Strategische Führung ist hohe Management-Kunst. Sie gibt die Richtung vor, auch wenn operative Zahlen dagegen sprechen.
©Getty Images/iStockphotoSatte Gewinne, ein toller Cash-flow oder hohe Renditen können träge machen und strategischen Entscheidungen im Weg stehen. Management- und Leadership-Experte Fredmund Malik zur entscheidenden Bedeutung des strategischen Managements.
Mit dem inflationären Gebrauch des Wortes "Strategie" wird eine der wichtigsten Einsichten und damit einer der wichtigsten Fortschritte für die Unternehmensführung verwässert, eben der Unterschied zwischen operativ und strategisch.
Dazu kommt, dass, dem Zeitgeist und den Finanzmärkten folgend, der Shareholder Value oft als einzige akzeptierte Beurteilungs- und damit Zielgröße die Diskussion beherrscht. Das ist aber eine rein operative Größe. Ich wage die Meinung, dass damit die Saat für einige der größten Desaster der Wirtschaftsgeschichte gelegt wurde.
Unternehmensstrategie und strategisches Management müssen auf den nachfolgend behandelten Grundeinsichten aufbauen. Es sind die Konsequenzen aus Irrtümern und Irrlehren, die ich in der Praxis als Unternehmensberater kennengelernt habe.
Operative Daten vergessen
Mit Hilfe von operativen Daten können Manager keine strategischen Entscheidungen treffen. Sie können nicht einmal erkennen, ob es einen strategischen Entscheidungsbedarf gibt.
Das wirklich Wesentliche aber an dieser These und das Gefährliche an operativen Daten ist, dass sie systematisch irreführend sind. Es geht hier nicht einfach um Fehler als solche, die passieren können - und immer wieder passieren werden. Ich habe noch nie die Vorstellung gehabt, dass es so etwas wie fehlerfreie Unternehmensführung geben könne. Es macht aber einen großen Unterschied, ob man es mit einmaligen Fehlern zu tun hat oder mit systematischen Fehlern, mit einer systematischen und daher unausweichlichen Irreführung.
Operative Daten sind also in diesem zweiten Sinne - nämlich systematisch - irreführend. Was aber sind operative Daten?
Operative Daten sind zum Beispiel Umsätze, Kosten, Gewinne, Renditen, Deckungsbeiträge, Cash-flow-Raten - ob kurz- oder langfristig ausgewiesen, ob abdiskontiert oder nicht. Alles, was das Rechnungswesen liefert, sind operative Daten.
Was ich hier sage - das ist mir wichtig -, ist keine Kritik am Rechnungswesen. Ich bin ein Befürworter eines guten und ausgebauten Rechnungswesens. Als Betriebswirtschafter habe ich selbstverständlich gelernt, die Zahlen des Rechnungswesens ernst zu nehmen, und ich habe durchaus ein emotionales Verhältnis zu ihnen, selbst wenn andere das als "deformation professionelle" ansehen mögen. Zahlen sagen mir etwas, Bilanzen finde ich interessant und Geschäftsberichte spannend.
Dennoch - wir dürfen das Rechnungswesen nicht überfordern. Es leistet, was es leisten kann; es leistet, wofür es geschaffen wurde. Es liefert - und wird immer liefern - operative Daten, die wir dringend für die operative Führung des Unternehmens brauchen.
Strategische Orientierungshilfe
Strategische Führung ist aber etwas anderes. Sie ist wesensgemäß von der operativen Führung verschieden. Sie hat andere Aufgaben zu erfüllen, andere Probleme zu lösen und andere Entscheidungen zu treffen als die operative Führung. Für die strategische Führung braucht man andere Orientierungsgrößen; man muss andere Gesetzmäßigkeiten kennen, und sie muss andere Kriterien erfüllen.
Das heißt nicht, dass die strategische Führung die operative Führung ersetzen könnte. Aber das Umgekehrte ist auch nicht möglich. Beide Arten der Führung sind notwendig. Sie sind voneinander weitgehend unabhängig, müssen sich aber gegenseitig ergänzen; sie sind komplementär. Auf keine der beiden "Hälften" der Führung kann ein Unternehmen auf Dauer ungestraft verzichten.
Die operative Führung hat die Aufgabe, den Unternehmenserfolg zu realisieren. Die strategische Führung hingegen muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass das überhaupt möglich ist; sie muss die Erfolgspotentiale bereitstellen. Wenn keine Potentiale mehr vorhanden sind, kann auf Dauer auch durch die beste operative Führung kein Erfolg erzielt werden, so groß er heute auch sein mag.
Günstige operative Daten, also hohe Gewinne, gute Renditen, steigende Umsätze usw., haben - psychologisch - den Charakter von Tranquilizern. Wenn das operative Zahlungsbild "stimmt" - wie es durch Geschäftsbericht, Bilanz und Erfolgsrechnung samt ihren Neben-und Sonderrechnungen ausgedrückt wird -, hat niemand einen Grund, unruhig zu sein. Dann traut sich niemand lästige Fragen zu stellen, und falls das doch der Fall sein sollte, dann können sie leicht - eben mit Hinweis auf die guten operativen Zahlen - vom Tisch gewischt werden. Es ist schon eine außergewöhnlich starke Unternehmensaufsicht, wenn sie trotz guter Geschäftsergebnisse die Kraft aufbringt, eben diese Geschäftsergebnisse zu hinterfragen.
Es gibt zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass die entscheidenden strategischen Fehler nie zu Zeiten gemacht wurden, wo es dem Unternehmen schlecht ging. Sie wurden in Zeiten guter Unternehmensergebnisse gemacht. Die unternehmerische Unruhe und Wachsamkeit werden durch gute Ergebnisse eingeschläfert. So war es bei Daimler-Benz in den frühen achtziger Jahren, bei IBM, bei der Metallgesellschaft, in den Immobilienbereichen gewisser Banken, bei General Motors, VW, Nokia, Kodak oder Digital Equipment. Und natürlich könnte man zahlreiche Beispiele aus dem Bereich der KMUs anführen. Sie sind nur nicht allgemein bekannt.
Fühler ausstrecken
Zu Zeiten schlechter Unternehmensergebnisse sind alle Fühler ausgestreckt, alles darf hinterfragt werden und wird hinterfragt. Die Änderungsbereitschaft, wenn auch nicht immer die Änderungsfähigkeit, ist hoch, und die gesamte Intelligenz und Erfahrung sind auf die Lösung der akuten Probleme gerichtet. Zu Zeiten guter Ergebnisse gibt es davon nichts, und wenn, dann nur in den wirklich gut geführten Unternehmen. Menschlich ist das verständlich; für Manager ist es inakzeptabel. Hier würde echte Leadership beginnen - in den guten Zeiten für die schlechten vorzusorgen; oder noch besser, in den guten Zeiten dafür zu sorgen, dass es keine schlechten geben kann.
Strategische Fehler haben die unangenehme Eigenschaft, nicht mehr korrigierbar zu sein. Etwas präziser: Sie sind jedenfalls mit gewöhnlichen Mitteln nicht mehr korrigierbar. Ihre Korrektur erfordert immer Sonder- und Ausnahmemaßnahmen - brachiale Kostensenkung, Massenentlassungen, Sanierungen, die Stilllegung von Werken, das Aufgeben von Geschäftsbereichen oder von Standorten, den Verlust der Selbständigkeit, die erzwungene Hereinnahme von Partnern usw.
Manager müssen also zwischen gewöhnlichen Fehlern und strategischen Fehlern deutlich unterscheiden. Gewöhnliche Fehler gehören unvermeidlich zum Wesen des Wirtschaftens und zur unternehmerischen Tätigkeit. Sie sind mit Rückschlägen, Opfern und Enttäuschungen verbunden, aber sie gehen nicht an die Existenzgrundlagen. Strategische Fehler tun das aber immer. Warum?
Die Folgen strategischer Fehler zeigen sich letztlich selbstverständlich immer im Finanzbereich eines Unternehmens. Aber dort liegen selten die Ursachen. Dort treten die Wirkungen der Ursachen auf; dort werden die Folgen unausweichlich sichtbar und können nicht mehr ignoriert werden. Es ist aber meistens nicht das Geld an sich, das den Kern des Problems darstellt. Es ist die Zeit. Wer jemals einen Sanierungsfall erlebt hat, weiß das. Hätte man nur genügend Zeit - für weitere Verhandlungen, für die nötigen Maßnahmen, für die Erfüllung von Verpflichtungen usw.
Genau hier kommt nun die ganze Tragweite der Unterscheidung zwischen operativ und strategisch ans Tageslicht: Wenn Unternehmer oder Führungskräfte das Vorliegen eines strategischen Fehlers anhand des operativen Zahlenmaterials entdecken, so ist es für sinnvolles Reagieren zu spät.
Strategie ist Zeit
Die Unternehmensstrategie dient somit dem Zeitgewinn, nicht dem Geldgewinn. Der Zeitgewinn wird aber in der Bilanz nie ausgewiesen, schon gar nicht in der beliebten "Bottom Line", auf die sich die "Hard Nosed Managers" so gerne berufen. Wenn sich ein Problem in der Bottom Line niederschlägt, ist der Patient bereits auf der Intensivstation. Es ist buchstäblich wie bei Krebserkrankungen: Wenn es weh tut, wenn der Schmerz spürbar wird, ist es in der Regel für eine Heilung zu spät; und wenn sie gelingt - was meistens selten ist -, dann nur mit schwersten Eingriffen in den Organismus, mit Chirurgie und Chemotherapie.
Es ist praktisch immer falsch zu sagen: "Wir machen doch Gewinne, also kann unsere Strategie nicht falsch sein." Unternehmen können noch Gewinne machen und alle Kriterien der Finanzanalysten erfüllen, obwohl sie schon todkrank sind. Man kann nicht einmal sagen: "Wir machen Verluste, also muss die Strategie geändert werden."
Zum einen kann eine Strategie ja richtig sein, und bei ihrer Realisierung durch operatives Management können trotzdem Fehler gemacht werden, was dann natürlich auch zu schlechten operativen Zahlen führt. Zum anderen sind gerade erfolgreiche Strategien oft über Jahre mit einer erheblichen Verschlechterung der operativen Zahlen verbunden. Keine der wirklich ins Gewicht fallenden Innovationen wäre je realisiert worden, hätte man auf die Zahlen des Rechnungswesens geschaut. Jeder Rechnungswesen-Chef muss jede fundamentale Innovation streichen, wenn er die Logik des Rechnungswesens anwendet. Benz und Siemens, Henry Nestle und Thomas Watson sen. hätten nach kurzer Zeit aufgeben müssen, wären sie Controller gewesen.
Die ausschließliche Orientierung an operativen Daten und Zahlen führt fast immer zu Maßnahmen, die strategisch schädlich sind. Heutige Gewinne sind nicht notwendigerweise eine Folge der richtigen Strategie. Nicht selten sind sie - insbesondere sehr hohe Gewinne - eher darauf zurückzuführen, dass die strategischen Potentiale meuchlings ruiniert werden. Man muss zur Verbesserung der operativen Zahlen ja nur zum Beispiel den F+E-Aufwand zurückfahren, die Personalentwicklung, das Marketing usw. Operativ mag das richtig sein - und in manchen Situationen notwendig und unvermeidlich. Die strategischen Potentiale wird es kaum verbessern.
Andererseits, wie schon angedeutet, selbst eine beweisbar richtige Strategie führt noch nicht zwingend zu guten operativen Zahlen, also hohen Gewinnen, Renditen usw., sondern zunächst einmal eher zum Gegenteil. Aus operativer Sicht erscheint ein solches Handeln als falsch, obwohl es strategisch richtig ist.
Zukunft opfern?
Das ist vielleicht das Kern-Paradoxon oder Ur-Dilemma der Unternehmensführung: Wer sich in existentieller Bedrängnis befindet, muss sich von jenen Geschäftsgebieten trennen, die zwar Potentiale haben, aber noch auf Jahre Investitionen erfordern - er muss Zukunft opfern. Wer andererseits Potentiale aufbauen und durchhalten will, muss in der Regel bereit sein, über Jahre eine Verschlechterung der operativen Zahlen hinzunehmen - er muss die Gegenwart opfern.
Er wird heute weder das Lob der Finanzanalysten noch seiner Aktionäre erwarten dürfen, denn das einzige, was er ihnen in Aussicht stellen kann, sind Ergebnisse in der Zukunft - die abgezinst meistens ziemlich kläglich aussehen. Wer andererseits die Potentiale zurückfährt und sich mit der Erhaltung und Optimierung des bestehenden Geschäftes begnügt, wird - vorübergehend - die Gunst der Stunde auf seiner Seite haben.
Gerade in Zeiten starker Veränderungen ist es von größter Bedeutung, eine Unternehmensstrategie zu haben. Die Zukunft eines Unternehmens passiert ja nicht einfach; man schafft und gestaltet sie - durch strategische Führung.
So wichtig also finanzielle Maßstäbe sind - das habe ich einleitend schon gesagt -, so sehr muss man sich dessen bewusst sein, dass Finanzzahlen operative Daten sind. Wenn ein Unternehmen nach finanziellen Gesichtspunkten allein geführt wird, wird es somit operativ geführt. Auch wenn das noch so virtuos geschieht, entsteht doch die Gefahr der systematischen Vernachlässigung der strategischen Führung.
Weitere Management-Tipps von Fredmund Malik finden Sie auf der Themen-Seite "Malik on Management"
Der Beitrag ist ursprünglich in der Reihe "Malik on Management" im Magazin trend. erschienen.
Take Aways
Operative Unternehmensdaten sind für strategische Entscheidungen zuweilen irreführend.
Das Rechnungswesen dient nur zur operativen Unternehmensführung. Operative Zahlen können nur operative Maßnahmen rechtfertigen.
Strategische Entscheidungen müssen wohl überlegt sein, denn Fehler sind irreversibel.
Operative Unternehmensentscheidungen können aus strategischer Sicht grundfalsch sein - und umgekehrt.
Strategische Maßnahmen können nur durch strategische Argumente begründet werden.