Wie just im Windschatten der gleichnamigen Buchpräsentation die ÖVP "Message Control" versagte und Arbeitsminister Kocher zum Buhmann in den eigenen Reihen wurde. Warum ein Manager-Abend im Kanzleramt zum Turbo für eine Aufarbeitung der Corona-Traumata geriet.
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Wenn Martin Kocher selten einmal über sich selbst redet, dann erzählt er gerne, dass seine Sportbegeisterung bereits in seiner Schulzeit in seinem Heimatland Salzburg wurzelt: “Hermann Maier war eine Klasse über mir, Michael Walchhofer zwei unter mir.”
Der drahtige bald fünfzigjährige Marathonläufer will mit dieser biographischen Anekdote launig begründen, warum er bei aller Begeisterung für den Ski-Sport den Weg Richtung Wissenschafter und nicht Richtung Rennläufer eingeschlagen hat.
Zum “Herminator” in der Politik wird es bei Martin Kocher trotz weitaus schwächerer Konkurrenz neben und über sich in der Regierung auch nicht mehr reichen. Dem Arbeits- und Wirtschaftsminister gelang vielmehr das Kunststück, mit einem einzigen Satz einen Shitstorm nicht nur beim politischen Gegner, sondern auch bei gleichgesinnten Regierungskollegen und ÖVP-Spitzenfunktionären zu provozieren.
In einem Tour d’Horizon-Interview zu Arbeitskräfte-Mangel und Arbeitsmarktpolitik proklamierte Kocher in Sachen Umgang mit dem vermehrten Trend zu Teilzeit-Jobs:
Unmut über Kocher entlud sich in der ÖVP bis ins Private
Das Gros der Medien witterte in dem in einem Kurier-Interview versteckten Nebensatz einen politischen Sprengsatz und schlagzeilte: “Kocher will bei Teilzeit Sozialleistungen kürzen”. Da Teilzeitarbeit überwiegend von Frauen geleistet wird, hagelte es geharnischte Kritik aus allen Lagern an den “frauenfeindlichen Plänen” von Martin Kocher. Der Unmut entlud sich in den Reihen der ÖVP via Partnerinnen von Ministern und ÖVP-Mitarbeitern gar bis ins Private.
Dazu kommt, sagt ein ÖVP-PR-Mann: “Eine Partei, die mitten in einer Teuerungskrise eine Kürzung von Sozialleistungen auch nur ernsthaft andenkt, begeht politischen Selbstmord mit Anlauf.”
Dabei ist Kocher als Profi-Politiker zwar ein spätberufener Quereinsteiger, aber nach zwei Jahren Minister kein Greenhorn mehr. Im Jänner 2021 hatte der damalige Chef des Instituts für Höhere Studien (IHS) die über eine Dada-Dissertation gestolperte Arbeitsministerin Christine Aschbacher beerbt.
Als er im vergangenen Frühjahr zudem die Agenden der durchaus bemühten, aber glücklosen Wirtschaftsministerin Margarethe Schramböck übernommen hatte, wurde Kocher gar als “Superminister” gehandelt.
Super blieb bis vor wenigen Tagen die öffentliche Nachrede, nicht zuletzt auch deshalb weil er als Minister bislang immer dem Fachmann Kocher gegenüber dem Politiker Kocher öffentlich den Vortritt ließ.
Beim Politiker Kocher dürfte sich freilich mehr um einen Avatar des Fachmannes Kocher denn um ein greifbares Wesen handeln, so das Destillat der Stimmung im ÖVP Regierungsviertel. Nur so ist für die schwarz-türkise Nomenklatura erklärbar, dass der Arbeits- und Wirtschaftsminister derart behände in die politische Jauchengrube griff.
Koalitions-Feuerwehr Wöginger muss grünen Brandherd löschen
Im Kanzleramt liefen darob ab Dienstag früh alle Kommunikationskanäle heiß. Der Ärger kochte derart hoch, dass Karl Nehammer am Tag nach Kochers Interview-GAU in der ÖVP-Ministerratsvorbesprechung Mittwoch früh eine ausgiebige Kopfwäsche für den Arbeits- und Wirtschaftsminister zuließ.
Der Chef des ÖVP-Parlamentsklubs und des Arbeitnehmerbundes ÖAAB, August Wöginger, ließ allen voran den parteilosen Minister auf einem ÖVP-Ticket wissen: Kochers Strafsanktions-Pläne für Teilzeit-Jobber seien politisch ein absolutes No-Go. Wöginger hatte nicht nur in den eigenen Fraktionsreihen alle Hände voll zu tun. Nachdem der bislang politisch blass gebliebene Fachmann Martin Kocher erstmals “Breaking News” gemacht hatte, musste Wöginger als Koalitions-Feuerwehr ausrücken.
Bei den Grünen war von Wögingers vis-a-vis Sigi Maurer abwärts die Empörung vor allem beim starken sozialen Flügel der Ökos massiv.
Message out of control
Just nach einem Wochenende, an dem in zahlreichen Stories und Interviews die Buch-Premiere des neuen und alten Kommunikationschefs in ÖVP-Diensten und PR-Profis Gerald Fleischmann abgefeiert wurde (siehe Politik Backstage vom 2.12.2022: "Comeback der Message Control im Kanzleramt"), wird breit sichtbar: Der Buch-Titel “Message Control” ist in der Ära Nehammer mehr graue Theorie als gefürchtete Praxis.
Denn von Kochers Plänen hatten auch Nehammer & Co wie alle anderen im Regierungsviertel auch erstmals via News-Ticker gehört. Der Sager war weder Teil einer Message-Strategie des ÖVP-Regierungsflügels, noch funktionierte die Message-Control in Kochers Kabinett. Das neue schwarz-türkise Tretminen-Feld sollte nun nachträglich so breit und schnell wie möglich entschärft werden.
In der ÖVP-internen Spitzen-Runde meldete sich diesen Mittwochvormittag einmal mehr auch das ÖAAB-Leitfossil Wolfgang Sobotka lautstark mit einer Warnung vor Kochers Plänen zu Wort. Der ÖVP-Nationalratspräsident stand zuletzt selber in Sachen Goldklavier & Co heftig in Kritik und unter starkem Druck engster Weggefährten, reumütig den Rückzug anzutreten. (Siehe Politik Backstage vom 16.12.2022: "Wolfgang, es ist vorbei") Sobotka sitzt jedoch auch alle internen Kritiker weiter aus und gefällt sich weiter in seiner Rolle als Ratgeber seines politischen “Ziehkinds” Karl Nehammer.
Nehammer will intern Muskeln zeigen
In Sachen Kritik an Kocher rückte auch die extern und intern eher lautlos agierende Frauen- und Familienministerin Susanne Raab in der Ministerrats-Vorbesprechung aus.
Der Kanzler suchte danach intern dadurch Leadership zu zeigen, indem er coram ÖVP-Spitzen-Publikum deponierte: Kocher habe noch vor Beginn der Ministerrats-Sitzung in einem “Door-step-”-Statement klar zu stellen, “Frauen und Mütter sind tabu.”
Der markige Satz aus der Werkstatt von Gerald Fleischmann tat fürs Erste mehr als seine Wirkung. Die Debatte über mögliche Sanktionen für jene, die wegen Teilzeitarbeit weniger in die Sozialtöpfe einzahlen, ist beendet bevor sie begonnen wurde.
Debatte über klamme Sozialtöpfe nachhaltig vergiftet
Damit ist auch der diskussionswürdige Teil des Kocher-Vorstoßes toxisch und politisch tot. Auch wenn Experten unabhängig von Kocher eine Debatte darüber für unvermeidlich halten. Denn wenn der Trend zu Work-Life-Balance und Teilzeit-Arbeit - jenseits von Frauen- und Müttern mit Familienarbeits-Pflichten - anhalte, stelle sich für die Sozialsysteme auf Sicht eine neue Gretchenfrage: Wie sind die Leistungen für jedermann bei weniger voll arbeitenden und damit weniger voll zahlenden Beitragsleistern noch aufrecht zu erhalten?
Eine Gretchenfrage, die der gelernte Verhaltens-Ökonom Martin Kocher schon jetzt stellen wollte: Braucht es ein Anreiz-System für Vollzeit-Jobber, damit weiter ausreichend Geld in die Kassen kommt? Oder braucht es Sanktionen für Teilzeit-Trendsetter?
Kocher gegen Kocher – eine Notbremsung
Fakt ist: Martin Kocher ist weder missinterpretiert, noch missverstanden worden. Er hat eindeutig Letzteres gemeint. Ginge es nach Professor Kocher, dann kommt Minister Kocher auf Sicht um Sozialleistungs-Kürzungen nicht herum.
Martin Kocher hat sich entschieden, zumindest bis zur nächsten Wahl als Politiker überleben zu wollen und hat daher die Notbremse gezogen.
Flucht nach vorne bei Corona: Kanzler-Kandidat des Miteinander?
Voll aufs Gas gestiegen ist hingegen der Kanzler himself auf einem Terrain, das nach einem klaren Fahr-Kurs und geländekundigem Personal am Steuer verlangt. In seinem zweiten Kanzlergespräch just am Tag der Explosion der Kocher-Tretmine ließ Karl Nehammer – noch off the record – die Journalisten-Runde von einem couragierten Plan wissen: Der Kanzler will eine Kommission ins Leben rufen, um die die Corona-Jahre in einem "Dialog-Prozess" aufarbeiten.
Der ÖVP-Kanzler will damit zwei Fliegen auf einen Schlag treffen:
Den blauen Plänen etwas Wind aus den Segeln nehmen, um das Corona-Management in einem neuen U-Ausschuss nach Kräften zu skandalisieren.
Zum anderen will sich der ÖVP-Chef für den kommenden Wahlkampf als Kanzlerkandidat des Miteinander statt des Gegeneinander positionieren.
Chance auf Leadership-Gewinn vs. Harakiri mit Anlauf
“Das ist an sich ein mutiger und chancenreicher Move und kann die ganze Regierung wieder mehr aus der Defensive in die Offensive bringen”, resümiert auch ein türkiser Nehammer-Skeptiker. Eine offene Aufarbeitung des Umgangs mit der Pandemie bietet durchaus eine gute Chance auf Leadership-Gewinn. Sie birgt aber auch das Risiko eines politischen Harakiris mit Anlauf. Denn eine nicht geglückte Regie bei der Neuauflage der Corona-Debatte kann selbstzerstörerische Zentrifugalkräfte in ungeahnten Ausmaßen freilegen.
Das von Kocher angelegte Tretminenfeld könnte im Nachhinein dann vergleichsweise wie ein harmloses Gelände für einen türkis-grünen Familienausflug erscheinen.
Wer, wie und was bei Corona-Aufarbeitung noch ohne Plan
Entscheidend ist, WAS und WIE thematisiert wird und WER den angekündigten “Dialog-Prozess” moderiert und nach außen hin glaubwürdig repräsentiert. Mit einer ersten flapsigen Ansage hat Nehammer weder sich noch seiner Corona-Mutprobe etwas Gutes getan: “Wir waren expertenhörig. Nun sollen Experten klären, warum sie zu ihren Entscheidungen gekommen sind.”
Die Idee, die Aufarbeitung der turbulenten Corona-Zeit selber in die Hand zu nehmen und nicht – wie zuletzt in Sachen Korruption – nur hilfloser Passagier zu bleiben, geistert schon seit Wochen durch die Parlaments-Couloirs. Im ÖVP-Klub waren damit einige Mandatare auf offene Ohren zu allererst bei ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker gestoßen.
Auch Rauchs Therapiepläne für politisches Long-Covid noch vage
Bei den Grünen brütete der gelernte Sozialarbeiter Johannes Rauch schon länger darüber, wie nach dem offiziellen Aus der Pandemie das gefährliche Virus des politischen Long-Covid therapiert werden könnte.
Noch sind da wie dort die Pläne generell noch vage. Dort wo sie schon etwas klarer sind, aber noch nicht abgestimmt. “Sie müssen jetzt erst innerkoalitionär verheiratet werden”, sagt ein ÖVP-Stratege. Auch die Schlüsselfrage, wer die Corona-Kommission leiten soll, ist noch völlig offen. Sowohl im Kanzleramt als auch im Gesundheitsministerium werden Wunschnamen gesammelt. Die Liste umfassend derzeit bis zu zwei Dutzend Namen und soll in den nächsten Wochen gemeinsam auf eine Handvoll eingedampft werden.
Sicher scheint derzeit: Die Leitung des “Dialog-Prozesses” soll in mehrere Hände gelegt werden.
Emotionaler Ausbruch bei Nehammer als Therapie-Turbo
Dass Karl Nehammer den Plan trotz vieler offener Fragen schon diese Woche verkündete, hat nicht nur das Gros des grünen Regierungsteams überrascht. Im ÖVP-Regierungsviertel wird kolportiert, dass ein emotionaler Ausbruch im Kanzleramt den letzten Ausschlag gegeben haben soll, das Thema Corona-Aufarbeitung umgehend auf die Tagesordnung zu setzen.
In der Woche nach der Niederösterreich-Wahl lud Nehammer einmal mehr eine Manager-Runde zu einem Gespräch auf den Ballhausplatz. Der Kanzler hat nach positivem Feedback Gefallen an solchen Opinion-Leader-Meetings gefunden. (Siehe Politik Backstage vom 21.12.2022: "Schwarzes Hoffnungsspiel 2023")
Als gegen Mitternacht der Abend in lockerer Atmosphäre ausklang, kam – wie nach wie vor unvermeidlich – das Gespräch auf das C-Wort. Einer der toughen Manager zeigte sich ob persönlicher Erinnerungen an die herausfordernde Zeit derart bewegt, dass er in dem intimen Zirkel in Tränen ausbrach.
“Den Karl hat das bestärkt, dass wir dringend diese Zeit aufarbeiten müssen”, proklamiert ein Regierungs-Insider: ”Es geht ihm dabei aber nicht um eine Versöhnung mit den Schwurblern oder Impfgegnern. Es geht ihm um die breite Masse, wo nicht wenige ein Trauma haben, dass sie plötzlich ihre, Großeltern nicht besuchen oder die Kinder nicht in die Schule gehen konnten.”
Den Kurz-Nachfolger treibe etwas um, so der ÖVP-Mann, das mangels konkreter Umsetzung freilich noch reichlich pathetisch klingt: “Nehammer geht es um das Trauma für die Seele dieses Landes. Dafür braucht es eine Therapie. Und diese Therapie heißt wie oft in solchen Fällen: Reden, reden, reden.”
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