NEOS-Parteichefin Beate Meinl-Reisinger
©PICTUREDESK.COM/SEPA.MEDIA/ISABELLE OUVRARDPolitik Backstage: Die Neos rüsten für das Superwahljahr und wittern erstmals Chancen auf Ministerämter. Warum BEATE MEINL-REISINGER aber jede Koalitionsdebatte brüsk verweigert.
von
Wer das Wiener Gründerzeithaus Heumarkt 7 betritt, würde hier keine ausladenden Büroräume und schon gar keine Firmenzentrale vermuten. Der breite Eingangsbereich führt direkt in einen großzügigen Innenhof. Davor geben links und rechts zwei Gänge den Weg zu einer Reihe frisch renovierter Eingangstüren frei. Diese haben weder Schloss noch Türschnalle und sind nur mit einem digitalen Schlüssel via Handy zu öffnen.
Kurz vor dem Jahreswechsel sind die Neos hier eingezogen. Die pinke Parteispitze hat sich mehr als ein Jahrzehnt nach Gründung einen lange gehegten Wunsch erfüllt und alle in Wien ansässigen Teilorganisationen an einem gemeinsamen Standort untergebracht: die Büros der Bundes- und Landespartei, der Parteiakademie „Neos Lab“ sowie der JUNOS und UNOS (der Jugendorganisation und der Unternehmervertretung der Pinken).
Neos-War-Room am Wiener Heumarkt
Statt in eine der seit Corona und Homeoffice zahlreichen brachliegenden Flächen in einem der Bürotürme Wiens einzuziehen, wurden in drei Monaten 1.300 Quadratmeter in einem fashionablen Altbau gleich hinter dem Stadtpark auf drei Ebenen für die Bedürfnisse der jüngsten Parlamentspartei adaptiert. Im Erdgeschoß finden sich Besprechungsräume sowie ein gutes Dutzend wabenartig angeordneter Computerarbeitsplätze für die Mitarbeiter des Neos-Labs. Im ersten Stock teilen sich Parteichefin Beate Meinl-Reisinger und Neos-Generalsekretär Douglas Hoyos-Trauttmansdorff ein Büro.
Auf Kellerebene ist ein riesiger Raum zu einem State-of-the-Art-Schulungsbereich samt XXXL-Bildschirmen ausgebaut. Wo jetzt noch pinke Bezirksräte ihre Skills in Sachen Kommunikation nachschärfen, soll bald nach Ostern der „War Room“ der Pinken eingerichtet werden: eine Art Kommandozentrale, von der aus die Wahlkämpfe im Superwahljahr 2024 gesteuert werden sollen, von der Abstimmung der politischen Botschaften über klassische Medienaktivitäten bis hin zur Bespielung der Social-Media-Kanäle.
Die Parteichefin hält das Steuer fest in der Hand
Beate Meinl-Reisinger ist eine Parteichefin, die gern alles direkt im Blick hat und selber das Steuer fest in der Hand hält. Dieser Tage führt sie am laufenden Band Interviews und Gespräche zu ihrem jüngsten politischen Baby, ihrem Buch-Erstling „Wendepunkt“ (Verlag Kremayr & Scheriau).
Auf den ersten hundert von knapp 200 Seiten liefert sie eine kurzatmige Analyse der herrschenden welt- und innenpolitischen Zustände: von den russischen Trollfabriken, dem weltweiten Trend zum Autoritarismus bis hin zu den Niederungen der heimischen Innenpolitik. Motto: „So können wir nicht weitermachen.“
Im zweiten Teil will Meinl-Reisinger vermitteln, was der Untertitel des Buches verheißt: „Wie wir das wieder hinkriegen.“ Dafür braucht es, so die pinke Frontfrau, zuallererst eine „Abrüstung im Kulturkampf: Packt die Moralkeule an!“ Beate Meinl-Reisinger reißt jeweils auf ein paar Seiten gut zwei Dutzend Politikfelder an. Das reicht nur für die großteils bekannten pinken Analysen und Forderungen etwa in Sachen Sicherheitspolitik und Neutralität, Transparenz und Kontrolle, Schul- und Bildungspolitik, Steuerentlastung, Bürokratieabbau und Europapolitik.
Scharfe Absage an das Primat der Klimapolitik
Neu ist eine auffällig klare Positionierung in Sachen Klimapolitik inklusive Abgrenzung gegen die Grünen: „So groß die Chancen durch Innovation auch sind – Klimaschutz darf man nicht über alles stellen. Man darf ihn nicht über den sozialen Zusammenhalt, nicht über den wirtschaftlichen Wohlstand stellen (…) Ökosozialismus‘ ist keine adäquate Antwort.“
Über allem steht für die Neos-Chefin statt eines Mir-san-mir-Patriotismus ein „Verfassungspatriotismus“ auf Grundlage eines neuen gesellschaftlichen Grundkonsenses:
„Wir brauchen ein ,Wir-Gefühl‘, das sich nicht aus Religion oder ethnischer Zugehörigkeit speisen kann. Nur mit diesem ,Wir-Gefühl‘ ist letztlich auch garantiert, dass wir die Freiheit einer pluralen, offenen Gesellschaft bewahren (…) Es speist sich aus den Rechten und Werten, die unsere Verfassung festlegt.“
Meinl-Reisinger legte bei der Präsentation ihres politischen Credos pünktlich zum Auftakt eines Superwahljahrs auf eines besonders viel Wert: „Das ist weder ein Wahlprogramm noch ein Regierungsprogramm.“
„Werde Euch in die nächste Regierung führen“
Diese Mischung aus forscher Ansage und zugleich Vorsicht vor finalen Fesseln hat einen Grund. Die Pinken fühlen sich ihrem Traumziel näher als je zuvor: es nicht immer nur besser wissen zu wollen, sondern es auch endlich besser machen zu können. Als im Juni des Vorjahres die Parteispitze zu einem ausgelassenem Zehn-Jahre-Fest mit Foodtrucks und DJs in die Wiener Werkshallen, einem aufgelassenen Fabriksgelände in Simmering, lud, überraschte Meinl-Reisinger die pinke Basis mit dem vollmundigen Versprechen: „Ich werde euch nach der nächsten Wahl in eine Regierung führen.“
Was damals auch für den einen und anderen eingefleischten Neos-Anhänger noch nach lautem Rufen im finsteren Wald klang, mutet sechs Monate vor der nächsten Nationalratswahl weitaus realistischer an.
Wie in dieser Kolumne mehrfach berichtet, laufen hinter den Kulissen seit Wochen zwischen ÖVP und SPÖ auf höchster Ebene Gespräche über eine Renaissance der Zusammenarbeiten nach der nächsten Wahl.
In der ÖVP gibt es zwar nach wie vor einen starken Flügel, der selbst mit Blau-Schwarz unter einem Kanzler Kickl leben könnte und wollte. Rund um ÖVP-Regierungschef Karl Nehammer und seine Protegés in der niederösterreichischen ÖVP hofft und glaubt man aber, den Kanzler (und damit auch das persönliche Überleben) mit der Wiederbelebung der Achse zu den unter Kurz verfemten Roten retten zu können.
Im gewichtigen Wiener SPÖ-Chef Bürgermeister Michael Ludwig haben diese schwarzen Fans des Comebacks der „Großen Koalition“ auch einen starken Achsenpartner.
Bei Koalitions-Dreier beste Chancen für Pink
Umfragen signalisieren freilich hartnäckig, dass es bei den einstigen Großparteien gemeinsam nicht mehr für die notwendige Mehrheit von mehr als 50 Prozent der Parlamentssitze reicht.
Bei Schwarz-Türkis und Rot überwiegt daher unisono die Einschätzung: Wenn es nolens volens eine dritte Partei fürs Regieren braucht, dann kommen am ehesten die Neos in Frage. „Mit den Neos haben wir die größere Schnittmenge“, sagt ein ÖVP-Spitzenmann. Dazu kommt, dass sich Türkis und Grün in den zurückliegenden fünf Jahren nachhaltig auseinandergelebt haben.
In der tonangebenden Wiener SPÖ haben Spitzenfunktionäre das mit den Ökos nach zehn gemeinsamen Regierungsjahren schon länger hinter sich. Die Auseinandersetzungen mit der grünen Ministerin Leonore Gewessler um den Lobautunnel gaben der roten Abneigung einer Wiederaufnahme der Polit-Beziehung mit den Grünen neue Nahrung.
„Mit den Neos haben wir bisher in der Wiener Stadtregierung hauptsächlich gute Erfahrungen gemacht“, resümiert ein einflussreicher Rathausmann.
ÖVP-Bedenken gegen Pink: „Haufen von Individualisten“
Eine profunde Restskepsis gegenüber den Pinken ist im ÖVP-Wirtschaftsbund auszumachen. „Bei den Neos gibt es nicht ein paar Bünde mit unterschiedlichen Interessen, da ist jeder Abgeordnete ein Bund für sich“, sagt ein schwarz-türkiser Interessenvertreter: „Das ist ein Haufen von Individualisten, der gelegentlich auch uns gegenüber kein gutes Haar am anderen lässt.“
Beate Meinl-Reisinger reagiert derzeit besonders harsch, selbst wenn nur im Smalltalk Koalitionsspekulationen aufkommen: „Ich lasse mir dieses Thema nicht aufzwingen.“ Die Chefin der derzeit kleinsten Oppositionspartei fürchtet nichts mehr, als im kommenden Wahlkampf primär als möglicher politischer Beifang wahrgenommen zu werden. Bei den Pinken wurde daher schon vor dem Umzug in den künftigen Wahlkampf-War Room am Wiener Heumarkt begonnen, sich stärker an Umfragen orientieren.
Diese signalisieren, dass Meinl-Reisinger über weitaus bessere persönliche Werte verfügt als die Neos als Partei. Ausfluss dieser Erkenntnis ist so auch das Buch mit dem persönlichen politischen Credo pünktlich zum Wahlkampfstart.
Primär umfragegetrieben war auch die scharfe Neupositionierung der Pinken in der Migrationsfrage: „Österreich kann sich keine offenen Tore mehr leisten“, proklamiert Meinl-Reisinger neuerdings: „Wir brauchen dringend eine Verlagerung der Asylverfahren auf außerhalb der europäischen Grenzen.“
Das wird bis zum Wahltag wohl nicht die einzige scharfe Kurve bleiben, die Beate Meinl-Reisinger nimmt, um erfolgreich ans Ziel zu kommen: einen Platz am Kabinettstisch im Kanzleramt.
Der Artikel ist der trend. EDITION vom März 2024 entnommen.
Zur Magazin-Vorschau: Die aktuelle trend. Ausgabe
Zum trend. Abo-Shop