

Systemische Herausforderungen sind davon gekennzeichnet, dass sie nicht im Alleingang und mit voller Kontrolle über das Resultat gelöst werden können. Hier kommt Adam Kahanes Konzept der "stretched Collaboration" (Collaborating with the Enemy: How to Work with People You Don't Agree with or Like or Trust) ins Spiel. Es zeigt, dass der konventionelle Glaube, Kooperationen bräuchten harmonievolle Teams, die einstimmig wissen, was sie wann erreichen müssen und welchen Input jeder Einzelne dafür leisten muss, falsch ist. Dieses Konzept der "stretched Collaboration" erfordert ein hohes Maß an Offenheit und die Bereitschaft, über eigene Vorurteile und Vorbehalte hinwegzusehen. Es geht darum, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die wir vielleicht nicht mögen oder denen wir nicht vertrauen.

Wir benötigen den Druck, den Status quo zu hinterfragen und neue Wege zu gehen.

Siegfried MerynInternist, Mitgründer Future Health Lab

Das Future Health Lab bietet den physischen Rahmen für solche Formen der Zusammenarbeit. Hier können Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen und Fähigkeiten zusammenkommen, um gemeinsam nachhaltige Lösungen für die Herausforderungen unseres Gesundheitssystems zu erarbeiten. Der Erfolg solcher Formen der Zusammenarbeit über Systemgrenzen hinweg benötigt den Entscheider:innen unserer Dialogreihe zufolge Mut und Optimismus, Veränderungen tatsächlich herbeizuführen, klare und transparente Strukturen, und ein aufrichtiges Interesse an den Partnern. Vor allem aber benötigen wir den Druck, den Status quo zu hinterfragen und neue Wege zu gehen.

Die Erkenntnisse aus dieser Dialogreihe lassen sich auf so gut wie alle Branchen übertragen: Leadership und Kollaboration sind zwei zentrale "Enabler" für eine resiliente und lösungsorientierte Zukunft. Und es sind Fähigkeiten, die wir in unserer Gesellschaft besser kultivieren müssen. Für den Bereich Gesundheit bauen wir deshalb in einem ersten Schritt ein innovatives Modell mit einem eigenen physischen Raum in Wien, dem Future Health Lab, auf, das den mutigen Baumeister:innen in Österreich ab September 2023 einen neuen Möglichkeitsraum bietet, diese Fähigkeiten zu nähren und gemeinsam "cross-culture" nachhaltige Lösungen für die Herausforderungen unseres Gesundheitssystems zu entwickeln.

Nietzsche hat uns vor Augen geführt, dass wir die Baumeister unserer Welt sind. Es liegt an uns, diesen Anspruch wieder aufzugreifen und mit Mut, Führungsstärke und Zusammenarbeit die Gesellschaft zu gestalten. Denn letztlich sind wir alle Baumeister unserer eigenen Zukunft. Es ist an der Zeit, dass wir die Herausforderungen unserer Zeit als Chance für einen echten Wandel begreifen und uns dieser Verantwortung voller Zuversicht stellen. Denn für Pessimismus ist es zu spät.

Der Essay ist der trend. EDITION vom 11.8.2023 entnommen.

Über die Autoren

Logo
Jetzt trend. ab € 14,60 im Monat abonnieren!